Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 07.06.1956) |
Tenor
- Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Juni 1956 wird als unzulässig verworfen.
- Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin hat gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG.) Berlin vom 7. Juni 1956, durch welches das Urteil des Sozialgerichts (SG.) Berlin vom 22. Februar 1955 aufgehoben und ihre Klage abgewiesen worden war, am 4. August 1956 Revision eingelegt und mit Schriftsatz vom 16. Oktober 1956 die Revision rechtzeitig begründet. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Revisionseinlegung den Erfordernissen des § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entspricht. Eine Verletzung dieser Vorschrift hätte zur Folge, daß die Revision unzulässig ist (§ l69 Satz 1 SGG ). Die Unzulässigkeit der Revision ergibt sich jedoch schon aus anderen Gründen.
Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), ist sie nur unter den Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG statthaft. Diese liegen jedoch nicht vor.
Das LSG. hat seine Aufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) entgegen der Revisionsrüge der Klägerin nicht verletzt. Gegen die Pflicht, den Sachverhalt und das Vorbringen der Beteiligten klarzustellen, würde das LSG. nur dann verstoßen haben, wenn von seiner sachlich-rechtlichen Auffassung aus die Umstände erheblich wären, die nach der Behauptung der Klägerin noch hätten aufgeklärt werden müssen. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die sachlich-rechtliche Auffassung des LSG. richtig oder unrichtig ist (SozR., SGG § 103, Bl. Da 2 Nr. 7; SGG § 162, Bl. Da 3 Nr. 20). Die rechtliche Würdigung des geltend gemachten Anspruchs beruht auf der Erwägung des LSG., daß die allgemeinen Belastungen, denen die gesamte Bevölkerung Deutschlands im zweiten Weltkrieg ausgesetzt war, einen Anspruch auf Versorgung nicht begründen könnten. Diese Beurteilung ist sachlich-rechtlicher Natur. Die Umstände, welche die Klägerin für nicht genügend geklärt hält, betreffen ausschließlich solche allgemeinen Belastungen infolge der Kriegsverhältnisse. Da von der Auffassung des LSG. auszugehen ist, wenn es sich darum handelt, die Gesetzmäßigkeit seines Verfahrens nachzuprüfen, kommt es nicht darauf an, welche Folgen jene Verhältnisse für den Gesundheitszustand des Ehemannes der Klägerin hatten.
Die Revisionsbegründung ergibt auch keine Verletzung des § 109 SGG. Sie soll nach den Darlegungen der Klägerin darin zu erblicken sein, daß das LSG. es unterlassen hat, ein Ergänzungsgutachten von Prof. … einzuholen, und den Antrag, Prof. Dr. … gutachtlich zu hören, ausdrücklich abgelehnt hat. Diese Verfahrensrüge greift nicht durch, wobei es dahingestellt bleiben kann, ob die in dem angefochtenen Urteil angeführten Gründe für die Ablehnung des auf § 109 SGG gestützten Antrags zutreffen; denn das LSG. hätte den Antrag aus einem anderen Grunde ablehnen dürfen.
Im allgemeinen ist das Gericht an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). § 109 SGG enthält eine Ausnahme von diesem Grundsatz. Das Recht des Versicherten, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen-kurz: des Berechtigten-, nach § 109 SGG vom Gericht zu fordern, daß es einen bestimmten Arzt über eine rechtserhebliche Beweisfrage gutachtlich hört, gilt aber nicht uneingeschränkt. Nach der herrschenden Meinung (vgl. Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., 1. bis 5. Aufl., 1958, Bd. I S. 244 x, y; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur SGb., § 109 Anm. 4) und nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (SozR. SGG § 109 Bl. Da 8 Nr. 14) muß das Gericht den bereits auf Antrag des Berechtigten gehörten Arzt nochmals oder einen zweiten Arzt zu derselben Beweisfrage in demselben Rechtszug nur dann gutachtlich hören, wenn besondere Umstände das Verlangen des Antragstellers rechtfertigen. Der wesentliche Inhalt dieses Grundsatzes ist nicht unbedingt auf den Fall zu beschränken, in dem es sich um die mehrfache Ausübung des Antragsrechts in demselben Rechtszug handelt. Hat schon das SG. auf Antrag des Berechtigten einen Arzt gutachtlich gehört, so schließt die Anhängigkeit des Rechtsstreits im Berufungsverfahren allerdings nicht aus, daß der Berechtigte von seinem Antragsrecht nochmals Gebrauch macht. Ihm ist grundsätzlich nicht verwehrt, im zweiten Rechtszug sich derselben Angriffs- und Verteidigungsmittel zu bedienen wie in ersten Rechtszug und neue vorzubringen (§ 157 SGG). Andererseits bedeutet die Pflicht des Berufungsgerichts, den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG. zu prüfen (§ 157 SGG), nicht, die Sache so zu verhandeln, als habe eine Beweisaufnahme und Verhandlung vor dem SG. nicht stattgefunden (vgl. für den Zivilprozeß: Baumbach-Lauterbach, ZPO, 25. Aufl., § 525 Anm. 1; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 657 § 137 III). Das im ersten Rechtszug auf Antrag des Berechtigten und auf Anordnung des Gerichts erstattete Gutachten wirkt als Beweismittel auch im zweiten Rechtszug fort. Die Rücksicht auf alle Beteiligten und auf die Kostenfreiheit des gerichtlichen Verfahrens fordert, auch in diesem Falle dem Berechtigten das Antragsrecht mehrmals nur dann zuzubilligen, wenn sein neuer Antrag sich in den Grenzen zweckentsprechender Rechtsverfolgung hält (ebenso: LSG. Baden-Württbg. v. 28. 6. 1955 = Breithaupt 1956 S. 431 = Soz. Entsch. Bd. I SGG § 109 Nr. 6; dagegen: Krebs, SGbk. 1956 S. 273 ff.). Es sind vielerlei Fälle denkbar, in denen die wiederholte Ausübung des Antragsrechts gerechtfertigt ist, weil ein Mißbrauch ausgeschlossen erscheint, z.B. dann, wenn aus späteren Gutachten, aus dem Urteil des SG. oder aus der Verhandlung vor dem LSG. neue Tatsachen sich ergeben haben, die in dem ersten auf Antrag des Berechtigten eingeholten Gutachten nicht gewürdigt sind. Hierbei ist es gleichgültig, ob der nämliche Sachverständige wie im erstinstanzlichen Verfahren oder ein anderer gehört werden soll.
Im Falle der Klägerin liegen besondere Umstände nicht vor, die ihren Antrag vom 30. August 1955 auf nochmalige Anhörung des Prof. … oder ihren Antrag vom 7. Juni 1956 auf Anhörung des Prof. Dr. … gerechtfertigt erscheinen ließen. Prof. … hat schon am 13. Januar 1955 im ersten Rechtszug gemäß einer Anordnung des Kammervorsitzenden vom 20. Dezember 1954 ein Gutachten erstattet. Er hatte sich über die Frage zu äußern, “ob die Rauchvergiftung, die der Verstorbene sich in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 beim Bereitschaftsdienst zugezogen haben will, einen Blutsturz zur Folge gehabt haben kann, der wiederum ein Magengeschwürsleiden ausgelöst hat”. Das SG. hat damit dem von der Klägerin in der Klagebegründung gestellten Antrag, Prof. … zu hören, entsprochen. Durch diese Beweisaufnahme war der Zweck des § 109 SGG erreicht und der Anspruch der Klägerin auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes erfüllt, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt gewesen sein sollte. Prof. … hat in seinem Gutachten nur die Möglichkeit, nicht aber die Wahrscheinlichkeit bejaht, daß das .Magenleiden durch den Luftschutzdienst verschlimmert worden ist; im übrigen hat er den Zusammenhang zwischen der Rauchvergiftung und dem Magengeschwürsleiden abgelehnt. Die Klägerin hat in ihrem Schriftsatz vom 30. August 1955 dem LSG. die Bitte vorgetragen, eine nochmalige ärztliche Stellungnahme durch Prof. … zu der fachinternistischen Äußerung des Versorgungsamtes I Berlin vom 13. Juni 1955 (Dr. …) einzuholen. Gleichgültig, wie das LSG. diesen Antrag aufgefaßt hat – ob als unverbindliche Anregung oder als Antrag auf Grund des § 109 SGG –, so brauchte es ihm nicht stattzugeben, weil im weiteren Verlauf des Verfahrens keine neuen Tatsachen hervorgetreten sind, die von Prof. … nicht berücksichtigt worden waren und für das LSG. ein triftiger Grund sein mußten, das frühere Gutachten des Prof. … von ihm ergänzen zu lassen.
Inwiefern das LSG. auch gegen § 106 SGG verstoßen hat, wird durch das Vorbringen der Klägerin auf der letzten Seite der Revisionsbegründungsschrift nicht verständlich. Der Antrag vom 30. August l955 bedurfte einer näheren Erläuterung nicht. Die Klägerin kannte ihr Antragsrecht aus § 109 SGG, wie sich daraus ergibt, daß sie sich in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. am 7. Juni 1956 ausdrücklich auf § 109 SGG berief. Für das Gericht besteht im übrigen eine Pflicht, den Berechtigten auf sein Antragsrecht nach § 109 SGG hinzuweisen, im allgemeinen nicht (SozR., SGG § 109, Bl. Da 5 Nr. 8, Bl. Da 6 Nr. 10). Auch der vorliegende Fall bot hierfür dem LSG. keinen zwingenden Anlaß.
Aus denselben rechtlichen Erwägungen, aus denen das LSG. nach dem oben Ausgeführten nicht verpflichtet war, Prof. … ein zweites Mal gutachtlich zu hören, durfte es den in der mündlichen Verhandlung am 7. Juni 1956 gestellten Antrag der Klägerin ablehnen, Prof. Dr. … über den ursächlichen Zusammenhang des Magenleidens mit “schwersten Schädigungen” beim Luftangriff am 23. November 1943 (Rauchvergiftung mit Phosphor) gutachtlich zu hören. Für das LSG. lag umso weniger ein Anlaß vor, diesem Antrag stattzugeben, als nach der Fassung des Antrags Prof. Dr. G… davon ausgehen sollte, daß der Ehemann der Klägerin “schwerste Schädigungen” bei dem Luftangriff erlitten hat. Nach der Feststellung des LSG. kann es sich jedoch “nur um eine unbedeutende Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes” bei den Einwirkungen durch Rauch und Phosphor gehandelt haben. Die Frage, in welchem Grade der Ehemann der Klägerin einer Raucheinwirkung ausgesetzt war, unterlag in diesem Falle nicht der ärztlichen Beurteilung, sondern war allein vom Gericht zu beantworten.
Das LSG. hat auch nicht das “Gesetz” im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG, worunter die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm zu verstehen ist, verletzt; denn es hat den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Ehemannes der Klägerin und dem angeschuldigten schädigenden Vorgang im tatsächlichen Sinne verneint.
Da mithin die Revision nicht statthaft ist, mußte sie als unzulässig verworfen werden. Dieser Beschluß ergeht nach § 169 SGG, die Kostenentscheidung in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen