Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage. Klärungsbedürftigkeit. Unfallversicherungsschutz Strafgefangener bei Arbeitseinsatz in der ehemaligen DDR
Leitsatz (redaktionell)
1. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache als Revisions(zulassungs)grund lässt sich nur darlegen, indem die Beschwerdebegründung ausführt, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (stRspr; vgl. BSG SozR 1500 § 160a Nrn. 31, 60 u. 65; SozR 3-1500 § 160a Nr 16).
2. Die Klärungsbedürftigkeit ist u.a. dann zu verneinen, wenn die Antwort der aufgeworfenen Rechtsfrage unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (stRspr; vgl. BSG SozR 1300 § 13 Nr. 1).
3. Die Frage des Unfallversicherungsschutzes Strafgefangener während eines Arbeitseinsatzes zu DDR-Zeiten ergibt sich eindeutig bejahend aus dem Gesetz, nämlich aus §§ 6, 38 Strafvollzugsgesetz der DDR (StVG DDR) i.d.F.v. 07.04.1977.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1; StVG DDR § 6 Abs. 2; StVG DDR § 38
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. September 2002 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) gerichtete, auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und des Verfahrensmangels gestützte Beschwerde ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 34, 47 und 58; vgl hierzu auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl, 2002, IX, RdNr 177 und 179 mwN). Daran mangelt es hier.
Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muss nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diese grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden. Hierzu ist zunächst darzulegen, welcher konkreten abstrakten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11). Denn die Zulassung der Revision erfolgt zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen und nicht zur weiteren Entscheidung des Rechtsstreits. Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 181). Dazu ist erforderlich, dass ausgeführt wird, ob die Klärung dieser Rechtsfrage grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Insbesondere hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig, also zweifelhaft, und klärungsfähig, mithin rechtserheblich ist, so dass hierzu eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu erwarten ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Zur Klärungsfähigkeit gehört auch, dass die Rechtsfrage in einem nach erfolgter Zulassung durchgeführten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (BSG Beschluss vom 11. September 1998 – B 2 U 188/98 B –).
Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65) oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (BSG SozR 1300 § 13 Nr 1), wenn sie so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie praktisch außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort in anderen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 und § 160 Nr 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 66). Die Klärungsbedürftigkeit ist schließlich nicht gegeben, wenn die Rechtsfrage nicht mehr geltendes Recht betrifft und nicht erkennbar wird, dass noch eine erhebliche – genau zu bezeichnende – Anzahl von Fällen nach diesen Vorschriften zu entscheiden sind (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 19; Beschlüsse des Senats vom 15. September 1986 – 2 BU 104/86 –, vom 23. August 1996 – 2 BU 149/96 –, vom 26. Oktober 1998 – B 2 U 252/98 B – nachfolgend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 2000 – 1 BvR 2198/98 – sowie vom 29. April 1999 – B 2 U 178/98 B – HVBG-Info 1999, 2943; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 187) oder dass die Rechtsfrage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 58; Beschlüsse des BSG vom 26. November 1996 – 3 BK 4/96 –, 31. März 1999 – B 7 AL 170/98 B – und 6. Mai 1999 – B 11 AL 209/98 B –).
Die Beklagte hält die Frage für eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, „ob Strafgefangene während des Arbeitseinsatzes zu DDR-Zeiten zum Kreis der in der Sozialversicherung der ehemaligen DDR versicherten Personen gehörten und Unfälle beim Arbeitseinsatz entsprechend Arbeitsunfälle nach DDR-Recht waren, oder ob sich unabhängig von dieser Frage bereits aus §§ 6 Abs 2, 3 und 38 StVG ergibt, dass Unfälle von Strafgefangenen während des Arbeitseinsatzes zu DDR-Zeiten als Arbeitsunfälle nach den Vorschriften der ehemaligen DDR zu werten waren, mit der Folge, dass im Rahmen des doppelten Prüfrechts entsprechende Unfälle auch nach dem Recht des Dritten Buches der RVO zu entschädigen sind”. Diese Frage habe über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung, da allein bei ihr – der Beklagten – noch zahlreiche Parallelfälle anhängig seien. Die aufgezeigte Frage sei klärungsbedürftig, weil das BSG zu diesem Problemkreis bisher noch nicht Stellung genommen habe. Ihre Beantwortung ergebe sich auch nicht zweifelsfrei aus dem Gesetz selbst. Sie sei schließlich in einem anschließenden Revisionsverfahren auch klärungsfähig und entscheidungserheblich.
Die Beschwerdebegründung der Beklagten entspricht nicht den dargestellten besonderen Anforderungen an die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage. Entgegen der bloßen Behauptung der Beklagten steht die Beantwortung der Rechtsfrage praktisch außer Zweifel, weil sie sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Der Unfall des Klägers vom 27. Dezember 1985 während eines Arbeitseinsatzes im Rahmen seiner Strafhaft war Arbeitsunfall der Sozialversicherung der DDR. Durch das Strafvollzugsgesetz der DDR (StVG) vom 7. April 1977 (GBl I Nr 11 S 109) wurde ein Unfallversicherungsschutz während der Haft eingeführt. Dies ergibt sich eindeutig aus den vom LSG angezogenen Vorschriften der §§ 6 und 38 StVG (vgl Beschluss des Thüringer LSG vom 25. Februar 2002 – L 1 U 92/01 – HVBG-Info 2002, 2053). Die unter Hinweis auf die Rechtsauffassungen der für die Strafgefangenen zuständigen Unfallversicherungsträger in den Ländern Sachsen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern durch die Beklagte vertretene gegenteilige Auffassung erschließt sich dem Senat weder aus den Ausführungen in ihrer Beschwerdebegründung noch aus ihren Schriftsätzen im Berufungsverfahren.
Soweit die Beklagte als Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend macht, das LSG hätte ihrem Vertagungsantrag entsprechen müssen und nicht entscheiden dürfen, hat sie diesen Verfahrensfehler nicht schlüssig dargelegt. Ihrem weiteren Vorbringen ist zu entnehmen, dass einer ihrer Mitarbeiter auf telefonische Anfrage des LSG der Entscheidung nach einer Verhandlung ohne Beteiligung der Beklagten zugestimmt habe und hilfsweise den Antrag gestellt habe, die Revision zuzulassen. Zwar macht die Beklagte weiter geltend, der betreffende Mitarbeiter sei mit dem Prozessstoff überhaupt nicht vertraut gewesen. Sie hat indes weiter weder vorgetragen, dass dieser Mitarbeiter zur Abgabe der zitierten Erklärung nicht befugt gewesen sei, noch dass dem entscheidenden Senat des LSG dieser Umstand bekannt gewesen sei.
Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen