Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 1999 insoweit zugelassen, als der Kläger Entschädigungsansprüche aus der ihm am 13. September 1986 zugefügten Körperverletzung herleitet.
Im übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil des Landessozialgerichts als unzulässig verworfen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Revisionsentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der 1938 geborene erwerbsunfähige und schwerbehinderte Kläger hatte seit 1983 beim Beklagten wegen der Folgen mehrerer an ihm angeblich in den Jahren 1971 bis 1978 verübter Tätlichkeiten vergeblich Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfer von Gewalttaten (OEG) beantragt. Während der Anhängigkeit der zum Sozialgericht München (SG) 1984 und 1986 erhobenen Klagen erlitt er – am 13. September 1986 – im Flur einer Obdachlosenunterkunft in F. … Verletzungen im Gesicht und an den Augen, als der Hausverwalter P. … (P.) eine Gaspistole auf ihn abschoß. Im Rahmen des gegen den Kläger und P. eingeleiteten staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens des Landgerichts München II sagte der Zeuge U. … (U.), ein Hausgenosse des Klägers, aus, der Kläger habe vor der Tat P. mit Krücken gegen den Oberkörper geschlagen und mit dem Rollstuhl angefahren. Das Amtsgericht Freising vernahm im Strafverfahren U. als Zeugen, wobei dieser bei seiner Darstellung blieb. Mit Urteil vom 7. Juli 1988 verurteilte es P. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 20,– DM. Den in demselben Verfahren ebenfalls wegen Körperverletzung angeklagten Kläger sprach es dagegen mit der Begründung frei, es sei nicht nachgewiesen, daß er P. geschlagen und mit dem Rollstuhl angefahren habe.
Die vor dem SG anhängigen Klagen wurden am 14. September 1989 durch Vergleich erledigt. Dabei verpflichtete sich der Beklagte, den Versorgungsanspruch des Klägers auch insoweit neu zu überprüfen, als zu den einzelnen geltend gemachten Gewalttaten bisher keine Bescheide ergangen waren. Mit Bescheid vom 31. März 1993 lehnte er die Leistungsanträge des Klägers, darunter denjenigen wegen des Vorfalls vom 13. September 1986, wiederum ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Im Berufungsverfahren zog das Landessozialgericht (LSG) die Strafakten wegen der Vorgänge vom 13. September 1986 bei und wies mit Urteil vom 19. Januar 1999 das Rechtsmittel des Klägers zurück. In den Entscheidungsgründen dieses Urteils heißt es ua: „Angesichts der Aussage des am Streit unbeteiligten Tatzeugen U., aber auch des gesamten bisher vom Kläger gezeigten Verhaltens, wie es in den Aktenvorgängen des Beklagten dokumentiert ist …, ist der Senat der Beweiswürdigung des Amtsgerichts in seinem Urteil vom 07.07.1988, dem diese Erkenntnisse nicht zur Verfügung gestanden haben, nicht gefolgt …. Die Aussagen vom 14.12.1986 des an der Tat unbeteiligten Zeugen U. vor dem ermittelnden Polizeibeamten, daß der Kläger mit beiden Krücken mehrmals gegen den Oberkörper des P. geschlagen und ihn mit dem Rollstuhl gegen das Schienbein gefahren sei, sind auch in dessen zehn Minuten dauernder Zeugeneinvernahme vor dem Amtsgericht nicht anders dargestellt worden und werden auch vom Senat nicht bezweifelt.” Die vom Kläger in der der Schädigung vorausgegangenen verbalen und körperlichen Auseinandersetzung gesetzten Kausalfaktoren rechtfertigten – zusammen mit weiteren Umständen – die Versagung einer Entschädigung wegen Unbilligkeit (2. Alt des § 2 Abs 1 OEG).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensfehler einen Verstoß des LSG gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) und einen Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Das LSG hätte sich im Hinblick auf die vom Urteil des Amtsgerichts Freising vom 7. Juli 1988 abweichende Beweiswürdigung zu einer unmittelbaren Einvernahme des Zeugen U. und des angeklagten P. gedrängt fühlen müssen. Im übrigen seien die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht nachvollziehbar.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist hinsichtlich der Feststellungen von Folgen der am 13. September 1986 erlittenen Schädigung begründet und führt insoweit zur Zulassung der Revision; im übrigen ist sie unzulässig.
Soweit der Kläger die Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫ (Verletzung der dem LSG als Tatsacheninstanz obliegenden Amtsermittlungspflicht) rügt, dh hinsichtlich der Folgen aller angeblich vor dem 13. September 1986 begangenen Gewalttaten, ist die Beschwerde unzulässig. Zwar kann eine Nichtzulassungsbeschwerde grundsätzlich mit einem derartigen Verstoß begründet werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Diese Rüge ist aber nur in der Form zulässig, daß der Beschwerdeführer sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, RdNrn 2 und 6). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hätte der Kläger in der Begründung seines Rechtsmittels dartun müssen (BSG SozR § 160a Nr 4 = BSGE 40, 40; Kummer, aaO RdNr 215). Das Vorbringen des Klägers, er habe schon mit seiner Berufungseinlegung und in den folgenden Schriftsätzen immer wieder vor dem LSG das Fehlen einer hinreichenden Aufklärung des Sachverhalts moniert und darauf hingewiesen, daß teilweise von falschen Tatsachen ausgegangen worden sei, enthält keine Bezugnahme auf einen bestimmten Beweisantrag. Soweit der Kläger die tatsächlichen Feststellungen des LSG als „nicht nachvollziehbar” bezeichnet, rügt er sinngemäß die Beweiswürdigung des LSG (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Mit dieser Rüge ist er jedoch im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen (§ 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG), so daß die Beschwerde auch insoweit als unzulässig zu verwerfen ist.
Als zulässig und begründet erweist sich das Rechtsmittel dagegen insoweit, als der Kläger die Feststellungen angreift, auf Grund deren das LSG eine Entschädigung wegen der am 13. September 1986 verübten Gewalttat für unbillig gehalten hat. Insoweit ist die Revision – teilweise – zuzulassen (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, RdNr 267; BSGE 3, 135, 137 ff). Das LSG hat die Unbilligkeit der Entschädigung ua aus dem Umstand gefolgert, daß der Kläger kurze Zeit vor seiner Schädigung den Täter P. mit Krücken gegen den Oberkörper geschlagen habe und mit dem Rollstuhl gegen sein Schienbein gefahren sei. Diesen Hergang hat es aufgrund der Aussage des vom Amtsgericht Freising vernommenen Zeugen U. festgestellt, wobei es davon ausgegangen ist, daß U. bei seiner gerichtlichen Einvernahme ebenso ausgesagt hat wie im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. Bei der Auswertung dieser Aussage ist das LSG aber bewußt von der Beweiswürdigung des Amtsgerichts Freising abgewichen, ohne U. noch einmal selbst einzuvernehmen. Darin liegt ein Verstoß gegen den auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, RdNr 14 zu § 118) § 398 Abs 1 Zivilprozeßordnung (ZPO). Gemäß dieser Vorschrift „kann” das Prozeßgericht nach seinem Ermessen die wiederholte Vernehmung eines Zeugen anordnen. Dieses Ermessen reduziert sich jedoch auf Null, wenn das Berufungsgericht eine in der Vorinstanz erhobene Zeugenaussage – jedenfalls im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen – abweichend würdigen will (stRspr der Zivilgerichte, vgl Thomas/Putzo ZPO mit GVG, 22. Aufl, RdNr 4c zu § 398; vgl auch BSG SozR 1750 § 398 Nr 1). Freilich bezieht sich § 398 Abs 1 ZPO grundsätzlich nur auf das Verhältnis zwischen Gerichten desselben Verfahrens. Der Senat entnimmt jedoch der dargestellten Auslegung des § 398 Abs 1 ZPO den allgemeinen Grundsatz, daß ein Zeuge in der Regel dann erneut zu vernehmen ist, wenn ein Gericht seine frühere, vor einem anderen Gericht gemachte Aussage im Wege des Urkundenbeweises verwerten, deren Glaubwürdigkeit aber anders beurteilen will als das vernehmende Gericht. In OEG-Sachen gilt dies insbesondere auch dann, wenn das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit einer Zeugenaussage keinen Glauben schenken will, die das Strafgericht als glaubhaft angesehen hat (vgl Urteil des Senats SozR 3-1500 § 128 Nr 12 = Breithaupt 1999, 645); entsprechendes gilt im – hier vorliegenden – umgekehrten Fall.
Es steht hier der Rüge einer Verletzung des § 398 Abs 1 ZPO nicht entgegen, daß der Kläger vor dem LSG die wiederholte Vernehmung des U. nicht beantragt hat. § 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG ist nicht anwendbar. Die Verpflichtung des Gerichts der Sozialgerichtsbarkeit, bei abweichender Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines Zeugen die Zeugenvernehmung zu wiederholen, stellt nicht etwa nur eine Konkretisierung bereits in § 103 SGG oder in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG enthaltener Verfahrensgrundsätze dar. § 103 SGG ist verletzt, wenn das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit nicht oder nicht ausreichend ermittelt hat. Liegt aber bereits ein Ermittlungsergebnis in Form einer bereits von einem anderen Gericht gewürdigten Zeugenaussage vor, besteht insoweit kein, jedenfalls kein erkennbarer Ermittlungsbedarf. Sind – wie hier – die Akten mit dem Protokoll der früheren Vernehmung beigezogen, haben die Beteiligten keinen Anlaß, die nochmalige Vernehmung des Zeugen zu beantragen, weil sie damit rechnen können, daß die Glaubwürdigkeit der Aussage so beurteilt wird wie durch das Gericht, vor dem sie gemacht worden ist. Der hier vorliegende Verfahrensverstoß erschöpft sich auch nicht in einer Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Überschreitung des Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung), denn die Aussage des Zeugen U. vor dem Amtsgericht unterlag aus den dargestellten Gründen nicht vollständig der freien richterlichen Beweiswürdigung durch das LSG.
Die Entscheidung des LSG kann schließlich auf dem Verfahrensmangel des LSG beruhen, wie der Kläger zutreffend dargelegt hat. Denn bei einer erneuten Einvernahme des Zeugen wäre eine abweichende oder vollständigere Aussage und infolgedessen ein anderes Verfahrensergebnis denkbar gewesen. Unerheblich ist es, daß nach den Feststellungen des LSG derzeit keine „meßbaren” Folgen der dem Kläger etwa am 13. September 1986 zugefügten Schädigung erkennbar sind. Das gilt auch dann, wenn man in der Klage nicht (auch) eine Feststellungsklage wegen – ggf abgeklungener – Schädigungsfolgen (BSGE 68, 128 = SozR 3200 § 81 Nr 1 SGG) sehen will. Denn jedenfalls war die Klage auf die Gewährung von „Versorgung” gerichtet. Diese umfaßt auch die Gewährung von Heilbehandlung (§ 9 Nr 1 iVm §§ 10 ff BVG). Daß der Kläger wegen der Folgen der am 13. September 1986 erlittenen Augenverletzung keiner Heilbehandlung mehr bedurfte, geht aus den Feststellungen des LSG nicht hervor.
Über die Kosten wird im Rahmen der etwa eingelegten Revision zu entscheiden sein (Kummer, aaO RdNr 299 mwN), sonst ggf gemäß § 193 Abs 1, 2. Halbsatz SGG durch Beschluß.
Fundstellen