Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Anforderungen an Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung. Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs. Unvermögen der Krankenkasse zur rechtzeitigen Erbringung einer unaufschiebbaren Leistung
Orientierungssatz
Ein Kostenerstattungsanspruch kann mit dem Unvermögen der Krankenkasse zur rechtzeitigen Erbringung einer unaufschiebbaren Leistung begründet werden, wenn es dem Versicherten - aus medizinischen oder anderen Gründen - entweder nicht möglich oder nicht zumutbar war, vor der Beschaffung die Krankenkasse einzuschalten (vgl BSG vom 25.9.2000 - B 1 KR 5/99 R = SozR 3-2500 § 13 Nr 22).
Normenkette
SGB 5 § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.07.2003; Aktenzeichen L 4 KR 32/02) |
SG Stuttgart (Urteil vom 22.11.2001; Aktenzeichen S 12 KR 1456/01) |
Tatbestand
Die bei der beklagten Betriebskrankenkasse versicherte, in B. wohnende Klägerin litt nach Durchführung einer Krebsoperation mit anschließender Bestrahlung seit 1994 an einer radiogenen Cystitis mit rezidivierenden extrem schmerzhaften Harnwegsinfekten. Die Klägerin befand sich deswegen sowohl in stationärer als auch in ambulanter Behandlung. Im März 1999 genehmigte die Beklagte die Behandlung der Klägerin durch den nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Dr. K., auf dessen Anraten sie sich im September 2000 bei dem Urologen Prof. Dr. S. in der nicht vertragsärztlich zugelassenen E.-Clinic (EMC) F. vorstellte. Am 4. September 2000 lehnte ein Mitarbeiter der Beklagten bei einer telefonischen Anfrage der Klägerin die Übernahme der Kosten einer Behandlung in dieser Klinik ab. Den schriftlichen Antrag vom 22. September 2000 auf Übernahme einer von Prof. Dr. S. durchzuführenden Urethrostomie nach Otis lehnte die Beklagte nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) mit Bescheid vom 9. Oktober 2000 ab, weil die beabsichtigte Behandlung auch in einem zugelassenen Krankenhaus, zB im Klinikum F., durchgeführt werden könne. Die Klägerin ließ sich vom 10. bis 12. Oktober 2000 in der EMC behandeln und legte danach erfolglos Widerspruch gegen den Bescheid vom 9. Oktober 2000 ein. Das Sozialgericht (SG) hat ihrer Klage stattgegeben und die Beklagte zur Erstattung von 6.515,62 DM verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Entgegen der Ansicht des SG habe es sich bei der Behandlung durch Prof. Dr. S. nicht um eine unaufschiebbare Leistung gehandelt. Hierfür spreche schon die lange Planung dieser Operation (Urteil vom 25. Juli 2003).
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde, mit der alle drei in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genannten Zulassungsgründe geltend gemacht werden, ist unzulässig. Sie genügt nicht den Begründungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
1. Soll die Revision nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu ist es erforderlich, eine Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, und dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheblich wäre. Hieran fehlt es.
Die Klägern hält die Frage "Stellt die Erstuntersuchung 38 Tage vor einer notwendigen Operation eine lange Planung dar, die allein wegen der Zeitspanne es ausschließt, dass eine ärztliche Leistung unaufschiebbar i.S.v. § 13 Abs. 3 Satz 1, 1. Alt SGB V ist?" für klärungsbedürftig. "Gerade in Fällen, wie dem vorliegenden, in welchem die gesetzliche Krankenkasse wegen der Erfolglosigkeit der bisherigen Behandlung im Vertragsarztsystem anteilig die Kosten einer vor der Operation liegenden Behandlung bei einem Nichtvertragsarzt (hier Dr. K.) übernommen" habe, sei die Klärung der vorgenannten Rechtsfrage für eine Vielzahl anderer Rechtsfälle von Bedeutung. "Gerade in Fällen, bei denen Versicherte von der Krankenkasse die Kosten für eine ambulante Behandlung bei einem Nichtvertragsarzt erstattet bekommen" und sich dann die Notwendigkeit einer dringenden weiteren stationären Behandlung herausstelle, sei klärungsbedürftig, "wann es in solchen Fällen einem Versicherten nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich vor der Leistungsbeschaffung mit der Kasse in Verbindung zu setzen." Das Bundessozialgericht (BSG) habe bisher keine feste zeitliche Grenze festgelegt, ab welcher eine ins Auge gefasste ärztliche Behandlungsmaßnahme allein wegen des