Leitsatz (redaktionell)
Zur Zulässigkeit einer Sprungrevision gemäß SGG § 161:
1. Sind an einem Sozialrechtsstreit Beigeladene beteiligt, so ist eine Sprungrevision ohne Einwilligungserklärung der Beigeladenen nicht zulässig.
2. Bei Unzulässigkeit der Sprungrevision kann der Rechtsstreit nicht an die Berufungsinstanz verwiesen werden, es sei denn, der Kläger hätte noch innerhalb der Berufungsfrist Berufung eingelegt.
Normenkette
SGG § 161 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 75 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 170 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 62
Tenor
Die Sprungrevision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17. Februar 1971 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) stellte mit Bescheid vom 7. Oktober 1968 einen Anspruch der Versicherten W. W. auf Nachzahlung von Kinderzuschüssen für die Zeit vom 1. März bis 31. Juli 1968 in Höhe von insgesamt 1 770,- DM fest. Aus dieser Nachzahlung befriedigte sie den Ersatzanspruch des Sozialamtes der Stadt N. nach § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie teilweise die von der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) nach § 183 Abs. 5 RVO und der Bundesanstalt (BA) nach § 23 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) alte Fassung erhobenen Ersatzansprüche. Der von dem Jugendamt der Stadt N. geltend gemachte Ersatzanspruch wegen von ihm nach den Bestimmungen des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) im Nachzahlungszeitraum gewährter Leistungen blieb bei dieser Abrechnung unberücksichtigt.
Mit dieser Klage hat das Jugendamt der Stadt N. beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 378,- DM zu verurteilen. Die AOK, die BA und das Sozialamt sind dem Rechtsstreit beigeladen worden. Die AOK als Beigeladene zu 1) und die BA als Beigeladene zu 2) haben sich dem Antrag der Beklagten auf Klageabweisung angeschlossen und die Vorrangigkeit ihrer Ansprüche geltend gemacht. Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat mit Urteil vom 17. Februar 1971 die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 269,80 DM zu zahlen. Weiter hat das Gericht folgende Rangfolge der geltend gemachten Ansprüche festgestellt: 1. Ersatzanspruch der Kindergeldklasse; 2. Ersatzanspruch des Sozialamtes und 3. gleichrangig nebeneinander die Ersatzansprüche der AOK und der Klägerin. Das Gericht hat die Berufung zugelassen.
Gegen das Urteil hat die Klägerin unter Beifügung der Einwilligungserklärung der Beklagten Sprungrevision eingelegt und die vorrangige und volle Befriedigung des von ihr geltend gemachten Ersatzanspruchs gemäß § 1531 RVO beantragt. Die Beigeladenen haben in die Sprungrevision nicht eingewilligt. Die Beklagte sowie die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen daher, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin beantragt hilfsweise, den Rechtsstreit zur Durchführung des Berufungsverfahrens an das zuständige Landessozialgericht (LSG) zu verweisen, wobei sie sich auf die Bestimmung des § 170 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beruft.
II
Die Sprungrevision ist nicht zulässig, weil sie nicht ordnungsgemäß eingelegt ist. Gemäß § 161 Abs. 1 SGG setzt die Statthaftigkeit der Sprungrevision gegen Urteile der Sozialgerichte voraus, daß der "Rechtsmittelgegner" einwilligt. Rechtsmittelgegner sind hier außer der Beklagten auch die Beigeladenen zu 1) und 2), an deren Einwilligungserklärung es mangelt. Sinn der Einwilligung der Rechtsmittelgegner in die Sprungrevision ist, daß jeder, der ein eigenes, von der Rechtsordnung geschütztes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, selbst darüber entscheiden soll, ob das Berufungsverfahren und damit ein Instanzenzug übersprungen wird (vgl. BSG 23, 168, 169; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3 zu § 161 SGG). In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist anerkannt, daß auch Beigeladene - handele es sich um eine einfache oder um eine notwendige Beiladung (§ 75 Abs. 1 oder Abs. 2 SGG) - Rechtsmittelgegner im Sinne der Vorschrift des § 161 Abs. 1 SGG sein können. Ihre Eigenschaft als Rechtsmittelgegner muß im Hinblick auf die Zulässigkeit des Rechtsmittels bereits im Zeitpunkt seiner Einlegung feststehen (vgl. insbesondere BSG 24, 138, 140). Beigeladene sind Rechtsmittelgegner, wenn für sie mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils eine Beschwer verbunden sein könnte (vgl. BSG 23, 168, 169); vor allem dann, wenn sie sich, wie es hier der Fall ist, in der ersten Instanz mit eigenen Anträgen ausdrücklich gegen den Antrag des späteren Revisionsklägers gewandt haben und das Urteil zu ihren Gunsten ergangen ist (BSG 24, 138, 139, 140). Diese Auffassung trägt der prozessualen Rechtstellung Rechnung, wie sie den Beigeladenen im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zukommt. So kann jeder Beigeladene selbständig Rechtsmittel einlegen, sofern er durch die angefochtene Entscheidung beschwert, also in seinen Rechten betroffen oder mitbetroffen ist (BSG 3, 142; 6, 160, 161; 8, 291; 9, 250, 251; 24, 138, 139). Rechtskräftige Urteile, mit denen über den Streitgegenstand entschieden worden ist, binden auch die Beigeladenen (§ 141 Abs. 1 SGG, § 69 SGG; vgl. auch BSG 6, 160, 161; 10, 176, 178; 24, 138, 139). Anders als nach der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die eine solche Möglichkeit nicht vorsieht, können gemäß § 75 Abs. 5 SGG die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit darüber hinaus sogar einen beigeladenen Versicherungsträger oder in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung ein beigeladenes Land verurteilen. Aus dieser weitgehend selbständigen Stellung der Beigeladenen im sozialgerichtlichen Verfahren folgt zugleich die Notwendigkeit, ihnen das Recht zuzugestehen, selbst darüber zu entscheiden, ob entsprechend dem Willen des Rechtsmittelklägers eine Rechtsmittelinstanz ausgeschaltet werden soll oder nicht.
Die Einwilligungserklärung der Beigeladenen zu 1) und 2) ist hier auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil beide notwendige Streitgenossen der Beklagten sind und diese ihre Einwilligung erklärt hat. Zwar werden nach § 62 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der über § 74 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, in bestimmten Fällen säumige Streitgenossen als durch die nicht säumigen vertreten angesehen. Das gilt aber nur insoweit, als ein Termin oder eine Frist von einzelnen Streitgenossen versäumt worden ist, nicht dagegen auch für prozessuale Erklärungen wie die Einwilligung zur Einlegung der Sprungrevision (BSG 23, 168, 169, 170; vgl. auch Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Aufl., Anm. 4 B zu § 62 ZPO).
Für den Hilfsantrag der Revisionsklägerin, den Rechtsstreit zur Durchführung der Berufung an das zuständige LSG zu verweisen, mangelt es an einer Rechtsgrundlage. Die Vorschrift des § 170 SGG, auf die sich die Klägerin stützen will, greift nur bei zulässiger Revision ein. Die Bestimmung des § 170 Abs. 3 SGG käme nur dafür in Betracht, an welches Gericht der Rechtsstreit im Falle einer zulässigen und begründeten Sprungrevision zur weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen ist. Dies setzt voraus, daß die Klägerin mangels der Einwilligung der Beigeladenen zu 1) und 2) innerhalb der Revisionsfrist Berufung beim LSG eingelegt hat. Das ist aber nicht geschehen. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG ist somit nicht möglich.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen