Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Kostenfestsetzung nach Widerspruchsverfahren. Anwendbarkeit des § 64 Abs 1 S 1 SGB 10

 

Orientierungssatz

1. § 64 Abs 1 S 1 SGB 10 ist auf Verfahren nach dem AsylbLG nicht unmittelbar anwendbar. Das AsylbLG ist kein Teil des Sozialgesetzbuchs und gilt auch nicht über die Regelung des § 68 SGB 1 als dessen besonderer Teil. Darüber hinaus fehlt es an einem besonderen Anwendungsbefehl. § 9 Abs 4 AsylbLG sieht nur die entsprechende Anwendung der §§ 44 bis 50, 99 und 102 bis 114 SGB 10 vor.

3. Eine analoge Anwendung des § 64 SGB 10 scheidet mangels (unbewusster) planwidriger Regelungslücke aus. Der Gesetzgeber hat mit dem AsylbLG bewusst ein eigenständiges Leistungssystem außerhalb des Sozialgesetzbuchs mit nur punktuell angeordneter entsprechender Anwendbarkeit des SGB 10 geschaffen und an diesem Konzept auch bei späteren Gesetzesänderungen stets festgehalten.

 

Normenkette

SGB X § 64 Abs. 1 S. 1; SGB I § 68; AsylbLG § 9 Abs. 4

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 23.03.2017; Aktenzeichen L 8 AY 40/13)

SG Hildesheim (Urteil vom 12.04.2013; Aktenzeichen S 12 AY 184/10)

 

Tenor

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zur Hälfte zu erstatten.

 

Gründe

I. Im Streit war die Berechtigung des Beklagten, für eine Entscheidung über einen Widerspruch Kosten nach dem Niedersächsischen Verwaltungskostengesetz (NVwKostG) zu erheben, die gesondert festgesetzt werden sollten (Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010).

Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat die allein angefochtene Kostenentscheidung aufgehoben, weil das Verfahren nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in analoger Anwendung des § 64 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) kostenfrei sei (Urteil vom 12.4.2013). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat die Berufung des Beklagten verworfen; ihr fehle mangels materieller Beschwer das Rechtsschutzinteresse, weil ein etwaiger Kostenanspruch nach § 8 NVwKostG wegen Verjährung erloschen sei (Urteil vom 23.3.2017). Dagegen wandte sich der Beklagte mit seiner Revision. Der Kläger hat im Revisionsverfahren seine Klage auf die Feststellung beschränkt, dass der Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010 rechtswidrig war, hilfsweise sich erledigt hat. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der allein erschienene Beklagte das Verfahren für erledigt erklärt und eine Kostenentscheidung beantragt.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zur Hälfte zu erstatten. Die einseitige Erledigungserklärung des Beklagten ist als Rücknahme der Revision (§ 165 Satz 1 iVm § 156 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgerichtsgesetz ≪SGG≫; zur entsprechenden Anwendbarkeit des § 156 Abs 1 SGG vgl zB Reichel, SGb 2015, 549) anzusehen, da sie in einem wie hier nach § 183 SGG kostenfreien Verfahren keine eigenständige, insbesondere kostenrechtliche Bedeutung hat (zur Klagerücknahme vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ Beschluss vom 29.12.2005 - B 7a AL 192/05 B - juris RdNr 6 f mwN). Der Einwilligung des Klägers bedurfte es hierfür nicht (§ 156 Abs 1 Satz 2 SGG).

Auf Antrag des Beklagten ist durch Beschluss zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben (§ 165 Satz 1 iVm § 156 Abs 3 Satz 2, § 193 Abs 1 Satz 3 iVm Satz 1 SGG), wobei die Aufwendungen des Beklagten nicht erstattungsfähig sind (§ 193 Abs 4 SGG). Die Entscheidung erfolgt nach sachgemäßem bzw billigem Ermessen, bei der grundsätzlich der nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung des Rechtsstreits zu beurteilende Verfahrenserfolg im Vordergrund steht, bei ungewissem Ausgang die hälftige Kostenerstattung in Betracht kommt, aber auch die Gründe für die Einlegung des Rechtsmittels und die Erledigung des Rechtsstreits berücksichtigt werden können (vgl zB BSG Beschluss vom 13.12.2016 - B 4 AS 14/15 R - juris RdNr 7 mwN und Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 193 RdNr 13 mwN; zur übereinstimmenden Erledigungserklärung in der Hauptsache, die anders als hier die Kosten aller Rechtszüge erfasst, vgl nur BSG Beschlüsse vom 3.5.2018 - B 8 SO 44/17 B und B 8 SO 45/17 B - jeweils juris RdNr 2 f mwN). Danach entspricht es billigem Ermessen, dem Beklagten die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Revisionsverfahren aufzuerlegen, da zwar Anlass für die Einlegung der Revision bestand, indes deren Erfolg in der Sache mangels hinreichender Feststellungen zum Landesrecht ungewiss war.

Die Berufung des Beklagten war zulässig. Sie scheiterte nicht an der fehlenden Beschwer. Der Beklagte war durch das SG-Urteil schon dadurch beschwert, dass er erstinstanzlich mit seinem Begehren auf Klageabweisung unterlegen gewesen ist (sog formelle Beschwer, vgl zB BSGE 36, 62, 63 = SozR Nr 5 zu § 562 Reichsversicherungsordnung ≪RVO - insoweit nicht abgedruckt≫; BSGE 69, 25, 29 = SozR 3-4100 § 116 Nr 1 S 6; BSG SozR 4-2700 § 136 Nr 3 RdNr 13; BSGE 111, 234 = SozR 4-1500 § 54 Nr 28, RdNr 10). Da das SG den Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010 aufgehoben hat, war er - ohne dass es hierauf ankäme (auf die materielle Beschwer kommt es bei Beteiligten an, die nicht durch einen Antrag auf die Entscheidung Einfluss nehmen können oder müssen, vgl BSG SozR 4-1500 § 96 Nr 4 RdNr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, Vor § 143 RdNr 7 mwN) - auch materiell beschwert, weil damit die Festsetzung von Kosten ausscheidet. Die materielle Beschwer des Beklagten ist im Berufungsverfahren auch nicht etwa entfallen; die Frage, ob der Kostenanspruch durch Verjährung erloschen ist, ist eine Frage der Begründetheit des Rechtsmittels, nicht seiner Zulässigkeit, zumal sich der Beklagte im Berufungsverfahren gegen das vom LSG angenommene Erlöschen des Kostenanspruchs gewandt hat.

Als Rechtsgrundlage für die Kostenerhebung kommt nur § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 2, § 3 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 Satz 1 NVwKostG (idF vom 25.4.2007, Niedersächsisches ≪Nds≫ GVBl 172) iVm Tarifnummer 110.6.1.2 der Niedersächsischen Verordnung über die Gebühren und Auslagen für Amtshandlungen und Leistungen (Allgemeine Gebührenordnung - AllGO idF vom 25.6.2002, Nds GVBl 201) in Betracht, ohne dass der Senat - wie das LSG - die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs zu prüfen hatte (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 5 Gerichtsverfassungsgesetz ≪GVG≫). Eine Kostenerhebung scheidet nicht etwa deshalb aus, weil das Verfahren in unmittelbarer oder analoger Anwendung des § 64 Abs 1 Satz 1 oder Abs 2 Satz 1 SGB X kostenfrei wäre.

§ 64 Abs 1 Satz 1 SGB X ist nicht unmittelbar anwendbar, weil die Vorschriften des 1. Kapitels des SGB X (§§ 1 bis 66) nur für die "öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden, die nach diesem Gesetzbuch" ausgeübt wird, gelten (§ 1 Abs 1 Satz 1 SGB X). Das AsylbLG ist kein Teil des Sozialgesetzbuchs und gilt auch nicht über die Regelung des § 68 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) als dessen besonderer Teil. Es fehlt auch an einem besonderen Anwendungsbefehl. § 9 Abs 3 AsylbLG(in der bis zum 28.2.2015 geltenden Fassung, seit dem 1.3.2015 Abs 4) sieht nur die entsprechende Anwendung von §§ 44 bis 50 sowie §§ 102 bis 114 SGB X und (ab 1.3.2015) des § 99 SGB X vor (zur Anwendung der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder bei fehlendem besonderen Anwendungsbefehl vgl BSG Urteil vom 26.6.2013 - B 7 AY 3/12 R - juris RdNr 12).

Eine entsprechende Anwendung von § 64 SGB X scheidet mangels (unbewusster) planwidriger Regelungslücke aus. Der Gesetzgeber hat mit dem AsylbLG bewusst ein eigenständiges Leistungssystem außerhalb des Sozialgesetzbuchs mit nur punktuell angeordneter entsprechender Anwendbarkeit des SGB X geschaffen und an diesem Konzept auch bei späteren Gesetzesänderungen stets festgehalten (zur vergleichbaren Problematik der analogen Anwendung des § 44 SGB I vgl die Senatsentscheidung vom 25.10.2018 - B 7 AY 2/18 R - vorgesehen für SozR 4).

Ob der wirtschaftlichen Situation eines Empfängers von Leistungen nach dem AsylbLG bereits bei der Verwaltungskostengrund- bzw -lastentscheidung, der Festsetzung der Gebühren oder erst in einem gesonderten Verfahren dadurch Rechnung getragen werden kann oder (bei einer Ermessensreduzierung auf Null) muss, dass die Kosten gestundet, ermäßigt oder ganz erlassen werden (sog Billigkeitsmaßnahmen, vgl § 11 Abs 2 NVwKostG) ist eine Frage des - vom LSG insoweit nicht im Einzelnen festgestellten - Landesrechts (zur Unterscheidung zwischen der Kostenlast- und -festsetzungsentscheidung vgl zB Oberverwaltungsgericht ≪OVG≫ Lüneburg Beschluss vom 26.3.2007 - 2 LA 13/07 - NVwZ-RR 2007, 507; zur gesonderten Durchsetzung von Billigkeitsmaßnahmen vgl zB OVG Lüneburg Urteil vom 26.1.2012 - 11 LB 226/11 - NJW 2012, 1898 mwN), von dessen Auslegung der Senat (zur entsprechenden Befugnis vgl zB BSG Urteil vom 25.4.2018 - B 8 SO 20/16 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4-3500 § 23 Nr 4, RdNr 13 mwN) absieht, weil dies im Rahmen einer (Ermessens-)Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens untunlich ist. Sollte nach Landesrecht eine (konkrete) Kostenerhebung nicht ausgeschlossen sein, hätte es weiterhin einer Entscheidung bedurft, ob derartige Kosten einen leistungsrechtlich relevanten Bedarf bilden können (§ 6 Abs 1 AsylbLG, zur Übernahme von Kosten für ein erfolgloses Widerspruchsverfahren vgl zB Deibel in Hohm, GK-AsylbLG, § 6 RdNr 260, Stand Dezember 2014) und dies mit der Kostenerhebung vereinbar wäre.

Die Begründetheit der vom Kläger im Revisionsverfahren vorrangig nur noch beantragten Feststellung der Rechtswidrigkeit der Kostenerhebung (§ 131 Abs 1 Satz 3 SGG, zur Zulässigkeit der Umstellung des Klageantrags in der Revisionsinstanz, auch als Revisionsbeklagter, vgl zB Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 131 RdNr 8a mwN) hängt von der Beantwortung der vorstehenden, vom Senat nicht zu beantwortenden Fragen ab, nachdem in der durch das LSG vorgenommenen Auslegung des Landesrechts der Kostenanspruch durch Verjährung erloschen ist (§ 8 Abs 1 Satz 1 NVwKostG, der nicht zwischen einer Festsetzungs- und Zahlungsverjährung wie in anderen Landesgebührengesetzen unterscheidet, vgl zB Schirmer, DVP 2014, 47, 55). An diese Auslegung, die der Beklagte nicht mit durchgreifenden Rügen angegriffen hat, war der Senat gebunden (§ 162 SGG). Das Erlöschen des Kostenanspruchs hat die Erledigung der Kostengrundentscheidung auf andere Weise (§ 1 Abs 1 Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz ≪NVwVfG≫ iVm § 43 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes ≪VwVfG≫) zur Folge, weil der Beklagte hieraus keinerlei Rechte mehr herleiten kann.

 

Fundstellen

SAR 2019, 57

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