Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufung. Zulässigkeit. Statthaftigkeit

 

Orientierungssatz

Der Streit um die Gewährung einer Zulage nach dem Gesetz über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung (UVBlnÜblG) ist einer streitigen Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse gleich zu erachten; denn unter "Änderung der Verhältnisse" ist auch die Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Rentenberechnung, insbesondere die Einführung von Zuschlägen oder Zulagen zur Rente zu verstehen (vgl BSG 1956-11-08 2 RU 236/55 = SozR Nr 1 zu § 145 SGG).

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 4; RVO § 608; UVBlnÜblG § 2 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.06.1955)

 

Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Juni 1955 wird die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Stuttgart vom 15. Juni 1953 als unzulässig verworfen. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger bezieht von der Beklagten wegen eines 1903 erlittenen Unfalls eine Rente von 35 v. H., die sich am 1. Oktober 1952 auf monatlich 43,70 DM belief. Seine Invalidenrente betrug zur gleichen Zeit monatlich 102,- DM. Außerdem gewährt ihm die Unterstützungskasse seiner letzten Arbeitgeberfirma seit dem 1. Oktober 1952, dem Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Arbeitsleben, laufend einen in der Satzung vorgesehenen freiwilligen, jederzeit widerruflichen "Unterhaltszuschuß".

Im November 1952 beantragte der Kläger, ihm vom 1. Oktober 1952 an eine Zulage zu seiner Verletztenrente gemäß § 2 des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung und zur Überleitung des Unfallversicherungsrechtes im Lande Berlin (UZG) vom 29. April 1952 zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag ab mit der Begründung, der Gesamtbetrag des voraussichtlichen Erwerbseinkommens des Klägers in der Zeit vom 1. Oktober 1952 bis zum 30. September 1953 übersteige den in § 2 Abs. 1 UZG vorgeschriebenen Richtsatz von 2/3 des der Rente zugrunde liegenden, um die Zulage erhöhten Jahresarbeitsverdienstes (2/3 von 2812,50 DM = 1875,00 DM). Zum Erwerbseinkommen des Klägers rechnete die Beklagte hierbei neben der Unfallrente (jährlich 524,40 DM) und der Invalidenrente (jährlich 1224,- DM) auch den von der Unterstützungskasse bis dahin bereits gezahlten Unterhaltszuschuß im Betrage von 198,- DM.

Auf die Berufung des Klägers hat das Oberversicherungsamt (OVA.) die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, dem Kläger vom 1. Oktober 1952 an die Zulage nach § 2 UZG zu gewähren. Es hat den von der Unterstützungskasse gewährten Unterhaltszuschuß nicht als Erwerbseinkommen im Sinne dieser Vorschrift angesehen. In der Rechtsmittelbelehrung hat das OVA. den Rekurs an das Landesversicherungsamt (LVAmt) als unzulässig bezeichnet.

Ihren fristgerechten Rekurs gegen diese Entscheidung hat die Beklagte auf ein von Dr. P erstattetes Rechtsgutachten gestützt. Der Kläger hat nach Übergang der Sache auf das Landessozialgericht (LSG.) ein Rechtsgutachten des Universitätsprofessors Dr. Dr. D vorgelegt, welches seinen Standpunkt bestätigt. Das LSG. hat durch Urteil vom 22. Juni 1955 die Entscheidung des OVA. aufgehoben und den Ablehnungsbescheid wiederhergestellt. Es hält das nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung übergegangene Rechtsmittel der Beklagten ohne nähere Begründung für zulässig. Zur Sache vertritt das LSG. die Auffassung, der Begriff des Erwerbseinkommens in § 2 Abs. 1 UZG sei weit auszulegen und umfasse auch Betriebspensionen nach Art des dem Kläger von seiner Firma gezahlten Unterhaltszuschusses. Die Revision ist zugelassen worden.

Gegen das am 15. Juli 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. August 1955 Revision eingelegt und sie am 6. September 1955 begründet. Er hat zunächst unrichtige Anwendung des § 2 UZG durch den Vorderrichter gerügt. In der mündlichen Verhandlung hat er - unter Bezugnahme auf das Urteil des erkennenden Senats vom 25. Oktober 1957 (2 RU 250/55) - durch seinen Prozeßbevollmächtigten vortragen lassen, das LSG. habe zu Unrecht die Berufung der Beklagten als zulässig erachtet. Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des OVA. als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Bescheides der Beklagten diese zu verurteilen, dem Kläger die Zulage nach dem UZG zu seiner Unfallrente zu gewähren.

Von der Beantragung einer Kostenentscheidung hat der Kläger abgesehen.

Die Beklagte, die zunächst dem Revisionsvorbringen zur Auslegung des § 2 UZG entgegengetreten ist, hat in der mündlichen Verhandlung keinen Antrag gestellt.

II.

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§ 164 SGG).

Ist ein beim LVAmt rechtshängig gewesener Rekurs nach § 215 Abs. 3 SGG als Berufung auf das LSG. übergegangen, so ist die Zulässigkeit des Rechtsmittels nach altem und nach neuem Recht zu prüfen (BSG. 1 S. 204, S. 264; SozR. SGG § 215 Bl. Da 4 Nr. 17, Da 13 Nr. 40). Diese Prüfung hatte der Senat auf die durch Zulassung statthafte Revision von Amts wegen vorzunehmen (BSG. 2 S. 225). Das Urteil des OVA. betraf die Gewährung einer Zulage zur Dauerrente des Klägers auf Grund des UZG. Der Streit um die Gewährung einer solchen Rentenzulage ist einer streitigen Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse gleich zu erachten; denn unter "Änderung der Verhältnisse" ist auch die Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Rentenberechnung, insbesondere die Einführung von Zuschlägen oder Zulagen zur Rente zu verstehen. Diesen Grundsatz hat der erkennende Senat schon vor seiner vom Kläger angeführten Entscheidung aufgestellt, und zwar zunächst bei der Auslegung des § 145 Nr. 4 SGG (vgl. SozR. SGG § 145 Bl. Da 1 Nr. 1), sodann auch bezüglich des § 1700 Nr. 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - vgl. SozR. SGG § 215 Bl. Da 13 Nr. 40). Im vorliegenden Falle war demnach bereits der Rekurs auf Grund des § 1700 Nr. 8 RVO ausgeschlossen. Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des OVA. konnte der Beklagten keine Anfechtungsmöglichkeit eröffnen (SozR. SGG § 150 Bl. Da 3 Nr. 10, § 215 Bl. Da 13 Nr. 40).

Die Zulässigkeit des Rekurses kann auch nicht daraus hergeleitet werden, daß im vorliegenden Falle das OVA. seiner Verpflichtung, gemäß § 1693 RVO die Sache an das LVAmt zur Entscheidung abzugeben, nicht nachgekommen ist, sondern selbst entschieden hat. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (SozR. SGG § 215 Bl. Da 13 Nr. 40), ist auch in den Übergangsfällen des § 215 Abs. 3 SGG an der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts festzuhalten, daß eine nur unbewußte Nichtbeachtung der sich aus § 1693 RVO ergebenden Abgabepflicht die Anwendbarkeit des § 1700 RVO nicht ausschließt. Daß im vorliegenden Fall das OVA. Stuttgart nicht bewußt gegen seine Abgabepflicht verstoßen hat, bedarf keiner näheren Darlegung. Der Ausschluß des früheren Rekurses durch § 1700 Nr. 8 RVO hatte nach Übergang der Sache auf das LSG. die Unzulässigkeit der Berufung zur Folge. Deshalb mußte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des OVA. Stuttgart als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt die in der mündlichen Verhandlung vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers vorgetragene Anregung.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324289

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