Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Überleitung. Statthaftigkeit
Orientierungssatz
1. Die beim Inkrafttreten des SGG beim OVG rechtshängigen Sachen wurden gemäß § 215 Abs 8 SGG auf das LSG übergeleitet.
2. In derartigen Übergangsfällen ist die Statthaftigkeit der Berufung nicht nach § 1700 Nr 8 RVO, sondern nur nach dem SGG zu beurteilen (vgl BSG 1957-01-22 2 RU 284/55 = SozR Nr 37 zu § 215 SGG)
Normenkette
SGG § 215 Abs. 8; RVO § 1700 Nr. 8
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 29.10.1955) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 29. Oktober 1955 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger hatte sich im Juli 1938 als Bauführer im Dienst der Luftwaffe durch einen Arbeitsunfall das rechte Bein verletzt. Die damals zuständige Reichsausführungsbehörde für Unfallversicherung hatte einen Entschädigungsanspruch des Klägers abgelehnt, weil die anerkannten Unfallfolgen nur eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 15 v. H. hinterlassen hätten.
Im Januar 1952 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Nachprüfung des Rentenanspruchs wegen wesentlicher Verschlimmerung der Unfallfolgen. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Rente durch Bescheid vom 17. Mai 1952 ab mit der Begründung, nach dem von ihr eingeholten fachärztlichen Gutachten, das die MdE. des Klägers mit höchstens 15 v. H. bewertete, sei eine Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht eingetreten. Mit seiner am 14. Juni 1952 eingelegten Berufung machte der Kläger geltend, ein durch den Unfall verursachter Herzfehler sei nicht berücksichtigt worden. Das Oberversicherungsamt (OVA.) Aurich wies die Berufung durch Urteil vom 29. Januar 1953 zurück.
Am 26. Februar 1953 ist beim OVA. ein Schreiben des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK) eingegangen, in welchem dieser für den Kläger weitere Berufung beim Oberverwaltungsgericht (OVG.) Lüneburg eingelegt hat mit dem Bemerken: "Die Berufung richtet sich gegen die Ablehnung einer Unfallrente. Begründung wird nachgereicht. Wir bitten, von einer Weitergabe an das OVG. zunächst abzusehen, bis weitere Mitteilung von uns dort eingeht." Das Landessozialgericht (LSG.) Celle hat dem Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 11. Februar 1954 die formularmäßige Belehrung gemäß § 214 Abs. 4 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erteilt mit dem Zusatz: "Falls das Rechtsmittel nicht als Rekurs, sondern als Berufung behandelt werden soll, wollen Sie dies bitte innerhalb der Frist mitteilen." Der VdK hat darauf fristgemäß erwidert, er beantrage "die Durchführung des Verfahrens der Berufung gemäß § 214 Abs. 4 SGG." In der mündlichen Verhandlung hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers gebeten, diese Erklärung so aufzufassen, daß die Durchführung des beim OVG. Lüneburg anhängig gewesenen weiteren Berufungsverfahrens begehrt werde. Das LSG. hat durch Urteil vom 29. Oktober 1955 die Berufung des Klägers verworfen und die Revision zugelassen. Es hält die nach § 215 Abs. 8 SGG übergegangene Berufung für nicht zulässig. Nach der gesetzlichen Regelung in den §§ 214, 215 SGG sei zu fordern, daß in allen Altfällen gleichermaßen die Rechtsmittel nach altem Recht zulässig gewesen sein müßten, um als zulässige Rechtsmittel auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit übergehen zu können. Das Urteil des OVA. Aurich habe die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betroffen, daher sei der Rekurs nach § 1700 Nr. 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgeschlossen gewesen; der Antrag des Klägers auf Anerkennung einer neuen Unfallfolge ändere daran nichts.
Gegen das am 12. November 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. November 1955 Revision eingelegt und diese, nach entsprechender Fristverlängerung, am 6. Februar 1956 begründet. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts rügt die Revision, das LSG. habe die Vorschrift des § 215 Abs. 8 SGG unrichtig angewendet, indem es die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen habe. Durch den in Fällen der vorliegenden Art anzuwendenden § 145 Nr. 4 SGG sei die Berufung nicht ausgeschlossen. Ferner trägt der Kläger vor, seine Berufung gegen das Urteil des OVA. habe der Vorschrift des § 83 der Verordnung Nr. 165 der Militärregierung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone (MRVO Nr. 165) genügt. Wenn sein Prozeßbevollmächtigter in dieser Berufungsschrift gleichzeitig gebeten habe, von einer Weitergabe an das OVG. Lüneburg abzusehen, so komme dieser Einschränkung, die sich nur auf die geschäftsmäßige Weiterbehandlung beziehe, prozeßrechtliche Bedeutung nicht zu; diese Bitte sei in der Kenntnis erfolgt, daß mit einer Entscheidung das OVG. vor Inkrafttreten des SGG doch nicht mehr zu rechnen gewesen sei. Die dem Kläger vom LSG. erteilte Belehrung nach § 214 Abs. 4 SGG sei rechtsirrtümlich, der vom Kläger daraufhin gestellte Antrag deshalb unschädlich gewesen. Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Sie tritt der Begründung des angefochtenen Urteils bei. Ferner meint sie, der Kläger habe sein vermeintliches Berufungsrecht durch Verzicht verwirkt. Der Verzicht sei schon in der Bitte, von einer Weitergabe an das OVG. abzusehen, besonders aber dann in der Erklärung gemäß § 214 Abs. 4 SGG an das LSG. zu erblicken. Diese Erklärung habe er später in der mündlichen Verhandlung nicht wirksam widerrufen können. Im übrigen sei das OVG. Lüneburg überhaupt nicht tätig geworden.
II
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und daher zulässig. Das LSG. ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Sache auf Grund des § 215 Abs. 8 SGG übergeleitet worden ist. Voraussetzung hierfür war die Rechtshängigkeit der Sache beim OVG. Lüneburg im Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGG. Die Bedenken der Beklagten gegen die Annahme der Rechtshängigkeit greifen nicht durch. Die Berufungsschrift des Klägers war fristgerecht beim OVA. als dem judex a quo eingegangen, wie es § 83 Abs. 1 Satz 1 der für die Entscheidung dieser Frage anzuwendenden MRVO Nr. 165 als Regelfall vorsieht. Die in der Berufungsschrift ausgesprochene Bitte, von einer Weitergabe an das OVG. zunächst abzusehen, stellt nicht etwa eine Bedingung oder einen Vorbehalt dar - derartige Einschränkungen würden allerdings zur Unwirksamkeit der Prozeßhandlung führen (vgl. Klinger, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, 3. Aufl. Anm. A 2 zu § 83 S. 506; Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., 5. Aufl. S. 236 c mit weiteren Nachweisen) -. Der Kläger wollte vielmehr das Urteil des OVA. unbedingt und vorbehaltslos anfechten. Nur im Hinblick darauf, daß die Schaffung des SGG damals schon in Aussicht stand und daß andererseits die Überlastung der allgemeinen Verwaltungsgerichte dem VdK bekannt gewesen sein dürfte, wollte der Verband das OVA. offenbar anregen, zunächst die weitere Entwicklung abzuwarten. Die Bitte des Klägers hatte also nur Bedeutung für die geschäftsmäßige Behandlung des wirksam eingelegten Rechtsmittels. - Für die Rechtshängigkeit kam es schließlich auch nicht darauf an, daß die Berufungsschrift dem OVG. Lüneburg nicht vorgelegen hat.
Entgegen den Darlegungen der Beklagten hat der Kläger die damit nach § 215 Abs. 8 SGG gewonnene prozeßrechtliche Stellung auch nicht durch seine Erklärung gegenüber dem LSG. auf dessen Belehrung vom 11. Februar 1954 eingebüßt. Eine Zurücknahme der Berufung ist in der Erklärung des Klägers nicht zu erblicken. Diese bezog sich auf eine Verfügung des LSG., in welcher zwar von Rekurs und Berufung die Rede war, als gesetzliche Grundlage aber lediglich § 214 Abs. 4 SGG angegeben wurde. § 214 Abs. 4 SGG erwähnt ebenfalls Rekurs und Berufung. Daß das LSG. mit dem Ausdruck "Berufung" etwas ganz anderes gemeint haben kann, nämlich die verwaltungsgerichtliche Berufung (§ 215 Abs. 8), ist mangels näherer Bezeichnung in dieser Belehrung nicht ohne weiteres ersichtlich. Deshalb kann auch der dazu abgegebenen Erklärung des Klägers keine Bedeutung für sein beim OVG. rechtshängig gewesenes Rechtsmittel beigemessen werden. Seine spätere Erklärung in der mündlichen Verhandlung war also nicht als unzulässiger Widerruf einer Rechtsmittelrücknahme, sondern lediglich als Bereinigung eines Mißverständnisses aufzufassen.
Der Revisionsangriff gegen die Auslegung des § 215 Abs. 8 SGG durch das LSG. ist begründet. Das LSG. durfte die Statthaftigkeit der Berufung nicht nach § 1700 Nr. 8 RVO beurteilen, denn in derartigen Übergangsfällen ist hierfür nur das SGG maßgebend (SozR. SGG § 215 Bl. Da 12 Nr. 37 mit weiteren Nachweisen). Der Berufung des Klägers steht § 145 Nr. 4 SGG nicht entgegen, weil auf jeden Fall die Gewährung der Rente überhaupt im Streit ist.
Das angefochtene Urteil war hiernach aufzuheben. Eine Sachentscheidung durch den erkennenden Senat war wegen des Fehlens der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen untunlich. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen