Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 11.06.2020; Aktenzeichen L 1 KR 77/19)

SG Hamburg (Entscheidung vom 20.06.2019; Aktenzeichen S 25 KR 213/14)

 

Tenor

Dem Kläger wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. Juni 2020 - L 1 KR 77/19 - wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Im Streit steht die Bewilligung von Krankengeld statt einer begehrten Unterhaltsbeihilfe.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 20.6.2019). Im Berufungsverfahren hat das LSG mit Beschluss vom 6.8.2019 den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Berichterstatter mit ehrenamtlichen Richtern (sog kleiner Senat) übertragen. Nachfolgend hat der Kläger um Mitteilung gebeten, welche Ermittlungen von Amts wegen beabsichtigt seien, damit er absehen könne, welcher Vortrag seinerseits noch erforderlich sei. Zusammen mit den weiteren Verfahren L 1 KR 45/19 und L 1 KR 81/19 des Klägers hat das LSG sodann mündliche Verhandlung auf den 2.4.2020 anberaumt. Für diesen zunächst anberaumten Sitzungstermin hat der Kläger die Übernahme von Reisekosten für die mündliche Verhandlung beantragt. Auf die Aufforderung des LSG, die Höhe des begehrten Vorschusses zu benennen und die Angemessenheit glaubhaft zu machen, hat der Kläger am 4.3.2020 den Vorschuss auf 2137,03 Euro beziffert. Das LSG hat daraufhin mit Schreiben vom 5.3.2020 unter Beifügung von Reiseauskünften der Deutschen Bahn dem Kläger mitgeteilt, einer Übernahme von Fahrkosten in dieser Höhe könne nicht stattgegeben werden. Die Höhe des begehrten Vorschusses sei nicht nachvollziehbar, ua weil bereits nicht ersichtlich sei, weshalb der Kläger nicht am Sitzungstag an- und abreisen könne. Aufgrund der Corona-Pandemie hat das LSG sodann am 18.3.2020 den anberaumten Termin auf den 11.6.2020 erneut ohne Anordnung des persönlichen Erscheinens, dem Kläger am 21.3.2020 zugestellt, verlegt. Mit einem unter dem 19.3.2020 vom Berichterstatter zur Kenntnis genommenen Schreiben hat sich der Kläger an das LSG gewandt und nachgefragt, was mit dem Termin sei und ob man vergessen habe, ihn zu informieren. Das LSG hat nach mündlicher Verhandlung in Abwesenheit des Klägers die Berufung zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen (Urteil vom 11.6.2020).

Nach Gewährung von PKH für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil. Er rügt eine Divergenz, die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Ablehnung eines Reisekostenvorschusses für die Anreise zur mündlichen Verhandlung und die fehlerhafte Besetzung der Richterbank. Kurz vor dem Sitzungstermin habe er sich telefonisch nach einer Entscheidung über seinen Fahrkostenantrag erkundigt, man habe ihm gesagt, dass man nicht ohne Entscheidung darüber verhandeln werde.

II

1. Dem Kläger war von Amts wegen gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von PKH gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes fristgerecht eingelegt und begründet hat.

2. Die Beschwerde ist hinsichtlich der Rüge des Verfahrensfehlers der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht begründet (dazu 3.) und im Übrigen unzulässig (dazu 4.).

Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3).

3. Die vom Kläger gerügte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 EMRK) liegt nicht vor. Zwar kann das völlige Übergehen eines Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen und rechtskundig nicht vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehör darstellen (vgl BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - juris). Ausweislich der beigezogenen Akte des Parallelverfahrens B 12 KR 22/21 B sowie der dortigen Beiakten zu dem am selben Terminstag verhandelten Parallelverfahren des LSG L 1 KR 45/19 kann die Nichtzulassungsbeschwerde aber nicht erfolgreich sein, weil ein derartiger Verfahrensfehler nicht vorliegt. Das LSG hat den Antrag des Klägers auf Reisekosten für die Wahrnehmung des zunächst anberaumten Termins nicht übergangen, vielmehr hat es diesen in der begehrten Höhe mit seinem Schreiben vom 5.3.2020 abgelehnt. Eine Reaktion des Klägers auf diesen - ihm nach den Ausführungen in der Beschwerde im Verfahren B 12 KR 22/21 B zugegangenen - Hinweis ist nicht ersichtlich; insbesondere hat der Kläger keinen neuen Antrag gestellt. Es hätte ihm oblegen, spätestens nach Erhalt der Umladung am 21.3.2020 sein Begehren auf Teilnahme an der Sitzung am 11.6.2020 vorzutragen und die Übernahme von Reisekosten erneut zu beantragen. Dabei hätte der Kläger nach der Ablehnung seines ersten Antrags die Höhe des nunmehr begehrten Vorschusses zu erläutern gehabt, um dem LSG hierdurch Gelegenheit zu geben, seine Rechtsauffassung zu überdenken. Dies ist nach Aktenlage nicht geschehen.

Für eine begründete Verfahrensrüge genügt auch nicht der nicht aktenkundige Anruf kurz vor dem Termin. Denn eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht durch die zumutbare Ausschöpfung der vom Prozessrecht eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten Gehör zu verschaffen (vgl BVerfG vom 18.8.2010 - 1 BvR 3268/07 - juris RdNr 28; BSG vom 9.8.2016 - B 9 V 36/16 B - juris RdNr 7; BVerwG vom 7.4.2020 - 5 B 30.19 D - juris RdNr 32; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 62 RdNr 11d; jeweils mwN). Insofern wäre es nach dem Verfahrensablauf hier Aufgabe des Klägers gewesen, deutlich vor der mündlichen Verhandlung mitzuteilen, dass er weiterhin den Termin persönlich wahrnehmen wolle. Das kann indes weder dem Beschwerdevorbringen noch den Akten entnommen werden.

4. Die weiteren Rügen der Divergenz und sonstiger Verfahrensfehler sind schon deshalb nicht geeignet die Revisionsinstanz zu eröffnen, weil sie den formellen Anforderungen an eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerecht werden.

a) Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt worden sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht unrichtig angewandt hat, sondern erst, wenn das LSG Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist und welcher in der Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht, und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruht (vgl Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, IX. Kap RdNr 196, 198 mwN). Dem wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. In ihr hat der Kläger bereits keinen abstrakten Rechtssatz des BSG bezeichnet, sondern er gibt lediglich Teile der Urteilsgründe der Entscheidung des BSG vom 25.8.2004 - B 12 KR 22/02 R - in Zitatform wieder und vergleicht diese mit Begründungen des LSG-Urteils, ohne vom LSG aufgestellte Rechtssätze anzuführen.

b) Ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, ist schließlich nicht allein dadurch bezeichnet, dass das LSG vor dem Beschluss zur Übertragung des Rechtsstreits nach § 153 Abs 5 SGG den Kläger nicht angehört habe. Diese gerügte Gehörsverletzung kann hier schon deshalb nicht zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank und damit zu einem absoluten Revisionsgrund führen (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO), weil nach seinem Beschwerdevorbringen der Kläger sich nach der Übertragung inhaltlich eingelassen und einen Reisekostenvorschuss zur Sitzung des sog kleinen Senats beantragt hat. Hierdurch hat er zu verstehen gegeben, dass er gegen die erfolgte Übertragung keine Bedenken hat. Dass und warum in der unterbliebenen Anhörung gleichwohl eine zu einem Besetzungsfehler führende Gehörsverletzung liegen könnte, ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

Schütze                                   Behrend                                      Knorr

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15129257

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge