Entscheidungsstichwort (Thema)
Alpha-Liponsäure. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Begründung
Leitsatz (redaktionell)
Der Frage, ob das individuelle Krankheitsbild eines Versicherten einen Anspruch auf bestimmte therapeutische Maßnahmen begründet, kommt regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, §§ 160a, 163; SGB V § 2 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. August 2005 wird verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei dem 1941 geborenen, bei der beklagten Ersatzkasse versicherten Kläger besteht ein insulinbehandelter Typ-1-Diabetes mit gravierenden Folgeleiden (ua fortgeschrittene autonome Neuropathie mit schwerer neurogener Magen- und Darmlähmung). Seit 1993 wurde er mit nicht verschreibungspflichtigen Alpha-Liponsäure-Präparaten behandelt. Er ist mit seinem Begehren, nach Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes die Kosten für die nach März 2004 mit den Präparaten weiterhin erfolgten Infusionsbehandlungen erstattet zu erhalten (nach seinen Angaben monatlich 224,51 €), in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Nach Klageabweisung in erster Instanz hat das Landessozialgericht (LSG) ua nach Einholung einer Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (zT auf das Urteil des Sozialgerichts Bezug nehmend): Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Alt 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bestehe nicht, weil die begehrte Behandlung keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sei; auf den geltend gemachten Behandlungserfolg im Einzelfall komme es nicht an. Die Arzneimittel-Richtlinien des GBA legten nicht – wie nach § 34 Abs 1 Satz 2 SGB V nF erforderlich – fest, dass das Mittel als Therapiestandard gelte und vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden dürfe. Der GBA habe bezogen darauf zur Feststellung des maßgeblichen aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft auf Disease-Management-Programme nach § 137f Abs 2 SGB V zurückgegriffen. Der Koordinierungsausschuss sei für die diabetische Neuropathie nach Auswertung der verfügbaren Evidenz zu dem Ergebnis gekommen, dass andere Wirkstoffe für die Behandlung neuropathischer Schmerzen in Betracht kämen. Diese Empfehlung sei über den Erlass der 9. Risikostrukturausgleichs-Verordnung (RSAV) in verbindliches Recht transformiert worden (Urteil vom 23. August 2005).
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 3 Satz 2 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG.
Für die Berufung auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache muss gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG eine konkrete Rechtsfrage klar formuliert und ausgeführt werden, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN).Die Beschwerdebegründung vom 24. Oktober 2005 hebt insoweit zwei Fragestellungen hervor:
“ob sich der Bundesausschuss bei seinem Überblick über die veröffentlichte Literatur und die Meinung der einschlägigen Fachkreise nur auf die Erkenntnisse beschränken darf, die in der 9. RSAV niedergelegt sind oder ob er auch spätere evidenzbasierte Erkenntnisse (Publikation Mai 2004) der Fachgesellschaften, die sich ausdrücklich mit der Alpha-Liponsäure auseinander setzen, zur Beurteilung des anerkannten medizinischen Standards einbeziehen muss und ggf neue Festlegungen zu treffen hat, die über den statisch festgelegten allgemein anerkannten medizinischen Standard der 9. RSAV hinausgehen. Insbesondere wären die Auswirkungen auf den zuvor festgestellten fehlenden Konsens zu analysieren…”
sowie
“ob unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit, dessen Begrifflichkeit unklar ist, ein Anspruch auf Leistungen (Alpha-Liponsäure) vollständig ausgeschlossen ist … oder ob der Versicherte, wenn eine ärztliche Verordnung vorliegt, die nach evidenzbasierten Leitlinien von Fachgesellschaften erfolgt und sich wie hier auch an 1.5.2 der Empfehlung der 9. RSAV hält, ein Kostenerstattungsanspruch besteht…”
Die Beschwerde macht indessen nicht hinreichend deutlich, dass diese Fragen allgemeine, das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung betreffende und klärungsbedürftige Rechtsprobleme aufwerfen. Beide Fragestellungen nehmen explizit nur auf das konkret streitige Präparat Bezug und werden im Wesentlichen unter Hinweis auf Leitlinien der “Deutschen Diabetes Gesellschaft” zur Behandlung von diabetesbedingten Schädigungen des Nervensystems untermauert. Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Frage nach den Therapiemöglichkeiten für ein einzelnes Leiden und dem darauf bezogenen krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsanspruch des Versicherten angesichts der Vielzahl der in der Medizin diskutierten Krankheitsbilder indessen regelmäßig nicht in den Rang einer Rechtsfrage von “grundsätzlicher” Bedeutung gehoben werden (vgl zB Senat, Beschlüsse vom 20. Juni 2004, B 1 KR 1/03 B; vom 21. Dezember 2004, B 1 KR 11/03 B; vom 7. Oktober 2005 – B 1 KR 107/04 B ≪zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen≫). Die Vorinstanzen haben sich hier aber gerade schwerpunktmäßig mit den Gesichtspunkten für eine konkrete Behandlungsform befasst, ohne dabei ausschließlich auf die rechtliche Bedeutung von Regelungen im Zusammenhang mit der 9. RSAV allgemein abzustellen. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht dazu, die von einem Beschwerdeführer angezweifelte sachliche Richtigkeit des LSG-Urteils nochmals in vollem Umfang überprüfen zu lassen.
Unbeschadet dessen setzt sich die Beschwerde nicht mit bereits vorliegender und von den Vorinstanzen auch zT zitierter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur – nur unter bestimmten Voraussetzungen in Betracht kommenden – Leistungspflicht der Krankenkassen für Behandlungsmaßnahmen auseinander, die (möglicherweise) entgegen § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen (etwa der Rechtsprechung zum Inhalt des Wirtschaftlichkeits- und des Wissenschaftlichkeitsgebots ≪zB BSGE 76, 194, 199 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5; BSGE 88, 62, 71 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3≫; zum Erfordernis, dass bereits zum Zeitpunkt der Vornahme einer bestimmten Behandlung eine klare Nutzen-/Risiko-Abwägung möglich sein muss ≪zB BSGE 93, 236, 243 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1 RdNr 19≫; zum Vorliegen eines möglicherweise Leistungsansprüche auslösenden Systemversagens ≪zB BSGE 81, 54, 65 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 sowie Urteil vom 27. September 2005 – B 1 KR 28/03 R; zur grundsätzlichen Unerheblichkeit der Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften für die Leistungsansprüche der Versicherten nach dem SGB V ≪zB BSGE 88, 126, 136 = SozR 3-2500 § 87 Nr 29≫). Die Beschwerde macht damit nicht deutlich, dass insoweit gleichwohl das Bedürfnis nach erneuter Durchführung eines Revisionsverfahrens zur Klärung allgemeiner Rechtsfragen zu diesem Komplex bestehen soll. Wenn es zudem zur Linderung des schweren Leidenszustandes des Klägers nach den von der Beschwerde nicht angegriffenen Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) überhaupt Therapiestandards und damit auch andere Behandlungsmöglichkeiten gab, ist ebenfalls nicht erkennbar, dass aus dem Beschwerdevorbringen selbst im Lichte der jüngsten Judikatur des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein Klärungsbedarf abgeleitet werden könnte. Denn das BVerfG hat den Anspruch gegen eine Krankenkasse auf Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen auch bei schwer wiegenden Krankheiten nur für den Fall aus dem Verfassungsrecht hergeleitet, dass eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stand (Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen