Leitsatz (amtlich)
Eine "Änderung der Verhältnisse" im Sinne des SGG § 145 Nr 4 ist auch die Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Berechnung der Rente, insbesondere die Einführung von gesetzlichen Zuschlägen oder Zulagen zur Rente.
Normenkette
SGG § 145 Nr. 4
Tenor
In Sachen ...
wird der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht das Armenrecht zu bewilligen, abgelehnt.
Gründe
Der Kläger hat am 29. Dezember 1917 einen Unfall erlitten und bezieht hierfür von der Beklagten eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v. H. Der Dauerrente wurde ein Jahresarbeitsverdienst von 1.500,- Mark zugrunde gelegt.
Mit Bescheid vom 23. Juli 1953 gewährte die Beklagte dem Kläger vom 1. Juni 1949 an nach einem Vergleichsjahresarbeitsverdienst von 2.160,- DM einen Rentenzuschlag von 45 v. H. auf Grund des § 2 des Gesetzes über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung vom 10. August 1949 und vom 1. Juni 1951 an zu der erhöhten Rente noch eine Zulage von 25 v. H. auf Grund des § 1 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid ging nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) (1.1.1954) als Klage auf das Sozialgericht München über. Durch Urteil vom 7. Mai 1954 wurde die Beklagte entsprechend ihrem Anerkenntnis verpflichtet, dem Kläger die Bezüge nach einem Vergleichsjahresarbeitsverdienst von 2.400,- DM zu gewähren.
Die vom Sozialgericht in der Rechtsmittelbelehrung als zulässig gemäß § 143 SGG bezeichnete Berufung wurde vom Bayerischen Landessozialgericht am 15. Juni 1955 verworfen. Das Landessozialgericht hielt die Berufung für unzulässig, weil sie sich gegen ein Urteil richte, das die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betroffen habe (§ 145 Nr. 4 SGG), ohne daß einer der in dieser Vorschrift enthaltenen Ausnahmefälle oder einer der Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 150 SGG vorliege.
Gegen das am 4. August 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem von ihm selbst unterzeichneten Schriftsatz Revision eingelegt und gleichzeitig um Bewilligung des Armenrechts für die Revisionsinstanz nachgesucht. Er bemängelt u. a., daß das Landessozialgericht keine sachliche Prüfung seiner Berufung vorgenommen habe.
Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat, wäre sie nur statthaft, wenn der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens mit Erfolg rügen könnte (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; Nr. 3 dieser Vorschrift kommt nach Lage des Falles nicht in Betracht). Das Vorbringen des Klägers, das Landessozialgericht habe zu Unrecht eine sachliche Prüfung seiner Berufung unterlassen, könnte auf einen solchen Mangel hindeuten; wenn nämlich die Berufung als unzulässig verworfen wurde, obwohl das Berufungsgericht eine Sachentscheidung hätte treffen müssen, leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel (BSG. 1 S. 283).
Im vorliegenden Fall ist jedoch die Auslegung des § 145 Nr. 4 SGG durch das Landessozialgericht nicht zu beanstanden. Eine "Neufeststellung von Dauerrenten wegen Änderung der Verhältnisse" ist auch dann anzunehmen, wenn durch Gesetzesänderungen eine Erhöhung der Rente um Zuschläge oder Zulagen erfolgt, wie es hier nach dem Gesetz über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung vom 10. August 1949 sowie dem Gesetz über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 29. April 1952 der Fall war. Der beschließende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 22. August 1955 (BSG. 1 S. 184) - in Fortführung der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts - zum Ausdruck gebracht, daß unter "Änderung der Verhältnisse" i. S. des § 608 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht etwa ausschließlich eine Änderung im Gesundheitszustand des Beziehers einer Verletztenrente zu verstehen ist (so auch schon RVA. in EuM. Bd. 31 S. 237). Darüber hinaus vertreten aber nicht nur das Bayerische Landessozialgericht bzw. das frühere Landesversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung (Urteile vom 30.11.1951 - Amtsbl. Min. Arb. 1952 S. B 33; 11.3.1954 - Amtsbl. Min. Arb. 1954 S. B 118 = SGb 1954 S. 23; 2.12.1954 - BG 1955 S. 349), sondern ebenso auch das Hessische Landessozialgericht (Breithaupt 1956 S. 249) und das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (BG 1955 S. 82) den Standpunkt, auch die Neufeststellung einer Dauerrente nach Änderung der gesetzlichen Vorschriften über ihre Voraussetzungen oder Berechnung sei eine Neufeststellung wegen Änderung der Verhältnisse; bei Streit über diese Neufeststellung sei die Berufung ausgeschlossen. Dieser Standpunkt wird im Schrifttum überwiegend bejaht (Brackmann, Handb. der Soz. Vers. Bd. I 4. Aufl. S. 250 m; Lauterbach, Unfallvers. 2. Aufl. § 608 RVO Anm. 2; Miesbach-Ankenbrank SGG-Komm. § 145 Anm. 4; Mellwitz SGG-Komm. § 145 Anm. 30; Rodzun in BG 1955 S. 208; Eberhard in SGb 1954 S. 23) mit alleiniger Ausnahme von Hastler (SGG-Komm. § 145 Anm. 4 b), der indessen für seine einengende Auffassung keine nähere Begründung gibt.
Nach Ansicht des Senats weist insbesondere Eberhard (SGb 1954 S. 23) mit Recht darauf hin, daß es der Sinn des § 145 Nr. 4 SGG sei, die Berufung in solchen Verfahren grundsätzlich auszuschließen, in denen über die zu entschädigenden Leiden zwischen den Prozeßbeteiligten im Grunde keine Meinungsverschiedenheit bestehe. Wenn aber die Berufung schon bei Streit über den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit oder über das Vorliegen veränderter tatsächlicher Verhältnisse ausgeschlossen sei, bestehe erst recht kein Anlaß, ihre Zulässigkeit bei Neufestsetzung von Dauerrenten auf Grund von gesetzlichen Neuregelungen anzunehmen. Denn hierbei handele es sich nur um die Neuberechnung von Renten nach den neuen Vorschriften, zu deren gerichtlicher Nachprüfung eine Instanz im allgemeinen ausreiche; wenn erforderlich könne hier mit der Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG geholfen werden.
Diese Erwägungen werden nach Auffassung des Senats auch durch den Umstand gestützt, daß der Gesetzgeber schon bei der allgemeinen Neuberechnung der Renten nach dem Zweiten Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl. I S. 97), die der hier in Betracht kommenden Berechnung von Rentenzuschlägen und -zulagen weitgehend vergleichbar war, die Zulässigkeit des Rekurses gegen die Neufeststellungsbescheide erheblich eingeschränkt hatte (Art. 153 des 2. Änd. Ges.).
Schließlich konnte auch daraus, daß das Sozialgericht die Berufung in seiner Rechtsmittelbelehrung irrtümlich als zulässig bezeichnet hatte, eine Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht hergeleitet werden (BSG., Urt. vom 15.5.1956, Sozialrecht § 150 SGG, Bl. DA 3 Nr. 10). Auch sonstige Verfahrensmängel sind weder aus dem Vorbringen des Klägers noch aus dem Inhalt der Akten ersichtlich.
Die Revision erscheint hiernach nicht statthaft. Der vom Kläger beabsichtigten Rechtsverfolgung fehlt also eine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Damit liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bewilligung des Armenrechts nicht vor, so daß der Antrag des Klägers abzulehnen war (§ 167 SGG, § 114 Abs. 1 Zivilprozeßordnung).
Fundstellen