Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Devolutionseffekt
Orientierungssatz
1. Die Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist von einer klärungsbedürftigen und klärbaren Rechtsfrage abhängig.
2. Soweit die Klägerin mit ihrer Berufungsbegründung mehr als zuletzt vor dem SG begehrt, kann die Sache nicht beim Berufungsgericht anfallen (Devolutionseffekt).
Normenkette
SGG § 160 Abs 2 Nr 1, § 157
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 24.11.1987; Aktenzeichen L 4 V 1157/86) |
Gründe
Die Revision ist nicht durch das Bundessozialgericht (BSG) zuzulassen; denn die Klägerin hat mit ihrer Beschwerde keinen der Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erfolgreich geltend gemacht.
Die von der Klägerin vorgetragenen Gründe für eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) vermögen die Revision nicht zu eröffnen. Über die Rechtsfragen, ob § 44 Abs 4 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren - SGB X - (auf vier Jahre beschränkte Rückwirkung eines Zugunstenbescheides) auch dann mit dem Grundgesetz (GG), besonders mit Art 14 GG vereinbar ist, wenn ein Verwaltungsakt nach § 44 Abs 1 SGB X zurückgenommen wird (vgl dazu st Rspr des BSG, BSGE 60, 158, 161 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23 mwN), ob die unterschiedliche Behandlung der Rücknahmen nach Abs 1 und 2 des § 44 SGB X in Abs 4 gegen Art 3 Abs 1 GG verstößt und nach welchem Antrag die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 Satz 3 SGB X zu rechnen ist, hat das Landessozialgericht (LSG) nicht entschieden, weil es die Berufung als unzulässig verworfen hat (§ 158 Abs 1 SGG). Damit ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ausgeschlossen, die von einer klärungsbedürftigen und klärbaren Rechtsfrage abhängt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 39). Auch auf eine Revision wären die bezeichneten Fragen nicht zu beantworten. Das Revisionsgericht wäre daran durch das Prozeßurteil des Berufungsgerichts gehindert.
Entgegen der Auffassung der Klägerin beruht das Berufungsurteil nicht auf den gerügten Verfahrensfehlern als Zulassungsgründen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so daß eine Revision nicht zuzulassen ist.
Das LSG hatte nicht in der Sache selbst zu entscheiden. Die Berufung war vielmehr nach § 148 Nr 2 SGG ausgeschlossen und war nicht nach § 150 Nr 2 SGG wegen eines erfolgreich gerügten Fehlers im Verfahren der ersten Instanz zuzulassen.
Die Berufung betraf ausschließlich einen Anspruch auf Witwen-Schadensausgleich (§ 40a Bundesversorgungsgesetz -BVG-) für bereits abgelaufene Zeiträume (§ 148 Nr 2 SGG), dh für eine Zeit vor der vierjährigen Rückwirkung des Rücknahmebescheides (§ 44 Abs 4 SGB X), und zwar für die Zeit von Januar 1967 bis Ende 1972, nachdem der Beklagte entsprechend dem Urteil des LSG Niedersachsen vom 26. November 1982 und dem Vergleich vom 26. März 1984 (S-1/V 3/84) der Klägerin einen höheren Schadensausgleich ab Januar 1973 zuerkannt hatte (Bescheid vom 8. Januar 1985). Die Klägerin konnte nicht dadurch, daß sie mit einer Verweisung auf Teile ihrer schriftlichen Klagebegründung vom 20.April 1985 im Berufungsbegründungsschriftsatz vom 23. August 1986 ihr Berufungsbegehren gegenüber dem Streitstand des ersten Rechtszuges, wie es sich am Ende der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) darstellte, erweiterte, die Berufung wirksam zulässig machen. Soweit die Klägerin mit ihrer Berufungsbegründung mehr als zuletzt vor dem SG begehrte, konnte die Sache nicht beim Berufungsgericht anfallen (Devolutionseffekt - BSG SozR Nr 96 zu § 54). Gegenstand der Berufung wird grundsätzlich nicht mehr und nichts anderes als der Streitgegenstand der ersten Instanz, über den das SG entschieden hat (§ 157 SGG). Soweit die Klägerin mit der Berufungsbegründung andere Ansprüche als den zuvor bezeichneten Anspruch auf Schadensausgleich für die Vergangenheit geltend machte, war die Sache schon seit der mündlichen Verhandlung vor dem SG nicht mehr rechtshängig (§ 94 Abs 1, § 95 SGG). Entsprechend dem zuletzt erhobenen Anspruch (§§ 123, 112 Abs 2 Satz 2 SGG) hat das SG allein über einen Schadensausgleich für vergangene Zeiträume entschieden und hatte auch nur darüber zu befinden. Da das Urteil nicht über weitergehende Ansprüche ergangen ist, könnte hinsichtlich desselben keine Rechtskraft eintreten (§ 141 Abs 1 SGG), falls insoweit die Klägerin keine Berufung eingelegt hätte. Die Rechtshängigkeit der Klagen auf weitergehende Ansprüche hatte die Klägerin durch ihre Klagerücknahme, das Gegenstück zur Klageerhebung, im Rahmen ihrer Gestaltungsfreiheit in der mündlichen Verhandlung beseitigt; insoweit wurde die Hauptsache erledigt (§ 102 Satz 1 und 2 SGG). Insoweit konnte die Klägerin auch durch das Urteil des SG nicht beschwert sein; eine Beschwer ist aber eine unerläßliche Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels (st Rspr, zB BSGE 9, 80, 82 f; 11, 26, 27; 11, 161, 162 ff; SozR 3870 § 3 Nr 13). Wenn die Klägerin die Rücknahme der Klage nicht gegen sich gelten lassen will, so bleibt es ihr unbenommen, dies unter Fortsetzung des vor dem SG anhängig gewesenen Rechtsstreits geltend zu machen (BSG SozR 1500 § 102 Nr 2; vgl auch 1500 § 102 Nr 4). Das SG hat im angefochtenen Urteil noch nicht darüber entschieden, ob die Klagerücknahme wirksam war.
Bei dieser Verfahrenslage war ein Verfahrensfehler der ersten Instanz durch Übergehen von geltend gemachten Ansprüchen ausgeschlossen. Damit stellt sich nicht die Frage, ob ein bewußt vom SG übergangener Anspruch vom LSG zu prüfen ist (dazu BSG SozR 5310 § 6 Nr 2). Das SG hat auch nicht unzulässigerweise bloß ein Teilurteil erlassen.
Das Berufungsurteil beruht nicht auf dem Verfahrensfehler, daß das LSG versäumt hätte, das persönliche Erscheinen der Klägerin anzuordnen und ihr Begehren klarzustellen sowie einen sachdienlichen Antrag stellen zu lassen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 iVm § 111 Abs 1 und § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG). Aus den genannten Gründen war ein evtl weitergehendes Begehren der Klägerin im Berufungsverfahren nicht rechtserheblich.
Schließlich hat das LSG nicht § 153 Abs 1 iVm § 96 SGG dadurch verletzt, daß es über verschiedene von der Klägerin bezeichnete Verwaltungsakte nicht entschieden hat (zu Bescheiden während des Berufungsverfahrens: BSGE 18, 231, 234 f; SozR Nr 23 zu § 96 SGG). Die Bescheide über Zinsansprüche vom 25. Februar 1984 (Widerspruchsbescheid vom 26. März 1985) und vom 7. März 1985 waren durch die Verbindung der gegen sie gerichteten Klagen (S-1/V-62/85 und 52/85) mit dem Rechtsstreit über Schadensausgleich für die Vergangenheit (S-1/V-26/85) Gegenstand dieses Verfahrens geworden (§ 113 Abs 1 SGG), aber infolge der schon erörterten Klagerücknahme bereits zuletzt im ersten Rechtszug nicht mehr angefochten. Die während des Verfahrens vor dem SG ergangenen Bescheide vom 12. Mai 1986 und vom 7. Juni 1986 sowie der während des Berufungsverfahrens erlassene Bescheid vom 5. Dezember 1986, die Neufeststellungen der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Einkommensverhältnisse oder der gesetzlichen Rentenbeträge betrafen, sind durch gesonderte Klagen beim SG angefochten worden (S-1/V 319/86, 384/86 und 3/87). Ob das auch für den Bescheid vom 7. Juni 1985 und vom 3. Juni 1987, die ebenfalls Verwaltungsakte dieser Art nach § 48 SGB X waren, zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Alle diese Verwaltungsakte änderten oder ersetzten (bestätigten) nicht den in diesem Rechtsstreit allein noch angefochtenen Bescheid über rückwirkende Gewährung von Schadensausgleich iS des § 96 Abs 1 SGG mit der Folge, daß sie kraft dieser Vorschrift, also unabhängig von Anträgen der Klägerin und einer Klageerhebung Gegenstand dieses Prozesses geworden wären. Sie ergänzten auch nicht den angefochtenen Verwaltungsakt für eine spätere Zeit mit demselben Regelungsgehalt mit der Folge, daß sie entsprechend § 96 Abs 1 SGG kraft Gesetzes in das rechtshängige Verfahren einbezogen worden wären. Ihr entscheidender Teil (§ 31 SGB X) beschränkte sich jeweils auf die Anpassung an veränderte Verhältnisse und bestätigte auch nicht mittelbar den Regelungsgehalt des Bescheides über einen rückwirkenden Schadensausgleich entsprechend einem Durchschnittseinkommen nach der Besoldungsgruppe A15, die rechtsverbindliche Grundlage der Anpassungen (BSG SozR 1300 § 45 Nr 25; BSG 13. Juli 1988 - 9/9a RV 34/86 -). Ungeachtet dessen, daß die Wirkung des § 96 Abs 1 SGG auch im Verhältnis zu einer nicht berufungsfähigen Regelung eintreten kann (st Rspr des BSG, zB SozR Nr 23 zu § 96 SGG, 1500 § 146 Nr 14 und § 96 Nr 7), enthalten die neuen Bescheide nicht die gleiche Regelung wie der angefochtene Teil des Verwaltungsaktes über Schadensausgleich für die Vergangenheit (vgl zur weiten Auslegung des § 96 Abs 1 SGG: BSG SozR 1500 § 96 Nr 4; zu Dauerrechtsverhältnissen: BSGE 37, 93, 94 = SozR 3660 § 2 Nr 1; BSGE 47, 201, 202 f = SozR 1500 § 96 Nr 14). Die der Anpassung zugrundeliegende Einstufung in eine Besoldungsgruppe zur Bestimmung des Vergleichseinkommens mußte als rechtsverbindlich hingenommen werden und war nicht nochmals zu regeln (BSGE 42, 283, 284 = SozR 3100 § 40a Nr 4). Ein solcher der selbständigen Rechtsverbindlichkeit fähiger Teil eines Verwaltungsaktes (BSGE 42, 283, 284 ff) war deshalb nicht ein von der Klägerin angefochtener Teil des Bescheides vom 8. Januar 1985, weil die Einstufung in eine bestimmte Besoldungsgruppe bereits rechtskräftig (§ 141 Abs 1 SGG) durch das LSG Niedersachsen im Urteil vom 26. November 1982 vorgenommen worden war; dem Beklagten wurde aufgegeben, den Schadensausgleich der Klägerin gemäß § 4 Abs 3 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 ff BVG zu berechnen. Damit stand nach dem Grundsatz der Pauschalierung des Berufs- und des Witwenschadensausgleichs (BSGE 33, 60, 62 = SozR Nr 47 zu § 30 BVG) die Höchstbemessung nach dem Durchschnittseinkommen der Besoldungsgruppe A15 fest, wie durch die ständige Rechtsprechung des BSG bestätigt worden ist (zB SozR Nr2 zu § 4 DVO zu § 30 Abs 3 und 4 BVG 1968 mwN; vgl auch BVerfGE 26, 16, 30 ff). Die ergänzende Rechtsgrundlage des Bescheides vom 8. Januar 1985, der Vergleich vom 26. März 1984, betraf allein die Rückwirkung, so daß in dem genannten Verwaltungsakt das Durchschnittseinkommen mit einer bestimmten Besoldungsgruppe (A15) nicht mehr neu geregelt wurde.
Nach alledem mußte die Beschwerde der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.
Fundstellen