Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Versäumung der Einlegungsfrist nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Organisationsverschulden des Rechtsanwalts. Delegation von Routineangelegenheiten an das Büropersonal. unübliche und schwierige Fristberechnung
Orientierungssatz
1. Einem Beteiligen, der innerhalb der Rechtsmittelfrist ordnungsgemäß einen PKH-Antrag gestellt hat, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn das Rechtsmittel binnen eines Monats nach Zustellung des PKH bewilligenden Beschlusses formgerecht eingelegt wird. Maßgeblich für den Fristbeginn ist die Zustellung beim Beteiligten, wenn diesem ein zuvor nicht für ihn tätig gewordener Rechtsanwalt beigeordnet wird.
2. Ohne Verschulden iS des § 67 Abs 1 SGG ist eine Frist versäumt, wenn der Prozessbevollmächtigte darlegen kann, dass es zu einem Büroversehen gekommen ist, obwohl er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat (vgl zusammenfassend BSG vom 10.12.2014 - B 1 KR 11/14 B = juris RdNr 8 mwN).
3. Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt; er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern (vgl etwa BGH vom 2.4.2008 - XII ZB 189/07 = NJW 2008, 2589 mwN).
4. Delegierbar sind grundsätzlich nur Routineangelegenheiten. Die Berechnung von Fristen, die nicht zu den Routinefristen gehören, muss der Rechtsanwalt selbst übernehmen (vgl BSG vom 27.7.2005 - B 11a AL 93/05 B). Dazu gehört auch die Frist zur Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach erstmaliger Beiordnung im PKH-Verfahren, weil es sich hierbei wegen der höchstrichterlichen Spruchpraxis zum Fristenlauf nach PKH-Bewilligung um den Fall einer unüblichen und schwierigen Fristberechnung handelt (vgl BSG vom 19.4.2022 - B 2 U 70/21 B = juris RdNr 8 unter Verweis auf BSG vom 11.12.2012 - B 2 U 333/12 B; so auch zur Frist zur Begründung einer NZB vgl BFH vom 28.8.2014 - VII B 12/14 = BFH/NV 2015, 43 mwN; zur Begründungsfrist im arbeitsgerichtlichen Verfahren vgl BAG vom 20.6.1995 - 3 AZN 261/95 = NJW 1995, 3339 mwN).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 2, § 67 Abs. 1-2, § 73 Abs. 6 S. 6, § 73a Abs. 1
Verfahrensgang
SG Osnabrück (Gerichtsbescheid vom 23.06.2021; Aktenzeichen S 22 AS 293/19) |
BSG (Urteil vom 17.04.2023; Aktenzeichen B 7 AS 89/22 BH) |
Tenor
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 5. Mai 2022 wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Mit Urteil vom 5.5.2022 hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen. Der Senat hat auf den Antrag der Klägerin, ihr zur Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG PKH zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, PKH bewilligt und Rechtsanwalt H, C, beigeordnet (Beschluss vom 17.4.2023). Dieser Beschluss ist der Klägerin am 21.4.2023 zugestellt worden; am 24.5.2023 hat der beigeordnete Rechtsanwalt Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und mitgeteilt, die Begründung der Beschwerde bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Auf Hinweis des Gerichts (vom 1.6.2023), dass die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde am 22.5.2023 abgelaufen sein dürfte, hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 19.6.2023 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Einlegungsfrist für die Nichtzulassungsbeschwerde beantragt und am 20.6.2023 die Beschwerdebegründung vorgelegt.
II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG ist abzulehnen.
Die Beschwerde der Klägerin ist verfristet und damit unzulässig. Nach § 160a Abs 1 Satz 2 SGG ist die Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils - hier: am 21.4.2023 - einzulegen. Die Klägerin hat die Beschwerde jedoch nicht innerhalb der am 22.5.2023 abgelaufenen Frist eingelegt, sondern erst am 24.5.2023.
Der Klägerin ist nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde zu gewähren. Ist jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs 1 SGG). Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 67 Abs 2 Satz 1 bis 3 SGG).
Einem Beteiligen, der innerhalb der Rechtsmittelfrist - wie hier - ordnungsgemäß einen PKH-Antrag gestellt hat, ist folglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn das Rechtsmittel binnen eines Monats nach Zustellung des PKH bewilligenden Beschlusses formgerecht eingelegt wird (stRspr; vgl nur BSG vom 13.10.1992 - 4 RA 36/92 - SozR 3-1500 § 67 Nr 5 S 12 f mwN). Die Klägerin hat jedoch nicht innerhalb der Frist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses - mit Zustellung der Entscheidung über die Bewilligung von PKH an sie am 21.4.2023 - die versäumte Rechtshandlung - hier die Beschwerdeeinlegung beim BSG - nachgeholt (§ 67 Abs 2 Satz 3 und 4 SGG), sondern erst am 24.5.2023. Maßgeblich für den Fristbeginn ist die Zustellung beim Beteiligten, wenn diesem ein - wie hier - zuvor nicht für ihn tätig gewordener Rechtsanwalt beigeordnet wird. Hierdurch wird eine Gleichstellung von prozesskostenhilfebedürftigen und nicht prozesskostenhilfebedürftigen Beteiligten erreicht. Der Prozessbeteiligte muss sich nach der Beiordnung selbst um die Mandatierung kümmern, sodass bis dahin (vgl § 73 Abs 6 Satz 6 SGG) fristauslösend die Zustellung bei ihm ist (grundlegend BSG vom 19.5.1983 - 1 BJ 72/83 - SozR 1500 § 64 Nr 1; BSG vom 1.2.2017 - B 8 SO 1/17 B - RdNr 6 BSG vom 19.4.2022 - B 2 U 70/21 B).
Die Klägerin versäumte die Frist zur Nachholung der Beschwerdeeinlegung nicht schuldlos. Die Nichteinhaltung der einmonatigen Frist zur Nachholung der Beschwerdeeinlegung beruht vielmehr auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten, das der Klägerin zuzurechnen ist (§ 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO). Für ein Verschulden von Hilfspersonen des Bevollmächtigten gilt dasselbe dann, wenn dieses vom Bevollmächtigten selbst zu vertreten, also als dessen eigenes Verschulden anzusehen ist (BSG vom 27.5.2008 - B 2 U 5/07 R - SozR 4-1500 § 67 Nr 7 RdNr 14). Ohne Verschulden iS des § 67 Abs 1 SGG ist eine Frist nur versäumt, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist (BSG vom 7.10.2014 - B 3 KR 14/04 R - SozR 4-1750 § 175 Nr 1 RdNr 15; BSG vom 5.12.2017 - B 12 P 2/16 R - RdNr 8 mwN). Das Verhalten des Prozessbevollmächtigten ist dagegen nicht schuldhaft, wenn er darlegen kann, dass es zu einem Büroversehen gekommen ist, obwohl er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat (vgl zusammenfassend BSG vom 10.12.2014 - B 1 KR 11/14 B - RdNr 8 mwN). Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt; er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern (vgl etwa BGH vom 2.4.2008 - XII ZB 189/07 - NJW 2008, 2589 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 67 RdNr 8d mwN).
Der Prozessbevollmächtigte hat vorgetragen, dass seine langjährig tätige und zuverlässige Mitarbeiterin das gerichtliche Schreiben vom 18.4.2023, mit dem auf den Lauf der Fristen nach Bewilligung von PKH informiert worden ist und dem der Beschluss über die PKH-Bewilligung vom 17.4.2023 beigefügt war, am 24.4.2023 entgegengenommen und darauf Frist zur Einlegung der Beschwerde auf den 24.5.2023 und zur Begründung auf den 26.6.2023 notiert habe. Irrtümlich sei für den Fristbeginn damit auf die Zustellung an die Kanzlei, nicht an die Klägerin, abgestellt worden. Die Rechtsanwaltsfachangestellte habe gegen die klare Anweisung verstoßen, das Fristen auslösende Schriftstück sorgfältig vor dem Notieren der Fristen durchzulesen, was dem derzeitigen überobligatorischen Arbeitsdruck geschuldet sei. Über Regelungen zur Fristenkontrolle und die Bedeutung würden die Mitarbeitenden regelmäßig belehrt, mindestens zweimal jährlich. Zwar sei der Vorgang nach Notierung der Fristen ihm, dem Bevollmächtigten, weisungsgemäß vorgelegt worden. Er habe jedoch nur überprüft, ob Fristen notiert worden seien, nicht aber, ob der Fristbeginn zutreffend bestimmt worden ist.
Es kann dahingestellt bleiben, ob unter Berücksichtigung dieses Vorbringens von einem Versäumnis der Rechtsanwaltsfachangestellten ausgegangen werden kann, das dem Prozessbevollmächtigten ggf zuzurechnen ist. Denn es liegt ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten selbst vor. Delegierbar sind grundsätzlich nur Routineangelegenheiten. Die Berechnung von Fristen, die nicht zu den Routinefristen gehören, muss der Rechtsanwalt selbst übernehmen (BSG vom 27.7.2005 - B 11a AL 93/05 B). Dazu gehört auch die Frist zur Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach erstmaliger Beiordnung im PKH-Verfahren, weil es sich hierbei wegen der höchstrichterlichen Spruchpraxis zum Fristenlauf nach PKH-Bewilligung um den Fall einer unüblichen und schwierigen Fristberechnung handelt (BSG vom 19.4.2022 - B 2 U 70/21 B - RdNr 8 unter Verweis auf BSG vom 11.12.2012 - B 2 U 333/12 B; so auch zur Frist zur Begründung einer NZB BFH vom 28.8.2014 - VII B 12/14 - mwN; zur Begründungsfrist im arbeitsgerichtlichen Verfahren BAG vom 20.6.1995 - 3 AZN 261/95 - mwN).
Dass die Berechnung einer Frist zur Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach PKH-Bewilligung durch das BSG zu den Routinefristen der Kanzlei gehört, ist nicht vorgetragen. Selbst wenn hier der Bürokraft gleichwohl die Berechnung der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde hätte überlassen werden dürfen, hätte der Prozessbevollmächtigte sich nicht darauf beschränken dürfen, nur die Notierung der Fristen zu prüfen. Vielmehr hätte er die Richtigkeit der Fristberechnung im konkreten Fall - auch und gerade vor dem Hintergrund der von ihm behaupteten überobligatorischen Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden in der Kanzlei - überprüfen müssen. Dies ist nach seinem eigenen Vortrag nicht erfolgt. Das Vorbringen des Prozessbevollmächtigten, es benachteilige Prozessführende auch nach Bewilligung von PKH, wenn für die Fristberechnung nicht auf die Zustellung des Beschlusses beim Bevollmächtigten, sondern der klagenden Person abgestellt werde, ist für die Beurteilung seines Verschuldens unerheblich. Im gerichtlichen Schreiben vom 18.4.2023, auf dem die Fristen notiert worden sind und das der Rechtsanwalt nach eigenem Bekunden als solches gesehen hat, wird unter Ziff 1 darauf hingewiesen, dass „die Einlegung einer formgültigen Nichtzulassungsbeschwerde nach Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung von PKH an die Antragstellerin innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs 2 SGG nachzuholen“ sei. Selbst wenn er insoweit eine andere Rechtsauffassung vertritt, hätte er nach Lektüre der Hinweise zumindest aus Gründen der Rechtssicherheit dem gerichtlichen Hinweis folgen und insoweit den sichersten Weg wählen müssen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. |
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S. Knickrehm |
Neumann |
Siefert Ist an der Signatur gehindert gez. S. Knickrehm |
Fundstellen
Dokument-Index HI15825304 |