Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Verschulden des Prozessbevollmächtigten. Vorliegen von außergewöhnlichen persönlichen Gründen im familiären Umfeld
Orientierungssatz
Sorgen um Familienangehörige können die Konzentrationsfähigkeit des Prozessbevollmächtigten zB bei der Berechnung einer Frist beeinträchtigen, reichen jedoch grundsätzlich nicht aus, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Wenn es maßgeblich auf die subjektive Reaktion des Prozessbevollmächtigten auf Umstände ankäme, die in seinem familiären Umfeld liegen und nicht weiter objektiviert werden können, verlören Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen weithin ihre Bedeutung.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1, § 64 Abs. 1-2, § 73 Abs. 6 S. 7, § 164 Abs. 2 S. 1; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. Februar 2017 wird als unzulässig verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten auch des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5000 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin ist Eigentümerin eines Tankschiffes, das bis 23.11.2011 die deutsche, dann bis 20.3.2013 die Flagge Liberias und seither wieder die deutsche Bundesflagge führte. Sie beschäftigte auf diesem Schiff angestellte Seeleute, darunter den Beigeladenen zu 1. als Kapitän. Die Klägerin erbat von der Berufsgenossenschaft für Verkehr (BG) eine Stellungnahme zur Versicherungspflicht in der Unfallversicherung. Die BG leitete diese Bitte an die beklagte Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See als Einzugsstelle weiter. Diese stellte die "Versicherung kraft Ausstrahlung" des Beigeladenen zu 1. in allen Zweigen der Sozialversicherung fest; für die Zeit der Ausflaggung (24.11.2011 bis 23.11.2013) liege eine ebenfalls zur Sozialversicherungspflicht führende Entsendung vor (Bescheid vom 15.5.2012, Widerspruchsbescheid vom 16.1.2013). Das SG Bremen hat diese Entscheidung wegen fehlender Zuständigkeit der Beklagten aufgehoben (Gerichtsbescheid vom 27.11.2014). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die angefochtene Entscheidung der Beklagten sei formell und materiell rechtmäßig, insbesondere sei die Beklagte auf der Grundlage des § 28h Abs 2 S 1 iVm § 4 Abs 1 SGB IV auch hinsichtlich der Feststellung der Versicherungspflicht in der Unfallversicherung zuständig gewesen.
Das Urteil des LSG vom 28.2.2017 ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis vom 24.3.2017 zugestellt worden. Er hat mit Schreiben vom 21.4.2017, das beim BSG am 24.4.2017 eingegangen ist, die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Der Berichterstatter hat den Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 14.6.2017 darauf hingewiesen, dass die Frist zur Begründung der Revision am 24.5.2017 abgelaufen ist. Der Prozessbevollmächtigte, dem dieser Hinweis am 22.6.2017 zugegangen ist (Empfangsbekenntnis), hat mit am 26.6.2017 beim BSG eingegangenem Schreiben vom 23.6.2017 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die am 24.5.2017 abgelaufene Frist zur Begründung der Revision beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, das Versäumnis sei durch "außergewöhnliche persönliche Umstände verursacht worden (akute Herzklappenerkrankung meines Sohnes mit notwendiger Operation)". Er habe sich in der dadurch hervorgerufenen Anspannung den 24.6.2017 als Termin zur Begründung der Revision notiert und den anliegenden Schriftsatz zur Begründung der Revision für dieses Datum vorbereitet und den Fehler erst durch den ihm am 22.6.2017 eingegangenen Hinweis des Gerichts bemerkt.
II. 1. Die Revision ist unzulässig. Sie ist nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Frist begründet worden.
Nach § 164 Abs 2 S 1 SGG ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht rechtzeitig geschehen. Die Revisionsbegründung ist erst am 26.6.2017 und damit nach Ablauf der Zweimonatsfrist beim BSG eingegangen; diese begann am Tag nach der am 24.3.2017 erfolgten Zustellung des Berufungsurteils gemäß § 64 Abs 1 SGG zu laufen und endete gemäß § 64 Abs 2 SGG mit dem Ablauf des 24.5.2017 (Mittwoch).
2. Der Antrag der Klägerin, ihr wegen Versäumens der Revisionsbegründungsfrist nach § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ist abzulehnen. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Sie muss sich nach § 73 Abs 6 S 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen.
a) Bei der Prüfung von Wiedereinsetzungsgründen ist zu berücksichtigen, dass das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör, das in Art 103 Abs 1 GG garantiert ist, in einem funktionellen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie steht. Die Gerichte dürfen durch ihre Auslegung und Anwendung des Prozessrechts den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Daher dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl BAG Urteil vom 7.11.2012 - 7 AZR 314/12; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 26.2.2008 - 1 BvR 2327/07 - Juris RdNr 22 mwN, NJW 2008, 2167).
Eine (eigene) Krankheit kann das Verschulden einer Fristversäumnis entfallen lassen. Jedoch ist dies nur dann der Fall, wenn die Erkrankung in verfahrensrelevanter Form Einfluss auf die Entschluss-, Urteils- und Handlungsfähigkeit des Beteiligten hat. Die Erkrankung muss demnach so schwer sein, dass der Beteiligte selbst nicht handeln kann und auch zur Beauftragung eines Dritten nicht in der Lage ist (vgl BSG Beschluss vom 20.1.1989 - 5 BJ 281/88 - Juris RdNr 3; Senger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 67 RdNr 48). Auch eine stressbedingte Arbeitsüberlastung eines Rechtsanwaltes ohne Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit kann Verschulden ausräumen; dies setzt allerdings voraus, dass sie plötzlich und unvorhergesehen eingetreten und die Fähigkeit zu konzentrierter Arbeit erheblich eingeschränkt ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 67 RdNr 7c; BAG Urteil vom 7.11.2012 - 7 AZR 314/12 - Juris RdNr 32 zu einem Fall, in dem der Prozessbevollmächtigte darlegt, dass er aufgrund einer ständig schwerer werdenden Depression unter einer Antriebslosigkeit gelitten habe und zunehmend nur noch unter großer und extremer Überwindung in der Lage gewesen sei, kurzzeitig einzelne berufliche und auch private Tätigkeiten wahrzunehmen).
b) Derartige Umstände und Gründe hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht vorgetragen. Zwar können Sorgen um Familienangehörige die Konzentrationsfähigkeit zB bei der Berechnung einer Frist beeinträchtigen. Damit ist die Schwelle, ab der zur Fristversäumnis führende Ereignisse in der Sphäre des Rechtsanwaltes größeres Gewicht zukommt als dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit (Eintritt von formeller Rechtskraft), aber nicht erreicht. Käme es maßgeblich auf die subjektive Reaktion des Prozessbevollmächtigten auf in seinem familiären Umfeld liegende Umstände an, die nicht - wie zB eine Depression oder schwere physische Erkrankung - weiter objektiviert werden können, verlören Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen weithin ihre Bedeutung.
Schließlich hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auch nicht vorgetragen, weshalb er in der für ihn offenbar belastenden Situation bis zu deren Beruhigung innerhalb der einmonatigen Frist nicht vorsorglich einen Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist (vgl § 164 Abs 2 S 2 SGG) gestellt hat oder weshalb er nicht einen Kollegen mit der weiteren Bearbeitung fristgebundener Sachen beauftragt hat.
Auch trägt er nicht vor, warum er trotz der vorgetragenen akuten Situation und seiner damit einhergehenden Anspannung bedeutende Handlungen (vorliegend das Notieren eines Fristendes) vorgenommen hat und warum er diese Handlungen nach dem Abklingen der akuten Situation nicht innerhalb der einmonatigen Frist auf mögliche Fehler hin überprüft hat.
3. Die nicht in der gesetzlichen Frist begründete Revision ist durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 169 S 2 und 3 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 2 und § 162 Abs 3 VwGO.
5. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 52 Abs 1 und 2, § 47 Abs 1 S 1 sowie § 63 Abs 2 S 1 GKG.
Fundstellen
NZS 2018, 909 |
info-also 2019, 44 |