Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Anforderungen an die Begründung. Geordnetheit des Vortrags. Sichtung und rechtliche Durchdringung des Sach- und Streitstandes
Orientierungssatz
1. Die umfangreiche Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde entspricht nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG, wenn sie schon keine geordnete und verständliche Darlegung des entscheidungserheblichen Sachverhalts auf der Grundlage der Feststellungen des LSG enthält und darüber hinaus die notwendige Sichtung und rechtliche Durchdringung des Sach- und Streitstandes vollständig fehlt. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, sich aus in die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde teilweise wörtlich übernommenen, teilweise nur zitierten Schriftsätzen der Beschwerdeführer aus anderen Verfahren und dem im Übrigen vollständig ungeordneten Gemenge das herauszusuchen, was möglicherweise zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (vgl BSG vom 12.5.1999 - B 4 RA 181/98 B = SozR 3-1500 § 160a Nr 26).
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 20.10.2011 - 1 BvR 3132/10).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 24.09.2009; Aktenzeichen L 8 AS 10/05) |
SG Neubrandenburg (Entscheidung vom 20.09.2005; Aktenzeichen S 7 AS 3/05 NB) |
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 24. September 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte zu 2. hat den Klägern ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Kläger begehren höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1.1.2005 bis 30.11.2005. Sie rügen insbesondere die Verfassungswidrigkeit der Regelungen über die Regelleistung gemäß § 20 SGB II. Neben einer höheren Regelleistung machen sie Kosten für eine Zahnfleischbehandlung in Höhe von 60 Euro und Kosten für eine Versorgung mit Zahnersatz in Höhe von 248,83 Euro als Zuschuss statt als Darlehen, die Kosten einer Hausratversicherung, eine zusätzliche Beihilfe für Gerichtssachen in Höhe von 150 Euro monatlich und Kosten für ihren Kabelanschluss als Sonderbedarf geltend. Schließlich müsse der Abzug von Warmwasserkosten von den Kosten für Unterkunft und Heizung gänzlich unterbleiben. Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 20.9.2005; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Mecklenburg-Vorpommern vom 24.9.2009).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG wenden die Kläger sich mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde. Sie machen hinsichtlich sämtlicher im Klage- und Berufungsverfahren streitig gewesener Punkte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und halten die Beschwerde insoweit auch nach Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) in der Sache aufrecht. Daneben rügen sie die Verletzung rechtlichen Gehörs als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet, soweit die Kläger die Verfassungswidrigkeit der Regelleistung rügen (unter 1.), im Übrigen ist sie unzulässig (unter 2.).
1. Die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage, inwieweit das System der Regelleistungen gemäß § 20 SGB II der Verfassung entspreche, ist durch das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09, BGBl I 193 = NJW 2010, 505) mittlerweile geklärt. Das BVerfG hat insofern im Sinne der Kläger entschieden, dass § 20 SGB II gegen Art 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art 20 GG verstößt. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist damit nicht mehr gegeben.
Einer Zulassung der Revision bedarf es aber auch aus Gründen der Rechtsschutzgarantie für die Kläger nicht, denn das BVerfG hat in dem genannten Urteil (aaO RdNr 210 ff) klargestellt, dass für die Vergangenheit und für laufende Verfahren eine Erhöhung der Leistungen - trotz der festgestellten Verfassungswidrigkeit des Regelleistungssystems - nicht in Betracht kommt. Mithin können die Kläger in einem möglichen Revisionsverfahren keine Rechtsansprüche auf höhere Regelleistungen aus dem Urteil des BVerfG ableiten. Die Beschwerde war daher insoweit als unbegründet zurückzuweisen.
2. Im Übrigen ist die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung noch der geltend gemachte Verfahrensmangel ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
a) Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 31, 59, 65; SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN - stRspr).
Die Beschwerdebegründung zur geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache enthält über die pauschal vorgetragene Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Vorschriften des SGB II hinaus schon keine geordnete und verständliche Darlegung des entscheidungserheblichen Sachverhalts auf der Grundlage der Feststellungen des LSG, weshalb sie sich als unzulässig darstellt. Die 58 Seiten umfassende Beschwerdebegründung und die 19seitige Ergänzung im Anschluss an die Verkündung des Urteils des BVerfG vom 9.2.2010 bestehen im Wesentlichen aus Berichterstattung Dritter über andere Verfahren (insbesondere einem 11seitigen Bericht über die mündliche Verhandlung vor dem BVerfG am 16.10.2009) und wörtlich übernommenen Passagen aus Aufsätzen, Gutachten und Erfahrungsberichten Betroffener aus dem Internet. Dagegen fehlt die notwendige Sichtung und rechtliche Durchdringung des Sach- und Streitstandes vollständig. So haben die Kläger zwar angekündigt, nach Zulassung der Revision ua auch Kosten einer Zahnfleischbehandlung in Höhe von 60 Euro und Kosten einer Versorgung mit Zahnersatz in Höhe von 248,83 Euro, die die Beklagte zu 2. als Darlehen bewilligt hat, als Zuschuss, hilfsweise als Darlehen mit einer geringeren Tilgungsrate geltend zu machen. In der Beschwerdebegründung wird jedoch an keiner Stelle eine Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex deutlich. Gleiches gilt für die zusätzlich geltend gemachten Kosten einer Hausratversicherung und die im Einzelnen zwar aufgeschlüsselte, aber nicht weiter begründete zusätzliche Beihilfe für Gerichtssachen in Höhe von 150 Euro monatlich. Es ist nicht Aufgabe des Bundessozialgerichts (BSG), sich aus den in die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde teilweise wörtlich übernommenen, teilweise nur zitierten Schriftsätzen der Kläger aus anderen Verfahren und dem im Übrigen vollständig ungeordneten Gemenge das herauszusuchen, was möglicherweise zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 26).
Soweit sich die Kläger mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde gegen den vorgenommenen Abzug der Warmwasserpauschale von den geltend gemachten Heizkosten wenden, bleibt unklar, inwieweit ausgehend von der zitierten Rechtsprechung eine weitergehende Klärung durch das BSG für den vorliegenden Fall noch erforderlich sein sollte. Soweit die Kläger geltend machen, die bisherige Rechtsprechung des BSG hierzu verstoße gegen die Denkgesetze und sei deshalb unzutreffend, ist damit allein die erneute Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage nicht dargelegt. Dazu hätte es einer ausführlichen Auseinandersetzung mit zwischenzeitlich veröffentlichtem juristischen Schrifttum und neuerer Rechtsprechung bedurft. Die erneute Klärungsbedürftigkeit begründen die Kläger dagegen im Wesentlichen mit einem Hinweis ("Link") auf die Dokumentation einer privaten Internetseite, was den Darlegungsanforderungen ersichtlich nicht genügen kann.
Auch hinsichtlich der geltend gemachten Kabelgebühren genügt die Beschwerdebegründung nicht den Darlegungserfordernissen. Die Kläger machen insoweit sinngemäß lediglich geltend, die Entscheidung des LSG sei unzutreffend. Sie zitieren zwar die Entscheidung des BSG (BSGE 102, 274 = SozR 4-4200 § 22 Nr 18), setzen sich aber nicht mit den dort aufgestellten rechtlichen Grundsätzen auseinander, wonach tatsächliche Aufwendungen für einen Kabelanschluss und die Anschlussnutzungsgebühren grundsätzlich nur dann erstattungsfähig sind, wenn die Verpflichtung zur Zahlung durch den Mietvertrag begründet worden ist (aaO RdNr 19). Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist mit dem Vortrag, in N sei alternativ zu einem Kabelanschluss der DVB-T Empfang nur über eine Dachantenne möglich, die der Vermieter aber nicht erlaube, keine Rechtsfrage formuliert, die vorliegend höchstrichterlich zu klären wäre.
b) Die Kläger haben auch keinen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung eines Verfahrensmangels gehört, dass die verletzte Rechtsnorm und die eine Verletzung begründenden Tatsachen substantiiert und schlüssig dargelegt werden (stRspr; ua BSG SozR 3-1500 § 73 Nr 10).
Zum Vorliegen einer Überraschungsentscheidung und damit einer Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) hätten die Kläger unter Bezugnahme auf den Gang des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens und das Vorbringen der Beteiligten sowie unter Hervorhebung von Äußerungen des Berufungsgerichts darlegen müssen, dass die Entscheidung des LSG, nämlich die Entscheidung in der Sache anstelle der Vertagung des Rechtsstreits, nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl BVerfGE 86, 133, 144 f; BSG, Beschluss vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B). Ausgehend von dem allgemeinen Verfahrensgrundsatz, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG, Beschlüsse vom 23.4.2009 - B 13 R 15/09 B -; vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B und vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B), fehlt es an Darlegungen dazu, warum ein gewissenhafter Prozessbeteiligter unter Berücksichtigung aller vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte hier nicht davon ausgehen musste, dass das LSG von der Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Regelungen möglicherweise nicht überzeugt sein und deshalb in der Sache entscheiden würde.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Das BVerfG hat insoweit angeregt, dass der Verfassungswidrigkeit der Regelungen des § 20 SGB II im Rahmen der Kostenentscheidung Rechnung getragen werden kann. Dies hat der Senat mit einer teilweisen Kostenentscheidung zugunsten der Kläger berücksichtigt.
Fundstellen