erheblichen Zeitraums nicht mehr unaufschiebbar sein könne. - Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beschwerde damit hinreichend konkrete Rechtsfragen gestellt hat, denn sie leitet die angebliche Klärungsbedürftigkeit dieser Fragen aus der konkreten Behandlungssituation der Klägerin her (S 2 unten bis 4 der Beschwerdebegründung), ohne dass eine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung der gar nicht allgemein klärungsfähigen Fragen erkennbar wird. Soweit die Beschwerde behauptet, nach der Rechtsprechung des BSG seien "für die Beurteilung der Unaufschiebbarkeit ausschließlich medizinische Gründe von Bedeutung" (S 2 der Beschwerdebegründung), setzt sie sich nicht in der gebotenen Weise mit der Rechtsprechung des BSG auseinander. Dieses hat bereits geklärt, dass ein Kostenerstattungsanspruch mit dem Unvermögen der Krankenkasse zur rechtzeitigen Erbringung einer unaufschiebbaren Leistung begründet werden kann, wenn es dem Versicherten - aus medizinischen oder anderen Gründen - entweder nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse einzuschalten (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 22). Die Beschwerde legt nicht dar, dass die damit beantworteten Rechtsfragen klärungsbedürftig geblieben sind oder erneut klärungsbedürftig geworden sind; ihre Anwendung auf den konkreten Fall der Klägerin ergibt auch dann keine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit, wenn die Beschwerde mit der insoweit vom LSG vorgenommenen Beweiswürdigung nicht einverstanden ist, weil dieses die Unaufschiebbarkeit der Leistung im Ergebnis verneint hat.
2. Auch soweit die Beschwerde den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) geltend macht, genügt sie nicht den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie trägt hierzu vor, das BSG habe in seinem Urteil vom 19. Februar 2002 (B 1 KR 16/00 R) folgenden Rechtssatz aufgestellt: "Da die Klägerin vor der Inanspruchnahme der streitigen Leistung eine ablehnende Entscheidung der Beklagten herbeigeführt hat, kommt es auf das Merkmal der Unaufschiebbarkeit i.S.v. § 13 Abs. 3 in seiner ersten Variante nicht an." Dabei hatte es sich um einen schriftlichen Ablehnungsbescheid gehandelt. Das LSG habe folgenden, hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt: "Bereits die telefonische Ablehnung einer Kostenerstattung durch die Krankenkasse ohne genaue Bezeichnung der geplanten Behandlungsmaßnahme schließt die Unaufschiebbarkeit i.S.v. § 13 Abs. 3 SGB V aus." Das LSG habe damit "im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des BSG" die telefonische Ablehnungsmitteilung dahingehend gewertet, dass es auf das Merkmal der Unaufschiebbarkeit iS von § 13 Abs 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht mehr ankomme. - Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei den von der Beschwerde behaupteten Formulierungen jeweils um abstrakte Rechtssätze handelt. Jedenfalls zeigt sie mit diesen Ausführungen keinen abstrakten Rechtssatz auf, der im Urteil des LSG wörtlich oder zumindest sinngemäß tatsächlich enthalten ist. Die Beschwerde lässt auch nicht ansatzweise erkennen, in welchem Zusammenhang und an welcher konkreten Stelle das LSG diesen angeblichen Rechtssatz formuliert hat. Auf eine konkrete Bezeichnung des angeblichen Rechtssatzes des LSG iS einer Auffindbarkeit und Nachprüfbarkeit dieser angeblichen Aussage des LSG kann vorliegend nicht verzichtet werden, zumal das LSG den geltend gemachten Anspruch der Klägerin ausschließlich unter dem Aspekt der "Unaufschiebbarkeit der Leistung", dh der 1. Alternative des § 13 Abs 3 SGB V geprüft hat; es ist also gerade nicht davon ausgegangen, auf das Merkmal der Unaufschiebbarkeit iS von § 13 Abs 3 SGB V komme es nicht (mehr) an. Das LSG hat die Unaufschiebbarkeit nach einer Zusammenschau aller Umstände des Falles verneint; die 2. Alternative des § 13 Abs 3 SGB V lag aus seiner Sicht von vornherein nicht vor, weil die allein telefonische Ablehnung nach Auffassung des LSG die Unaufschiebbarkeit nicht ausschloss. Demgegenüber kam es im Fall des BSG entscheidungserheblich auf die Unaufschiebbarkeit nicht an, weil dort die 2. Alternative des § 13 Abs 3 SGB V (rechtswidrige Leistungsablehnung) eingriff (vgl BSG SozR 3-1500 § 92 Nr 12 S 66). Nach allem ist somit auch eine Divergenzlage nicht hinreichend dargetan.
Entsprechendes gilt, soweit die Beschwerde auf S 6 ihrer Begründung behauptet, das LSG habe folgenden weiteren Rechtssatz aufgestellt: "Sofern ein Versicherter bei einer stationären medizinischen Behandlung Gelegenheit hat, Behandlungsmöglichkeiten über eine andere notwendige medizinische Leistung in Erfahrung zu bringen und diese Gelegenheit nicht nutzt, kann es sich bei dieser weiteren Behandlung nicht um eine unaufschiebbare Leistung handeln." Auch insoweit legt die Beschwerde nicht dar, an welcher Stelle der Entscheidungsgründe es diese Aussage getroffen hat. Der Sache nach greift die Beschwerde mit ihrem Vorbringen die Beweiswürdigung des LSG an; dieses hat ua ausgeführt, dass der Klägerin ausweislich der dem LSG vorliegenden Befundunterlagen und Klinikberichte die Kliniken im Umkreis von S. /S., die den beabsichtigten Eingriff vornehmen konnten, bekannt waren. Die Zulassung der Revision kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht mit der Behauptung verlangt werden, das LSG habe gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verstoßen. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass die Beschwerde ausdrücklich eine Verletzung des § 128 SGG geltend macht, sondern auch dann, wenn sie ihre Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG in angebliche abstrakte Rechtssätze des LSG kleidet und diesen Sätzen Rechtssätze des BSG gegenüberstellt.
3. Schließlich sind auch die von der Klägerin behaupteten Verfahrensfehler nicht in der gebotenen Weise dargetan. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensfehler kann jedoch nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (sog Grundsatz der freien Beweiswürdigung) gestützt werden. Letzteres ist hier der Fall, soweit die Beschwerde dem LSG auf S 7 der Beschwerdebegründung vorwirft, es gehe von "falschen Tatsachenvoraussetzungen" aus.
Soweit die Beschwerde dem LSG vorwirft, es habe erstmals in den Entscheidungsgründen auf den Arztbericht des Prof. Dr. P. vom 7. August 1998 abgestellt, fehlt es ebenfalls an der Darlegung eines Verfahrensfehlers. Die Beschwerde behauptet, dieser Arztbericht sei nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen und auch außerhalb der mündlichen Verhandlung habe das LSG nicht darauf hingewiesen, dass es auf diesen entscheidungserheblich ankomme. - Die Klägerin hat insoweit keine Verfahrensfehler aufgezeigt, auf denen das LSG-Urteil beruhen kann. Der genannte Arztbrief befindet sich auf Bl 115/116 der LSG-Akten. Die Beschwerde macht nicht geltend, dass sie diesen Arztbrief nicht in Kopie erhalten hat, wie dies vom LSG verfügt worden war. Ebenso wenig legt die Beschwerde dar, dass das LSG-Urteil gerade auf den Ausführungen des Prof. Dr. P. beruhen kann. Das LSG hat insoweit ausgeführt: Auch die vom Chefarzt der Urologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses S. Prof. Dr. P. noch 1998 geäußerte Zurückhaltung gegenüber einer Operation hätte nach einer neuerlichen Untersuchung zumindest überprüft werden können. Die von der Klägerin behauptete Ablehnung einer Operation durch das Städtische Krankenhaus S. sei, bezogen auf die von ihr im September/Oktober 2000 behauptete Operationsnotwendigkeit, nicht belegt. Die Beschwerde bringt nicht mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck, was die Klägerin vorgetragen hätte, wenn ihr diese Bewertung des LSG bereits im Termin zur mündlichen Verhandlung bekannt gewesen wäre. Sie trägt zwar vor, das LSG habe der Klägerin den weiteren Nachweis abgeschnitten, dass Prof. Dr. P. tatsächlich der Klägerin gegenüber im Jahre 1998 eine weitere Operation abgelehnt habe und ihr dieser Arztbrief bis zum September/Oktober 2000 unbekannt gewesen sei. Es ist indessen nicht erkennbar und von der Beschwerde nicht dargetan, inwieweit ein auf diesen Umstand eingehendes weiteres Vorbringen der Klägerin die Entscheidung des LSG (keine Unaufschiebbarkeit der in einer Privatklinik durchgeführten Operation im Oktober 2000) hätte Auswirkungen haben können. Gleiches gilt für den Vortrag, die Klägerin habe entgegen den Feststellungen des LSG vom ablehnenden Bescheid nicht bereits am 10. Oktober 2000, sondern erst nach Durchführung der Operation Kenntnis genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen