Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung. mangelnde Rechtskenntnis
Orientierungssatz
Mangelnde Rechtskenntnis entschuldigt ein Fristversäumnis nämlich in der Regel nicht, gleichgültig, ob der Beteiligte durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten ist oder nicht. Das gilt insbesondere für Fragen, die - wie der Vertretungszwang im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vor dem BSG - bereits durch die Rechtsprechung geklärt sind.
Normenkette
SGG § 67 Abs 1; ZPO § 85 Abs 2; SGG §§ 160a, 166
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 30.07.1991; Aktenzeichen L 1 Kr 55/90) |
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Die Klägerin hat das Rechtsmittel verspätet eingelegt.
Wenn im Rahmen der Prozeßkostenhilfe ein nicht von der Prozeßpartei ausgewählter und noch nicht für sie tätig gewesener Rechtsanwalt beigeordnet wird, so beginnt die Frist für die Nachholung einer infolge des Prozeßkostenhilfeverfahrens versäumten fristgebundenen Rechtshandlung mit der Zustellung des Beiordnungsbeschlusses an den Antragsteller bzw die Antragstellerin persönlich (BSG SozR 1500 § 64 Nr 1). Der Beschluß des Senats über die Bewilligung der Prozeßkostenhilfe vom 23. Juli 1992 wurde der Klägerin am Donnerstag, dem 13. August 1992, durch Niederlegung beim Postamt Kiel 44 zugestellt. Zu diesem Zeitpunkt war die einmonatige Frist für die Einlegung der Beschwerde gegen das der Klägerin am 16. Mai 1992 zugestellte Urteil bereits abgelaufen. Deshalb hätte nach der Bewilligung der Prozeßkostenhilfe die Beschwerde bis zum 14. September 1992 (Montag) beim Bundessozialgericht (BSG) eingehen müssen. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Die durch den Beschluß des Senats vom 23. Juli 1992 der Klägerin beigeordnete Prozeßbevollmächtigte hat - ohne zuvor Beschwerde einzulegen - erst mit dem am 2. Oktober 1992 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 1. Oktober 1992 eine Begründung für die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben. Damit ist das versäumte Rechtsmittel nicht fristgerecht innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung der Prozeßkostenhilfeentscheidung nachgeholt worden.
Der Senat hat auch geprüft, ob der Klägerin wegen Versäumung dieser Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann. Das ist indessen zu verneinen. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden daran gehindert, die Frist einzuhalten (vgl dazu § 67 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Denn die Versäumung der Frist ist auf ein der Klägerin zuzurechnendes (vgl § 85 Abs 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 SGG) Verschulden ihrer Prozeßbevollmächtigten zurückzuführen. Die Prozeßbevollmächtigte geht im Schriftsatz vom 1. Oktober 1992 davon aus, daß die Klägerin bereits form- und fristgerecht gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde eingelegt habe. Die Klägerin konnte aber ohne einen beim BSG zugelassenen Bevollmächtigten (vgl § 166 SGG; BSG SozR 1500 § 166 Nr 1 und § 160 Nr 44) nicht selbst formgerecht eine Nichtzulassungsbeschwerde erheben. Dies hätte die Prozeßbevollmächtigte als Rechtsanwältin wissen müssen. Selbst wenn sie sich hierüber im Irrtum befunden haben sollte, kann der Senat der Klägerin deswegen keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren. Mangelnde Rechtskenntnis entschuldigt ein Fristversäumnis nämlich in der Regel nicht (vgl BVerwG in Buchholz 310 § 60 VwGO Nr 58 = NJW 1970, 773 und Buchholz 310 § 60 VwGO Nr 109; BVerwGE 66, 297, 313), gleichgültig, ob der Beteiligte durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten ist oder nicht. Das gilt insbesondere für Fragen, die - wie hier der Vertretungszwang im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vor dem BSG - bereits durch die Rechtsprechung geklärt sind (BVerwG in Buchholz 448.0 § 34 WPflG Nr 24). Von einem Rechtsanwalt wird erwartet, daß er sich über die einschlägigen Entscheidungen informiert.
Ein ausreichender Entschuldigungsgrund kann auch nicht darin gesehen werden, daß der Prozeßbevollmächtigten nicht der Schriftsatz der Klägerin vom 21. Mai 1992 im Rahmen der Akteneinsicht überlassen worden war. Die Prozeßbevollmächtigte hat am 24. August 1992 die Akten zur Einsicht erhalten und sie am 1. September 1992 zurückgegeben. Sie hätte somit noch innerhalb der einmonatigen Frist merken können, daß die ihr zur Einsicht vorliegenden Akten nicht vollständig waren. Jedenfalls durfte sie nach dem Inhalt der ihr überlassenen Aktenteile nicht davon ausgehen, daß bereits formgerecht Beschwerde eingelegt worden war.
Der erkennende Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von dem Beschluß des BSG vom 22. November 1977 (- 3 RK 60/77 - SozR 1500 § 67 Nr 10) ab. In dieser Entscheidung hat der 3. Senat zwar angenommen, daß das Verschulden eines durch das Gericht ausgewählten Rechtsanwalts an der Versäumung der Nachholfrist zur Einlegung der Revision nach Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung dieses Anwalts nicht zu Lasten des Beteiligten gehe. Er hat jedoch auch die Frage angesprochen, ob von diesem Grundsatz eine Ausnahme zu machen ist, wenn der Vertretene nach der Beiordnung des vom Gericht ausgesuchten Rechtsanwalts die Möglichkeit hatte, einen anderen Anwalt zu benennen. In dem vom 3. Senat entschiedenen Fall ist zwar keine Ausnahme von dem Grundsatz der Nichtzurechenbarkeit des Verschuldens eines beigeordneten Anwalts gemacht worden, weil der Antragsteller es "aus verständlichen Gründen" - wegen eines Krankenhausaufenthalts - unterlassen hatte, einen Anwalt seines Vertrauens zu benennen. Im vorliegenden Falle bestanden für die Klägerin jedoch insoweit keine Hinderungsgründe, rechtzeitig das Gericht um die Beiordnung eines anderen Prozeßbevollmächtigten zu bitten. Sie hat den hier maßgeblichen (vgl dazu BGHZ 7, 280, 285 und 38, 376, 379; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, Kommentar, 47. Aufl, Anm 3 B a unter Hinweis auf BGH VersR 82, 950) Auftrag zu ihrer Vertretung in dem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren bereits mit Schreiben vom 8. August 1992 - bei der Prozeßbevollmächtigten eingegangen am 11. August 1992 - erteilt. In diesem Schreiben deutet die Klägerin - weil sie mit der bisherigen Art der Information nicht zufrieden ist - sogar selbst die Möglichkeit einer Entpflichtung der beigeordneten Rechtsanwältin durch das Gericht an. Wenn sie dann von dieser Möglichkeit innerhalb der ab 13. August 1992 laufenden Frist zur Nachholung der versäumten Rechtshandlung keinen Gebrauch gemacht hat, muß sie sich das schuldhafte Unterlassen einer fristgerechten Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde durch die von ihr beauftragte Rechtsanwältin zurechnen lassen.
Im übrigen läßt der beschließende Senat ausdrücklich offen, ob nicht - anders als dies der 3. Senat des BSG in seinem Beschluß vom 22. November 1977, aaO, angenommen hat - mit der Erteilung des Vertretungsauftrags an den beigeordneten Rechtsanwalt ausnahmslos die Folgen des § 85 Abs 2 ZPO verbunden sind, dh ein Verschulden des Vertreters dem Vertretenen stets zugerechnet werden muß. Das Gesetz sieht jedenfalls eine Ausnahme von § 85 Abs 2 ZPO, wie sie der 3. Senat gemacht hat, nicht ausdrücklich vor. Diese Frage konnte indessen unentschieden bleiben, weil der Klägerin auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des 3. Senats die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen war.
Der Senat hat die danach nicht formgerechte und damit unzulässige Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5; s auch BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 30) durch Beschluß ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter verworfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen