Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Versäumung der Berufungsfrist. gerichtlicher Eingangsstempel
Orientierungssatz
1. Gerichtliche Eingangsstempel erbringen regelmäßig den Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreibens oder eines Schriftsatzes (vgl BGH vom 30.10.1997 - VII ZB 19/97 = NJW 1998, 461). Wird die Unrichtigkeit eines gerichtlichen Eingangsstempels nach Einwurf eines Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten vorgetragen, muss das Gericht zunächst durch Einholung einer dienstlichen Äußerung der Wachtmeisterei aufklären, ob es im Hinblick auf die Funktionsweise des Nachtbriefkastens oder das bei der Leerung zu beachtende Verfahren einen Fehler gegeben hat (vgl BGH vom 3.7.2008 - IX ZB 169/07 = NJW 2008, 3501).
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 15.11.2011 - 1 BvR 2097/11).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 151 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für die Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. August 2010 - L 6 AS 381/08 - vor dem Bundessozialgericht Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin A beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I. Streitig sind Kosten der Unterkunft und Heizung für die Zeit von Januar 2005 bis Juni 2008.
Der Berufungsschriftsatz des Klägers gegen das am 7.10.2008 zugestellte klageabweisende Urteil des SG vom 11.9.2008 trägt den Eingangsstempel des SG vom 10.11.2008. Der zugehörige Umschlag enthält als vom Kläger unterschriebenen Vermerk ua "Einwurf Fristenbriefkasten, Sozialgericht MR am 7.11.2008 um 19.30 Uhr" (Unterschrift). Nachdem dem Kläger zunächst mitgeteilt worden war, die Berufung sei fristgerecht eingelegt worden, weil der 10.11.2008 ein Montag sei (Schreiben vom 20.11.2008), hat das LSG nach Berichterstatterwechsel im März 2010 Auskünfte des SG Marburg angefordert, danach den früheren Leiter der Poststelle des SG zur Frage des Eingangs der Berufungsschrift vernommen und die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil des LSG vom 18.8.2010). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, ausweislich des Eingangsstempels sei die Berufungsschrift erst am Montag, dem 10.11.2008, und damit verspätet beim SG eingegangen. Der Vermerk auf dem Umschlag spreche gegen den fristgerechten Einwurf in den Gerichtsbriefkasten. Der Kläger habe nicht dargelegt, dass und/oder warum er Anlass gehabt habe, der Fristendokumentation des Briefkastens zu misstrauen. Der als Zeuge vernommene ehemalige Leiter der Poststelle habe ausgeführt, dass er sich an den Vorgang noch gut erinnern könne, weil der Berufungsschriftsatz mit dem auffallenden Umschlag am 10.11.2008 auf der Klappe des Nachtbriefkastens zusammen mit der Tagespresse vom selben Tag gelegen habe, also nach Schließen der Klappe eingeworfen worden sei. Eine Störung des Mechanismus sei ihm nicht erinnerlich und wäre selbst bei einem Stromausfall nicht anzunehmen, weil dann der Kontakt zur Klappenschließung nicht ausgelöst worden wäre.
II. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von PKH für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ist abzulehnen. Nach § 73a SGG iVm § 114 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es hier. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG) eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG unter Berücksichtigung der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgezählten Zulassungsgründe erfolgreich begründen könnte.
Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG die hier angestrebte Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur zulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und tatsächlich vorliegt. Weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Klägervorbringen wird deutlich, worin eine grundsätzliche, über den Fall des Klägers hinausgehende allgemeine Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG liegen könnte, die rechtlich noch ungeklärte Fragestellungen aufwirft. Auch eine Abweichung des angefochtenen Urteils von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG ist weder zu erkennen noch geltend gemacht.
Aus dem Akteninhalt und dem Vortrag des Klägers ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Prozessbevollmächtigter des Klägers erfolgreich einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend machen kann, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Satz 1 Nr 3 Halbs 2 SGG). Soweit der Kläger als Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens (vgl hierzu zB BSG vom 21.7.2009 - B 7 AL 9/09 B) rügt, das LSG habe die angebotene Gegenbeweisführung vereitelt, indem es ihm erst 20 Monate nach Eingang des Rechtsmittels der Berufung mitgeteilt habe, dass diese verfristet sei, liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das LSG zu einem anderen Beweisergebnis hätte gelangen können. Ein entsprechender Beweisantrag liegt nicht vor. Das LSG hat insofern eine Beweiswürdigung vorgenommen, die einer Überprüfung im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht zugänglich ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Gerichtliche Eingangsstempel erbringen im Übrigen regelmäßig den Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreiben oder eines Schriftsatzes (BGH Beschluss vom 30.10.1997 - VII ZB 19/97 - NJW 1998, 461). Wird die Unrichtigkeit eines gerichtlichen Eingangsstempels nach Einwurf eines Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten vorgetragen, muss das Gericht zunächst durch Einholung einer dienstlichen Äußerung der Wachtmeisterei aufklären, ob es im Hinblick auf die Funktionsweise des Nachtbriefkastens oder das bei der Leerung zu beachtende Verfahren einen Fehler gegeben hat (vgl zB BGH Beschluss vom 3.7.2008 - IX ZB 169/07 - NJW 2008, 3501). Diese Überprüfung hat das LSG mit für den Kläger negativem Ergebnis durchgeführt, welches durch die Vernehmung des Zeugen B bestätigt worden ist. Dabei ist in Ausnahmefällen - hier der vorgelagerten Prüfung der Zulässigkeit der Berufung - die Vernehmung von Zeugen im Verfahren der Bewilligung von PKH nach § 118 Abs 2 Satz 3 ZPO möglich.
Auch soweit der Kläger als Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 GG) geltend macht, mangels zeitnaher Entscheidung über seinen PKH-Antrag habe das LSG seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vom 18.8.2010 vereitelt und ihm die Möglichkeit genommen, dem Zeugen Fragen zu stellen, ist nicht erkennbar, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter insofern erfolgreich einen Verfahrensfehler im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde geltend machen könnte. Prüfungsgegenstand bei der Nichtzulassungsbeschwerde ist insofern nicht die Rechtmäßigkeit des Beschlusses über die Ablehnung der PKH, sondern die Frage, ob dem Kläger durch rechtswidrige Vorenthaltung der beantragten PKH eine sachgerechte Prozessführung und insbesondere die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts vom 18.8.2010 verwehrt und dadurch sein in Art 103 Abs 1 GG verfassungsrechtlich garantierter Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden ist. Insofern muss rückschauend beurteilt werden, ob dem Kläger bei zeitgerechter Entscheidung über seinen Antrag PKH zugestanden hätte (BSG Beschluss vom 4.12.2007 - B 2 U 165/06 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 9, RdNr 10). Eine hinreichende Aussicht auf Erfolg iS des § 114 ZPO ist ua gegeben, wenn das Gericht in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Umgekehrt kann die Erfolgsaussicht verneint werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfGE 81, 347, 356 ff). Nach diesen Maßstäben war - wegen der Beweiskraft des gerichtlichen Eingangsstempels - im konkreten Fall bereits bei Einlegung der Berufung im November 2008 eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht anzunehmen.
Mit der Ablehnung der beantragten PKH entfällt zugleich die Beiordnung von Rechtsanwältin A im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 121 ZPO).
Fundstellen