Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Gebot des gesetzlichen Richters. Zurückverweisung
Orientierungssatz
Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Spruchkörpers (Beschluss ohne die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter) ist ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen, da ein Verstoß gegen tragende Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens vorliegt (vgl BSG vom 8.10.2019 - B 12 KR 8/19 R = BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18).
Normenkette
SGG § 12 Abs. 1 S. 2 Alt. 1, § 33 Abs. 1, § 153 Abs. 4 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
SG Lüneburg (Urteil vom 09.07.2020; Aktenzeichen S 16 KR 198/18) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 05.10.2022; Aktenzeichen L 4 KR 349/20) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 5. Oktober 2022 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin auf Leistungen aus einer Kapitallebensversicherung Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und sozialen Pflegeversicherung (sPV) zu zahlen hat.
Die Klägerin ist als nicht hauptberuflich Selbstständige seit dem 1.8.2016 bei der Beklagten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Am 1.6.2017 erhielt sie im Alter von 60 Jahren eine Kapitallebensversicherung in Höhe von 60 947,74 Euro ausgezahlt. Die Beklagte setzte Beiträge zur GKV und sPV auf Versorgungsbezüge, Arbeitseinkommen, Kapitalerträge und sonstige Einnahmen in Höhe von insgesamt 320,97 Euro monatlich fest, wobei der Betrag der Leistung aus der Kapitallebensversicherung mit 1/120 des Zahlbetrags für 120 Monate zugeordnet wurde (Bescheid vom 20.6.2017; Widerspruchsbescheid vom 16.5.2018). Die Klage ist erfolglos geblieben (SG Urteil vom 9.7.2020). Das LSG hat die auf Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils sowie des Bescheids vom 20.6.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.5.2018 und in der Fassung des Bescheids vom 4.3.2021 gerichtete Berufung der Klägerin durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG zurückgewiesen (Beschluss vom 5.10.2022).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem oben genannten Beschluss. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache insbesondere wegen der unterschiedlichen beitragsrechtlichen Belastung von freiwillig Versicherten und Pflichtversicherten aufgrund des ab 1.1.2020 geltenden Freibetrags nach § 226 Abs 2 SGB V geltend.
II. Die Entscheidung des LSG nach § 153 Abs 4 SGG ist wegen eines Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat vorliegend durch Beschluss allein der Berufsrichter entschieden und damit die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) missachtet. Die Möglichkeit des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ohne die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (vgl § 33 Abs 1 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 Alt 1 SGG) war hier nicht eröffnet. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung ist ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen, da ein Verstoß gegen tragende Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens vorliegt (vgl BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 12 KR 8/19 R - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 11 ff).
Gegenstand des Klageverfahrens war zunächst der Bescheid der Beklagten vom 20.6.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.5.2018. Der während des Berufungsverfahrens ergangene weitere Bescheid vom 4.3.2021 ist - nach den Entscheidungsgründen des LSG - gemäß § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Die unabhängig vom Willen der Beteiligten kraft Gesetzes eintretende Klageänderung hindert die Beteiligten zwar nicht, über den Verfahrensgegenstand im Rahmen ihrer allgemeinen Dispositionsbefugnis zu verfügen und die Klage ausdrücklich auf die Anfechtung des Ausgangsverwaltungsakts zu beschränken. Eine solche Begrenzung des Streitgegenstands liegt aber nicht vor, da der Bescheid ausdrücklich in den Antrag miteinbezogen worden ist.
Über erst während des Berufungsverfahrens wirksam erlassene Verwaltungsakte, die einen mit dem Rechtsmittel bereits angefochtenen Verwaltungsakt abändern oder ersetzen iS des § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 SGG, hat das Berufungsgericht nicht zweitinstanzlich auf Berufung, sondern erstinstanzlich auf Klage zu befinden (stRspr; vgl BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 12 KR 8/19 R - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 13 mwN). Daher hätte vorliegend aufgrund mündlicher Verhandlung oder nach Zustimmung der Beteiligten (§ 124 Abs 2 SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil unter Beteiligung ehrenamtlicher Richter entschieden und - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - die Klage gegen den im Berufungsverfahren erlassenen Beitragsbescheid abgewiesen werden müssen (vgl BSG Beschluss vom 22.11.2012 - B 3 P 10/12 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 15 RdNr 15). Für die notwendige erstinstanzliche Entscheidung bietet § 153 Abs 4 SGG keine Grundlage. Das folgt sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch aus deren Regelungszweck. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 153 Abs 4 SGG ist nicht danach zu differenzieren, ob die im Berufungsverfahren nach § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 SGG einzubeziehenden Verwaltungsakte eine wesentliche Änderung der prozessualen Situation mit sich bringen oder nicht (vgl im Einzelnen BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 12 KR 8/19 R - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 14 ff).
Der mit der gesetzeswidrigen Entscheidung des LSG im Wege des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 SGG einhergehende Verstoß einerseits gegen den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) und andererseits gegen den das sozialgerichtliche Verfahren prägenden Grundsatz der Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (§ 33 SGG) ist als absoluter Revisionsgrund (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen. Den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ist nicht die Rechtsmacht eingeräumt, durch prozessuales Verhalten die Unbeachtlichkeit einer Verletzung des der Rechtsstaatlichkeit dienenden grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter herbeizuführen (stRspr; vgl BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 12 KR 8/19 R - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 17 mwN).
Der angefochtene Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG lässt sich auch nicht in eine gesetzeskonforme Zurückweisung der Berufung mit ordnungsgemäßer Besetzung des Spruchkörpers und eine rechtswidrige Entscheidung unter Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters über die Klage aufspalten. Das LSG hat das Verfahren als Ganzes geführt, ohne dass ein Teil des streitbefangenen Zeitraums abgetrennt worden ist. Die gesetzeswidrige Entscheidung auch über die Klage "infiziert" den gesamten Beschluss (vgl BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 12 KR 8/19 R - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 21 mwN).
Der Verfahrensmangel steht der Klärung der grundsätzlichen Rechtsfrage, ob die Freibetragsregelung des § 226 Abs 2 SGB V in der Fassung des GKV-Betriebsrentenfreibetragsgesetzes vom 21.12.2019 (BGBl I 2913) auf die Festsetzung der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung anzuwenden ist (hierzu anhängig B 12 KR 3/23 R), entgegen. Die Klärung würde im Übrigen auch Feststellungen zur Beitragsfestsetzung für die Zeit ab 1.1.2020 voraussetzen.
Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Heinz Beck Bergner
Fundstellen