Leitsatz (redaktionell)
Rechtsbehelfsbelehrung und Hinweis auf die Nichtzulassungsbeschwerde: 1. Eine Rechtsmittelbelehrung ist nicht deshalb unrichtig erteilt, weil der Hinweis auf die Nichtzulassungsbeschwerde nicht auch die Möglichkeit einer Verlängerung der Begründungsfrist um einen Monat (SGG § 160a Abs 2 S 2) erwähnt.
2. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS des SGG § 160 Abs 2 Nr 1, wenn die umstrittene Rechtsfrage klärungsbedürftig ist; daran fehlt es, wenn die Rechtsfrage revisionsgerichtlich bereits ausreichend geklärt ist.
3. Bei Spaziergängen während der Arbeitspause besteht Versicherungsschutz in der Unfallversicherung, wenn der Weg erforderlich ist, um die Arbeitsfähigkeit des Versicherten zu erhalten.
4. Versicherungsschutz besteht auch auf solchen Wegen, die der Beschäftigte während einer Arbeitspause unternimmt, um sich die zur Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung (zB durch die Einnahme einer Mahlzeit) außerhalb der Arbeitsstätte zu verschaffen.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 160a Abs. 2 S. 2 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30; RVO § 548 Abs. 1 S. 1
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Januar 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts (SG) Bayreuth vom 3. April 1973 und des Bescheides der Beklagten vom 4. Oktober 1972 dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Unfalls vom 20. April 1972 die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren (Urteil vom 15. Januar 1975).
Nach den mit der Beschwerde nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG arbeitete die Klägerin täglich 8 Stunden als Trennerin in dem mit 140 Arbeitskräften belegten klimatisierten Fabriksaal eines Textilbetriebes. Das Mittagessen wurde in einem im Keller gelegenen künstlich erleuchteten Aufenthaltsraum eingenommen. Am Unfalltag unternahm die Klägerin in der Mittagspause, wie schon jahrelang fast regelmäßig, einen Spaziergang im Bereich des in Betriebsnähe gelegenen Turnerheimweges. Auf dem Rückweg zum Betrieb erlitt sie einen Unfall. Nach Auffassung des LSG hatte der Weg der körperlichen und geistigen Erholung der Klägerin gedient, für die im Hinblick auf die festgestellten Arbeitsbedingungen und die bevorstehende weitere Arbeitszeit nach der Mittagspause ein unabweisbares Bedürfnis bestanden hat. Den Spaziergang hat das LSG daher der betrieblichen Tätigkeit zugerechnet und den Unfall als Arbeitsunfall gewertet. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.
Gegen das am 3. März 1975 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. März 1975 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und begründet. Die Frist zur Begründung hat der Vorsitzende des Senats bis zum 5. Juni 1975 verlängert.
Die Beklagte ist der Auffassung, daß die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde bis zum 3. März 1976 laufe, da in der Rechtsmittelbelehrung des Urteils nicht auf die durch § 160 a Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegebene Möglichkeit einer Verlängerung der Frist zur Beschwerdebegründung um einen Monat hingewiesen worden sei. Die Einlegung der Beschwerde sei daher nach § 66 Abs. 2 SGG noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung des Urteils zulässig.
Zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde trägt die Beklagte vor: Die Revision sei zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) und das Urteil des LSG von Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) abweiche (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit rechneten zwar Arbeitspausen zur Betriebszeit, seien jedoch unfallversicherungsrechtlich nur bei Anwesenheit auf der Betriebsstätte geschützt. Spaziergänge während der Arbeitspause würden dagegen grundsätzlich nicht innerbetrieblicher Tätigkeit zugerechnet. Lediglich in Ausnahmefällen könne auch ein Spaziergang während der Arbeitspause im Zusammenhang mit dem versicherten Unternehmen stehen, wenn er wesentlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft diene (BSG 4, 219). Das BSG habe in seiner gesamten bisherigen Rechtsprechung Wert darauf gelegt, die Ausdehnung des Unfallversicherungsschutzes auf Spaziergänge während einer Arbeitspause nicht ausufern zu lassen (SozR Nr. 26 zu § 543 RVO aF). Allenfalls der Weg zur Ermöglichung der Nahrungsaufnahme könne mit dem versicherten Unternehmen in unfallversicherungsrechtlich relevante Beziehungen gesetzt werden (BSG 12, 254). Das BSG habe zwar ausgesprochen, daß es weitgehend von den Umständen des Einzelfalles abhänge, in welcher Weise ein Versicherter sich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung die etwa benötigte Erfrischung verschaffen könne. Jedoch habe das BSG darauf abgestellt, ob der Versicherte ein über das allgemeine Verlangen nach Erfrischung hinausgehendes Bedürfnis infolge der Betriebsarbeit besessen habe oder nicht (BSG 16, 236). Bei einem Weg zur Einnahme der Mittagsmahlzeit in einer Gaststätte habe das BSG die privaten Momente der grundsätzlich unversicherten Essenseinnahme gegenüber einem etwaigen betriebsbedingten Interesse an der Erhaltung der Arbeitskraft durch die Essenseinnahme vor Wiederaufnahme der Arbeit abgewogen (SozR Nr. 61 zu § 543 RVO aF). Schließlich habe das BSG seine Rechtsprechung dahin präzisiert, daß die Besorgung von Nahrungsmitteln und Getränken zum alsbaldigen Verzehr nur dann unfallversicherungsrechtlich geschützt sei, wenn sie dazu diene, ein die Weiterarbeit erschwerendes Hunger- oder Durstgefühl zu überwinden (SozR Nr. 15 zu § 550 RVO). Äußerlich habe sich das LSG zwar an diese Rechtsprechung gehalten, in Wirklichkeit aber die Vorschriften der §§ 548, 550 RVO weitgehend ausgedehnt und ganz neu ausgelegt. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dürfe damit auf der Hand liegen. Zugleich weiche das Urteil des LSG damit auch von den wiedergegebenen Entscheidungen des BSG ab und beruhe auf diesen Abweichungen.
Der Senat konnte über die Beschwerde der Beklagten entscheiden, da die verlängerte Frist für die Begründung der Beschwerde bereits am 5. Juni 1975 abgelaufen war. Entgegen der Auffassung der Beklagten war nämlich die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils richtig erteilt worden. Einer Belehrung über die durch § 160 a Abs. 2 Satz 2 SGG gegebene Möglichkeit, die Verlängerung der Frist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde um einen Monat beantragen zu können, bedurfte es nicht. Die Rechtsmittelbelehrung dient dazu, die Beteiligten in die Lage zu versetzen, ohne Hilfe des Gesetzestextes die ersten Schritte zur Durchführung des Rechtsmittels zu unternehmen. Sie braucht nicht allen tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten Rechnung zu tragen, insbesondere kann sie den Beteiligten nicht jede eigene Verantwortung abnehmen (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3 zu § 66). Es genügt, wenn die Rechtsmittelbelehrung sämtliche in § 66 Abs. 1 SGG aufgeführten Angaben enthält, d.h. die Beteiligten über den Rechtsbehelf, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf einzulegen ist, und über die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt. Diesem Erfordernis entspricht die Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Urteil; sie ist daher richtig erteilt worden.
Die Revision war nicht zuzulassen, denn bei dem angefochtenen Urteil handelt es sich weder um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG, noch liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG vor, da das Urteil nicht von einer Entscheidung des BSG abweicht.
Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG, wenn die entschiedene Rechtsfrage klärungsbedürftig ist. Daran fehlt es, wenn sie revisionsgerichtlich bereits ausreichend geklärt ist (vgl. Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, S. 29 Rdn. 65). Die Beklagte erwähnt selbst diejenigen Urteile, in denen die Rechtsfrage, ob und wann der Beschäftigte auf Wegen, die seiner Erfrischung oder Erholung dienen, unfallversicherungsrechtlich geschützt ist, entschieden worden ist. In der Entscheidung BSG 4, 219, 223 hat der erkennende Senat an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts angeknüpft, das den Versicherungsschutz stets dann bejaht hat, wenn der Weg erforderlich war. um die Arbeitsfähigkeit des Versicherten zu erhalten. Die Auffassung des damaligen Berufungsgerichts, daß ein auf Erholung gerichtetes Verhalten des Versicherten nur dann nicht einem rein privaten Zweck diene, wenn sich an die Erholung unmittelbar die Arbeitsaufnahme anschließe, hat das BSG als zu eng bezeichnet. Seiner Meinung nach wird sie dem das heutige Arbeitsleben beherrschenden Gedanken nicht gerecht, daß den Maßnahmen, die der Wiederherstellung der Arbeitskraft und der Gesunderhaltung der Erwerbstätigen überhaupt gelten, eine gesteigerte Bedeutung zukommt. In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der erkennende Senat in der Entscheidung SozR Nr. 26 zu § 543 RVO aF betont, daß der Versicherte auf Wegen von und nur Arbeitsstätte, die erforderlich sind, damit er die zur Erhaltung seiner Arbeitskraft nötige Ruhe und Erholung erhält, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht. Nach der Entscheidung BSG 12, 254, 255 besteht Versicherungsschutz auch auf solchen Wegen, die der Beschäftigte während einer Arbeitspause unternimmt, um sich die zur Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung außerhalb der Arbeitsstätte zu verschaffen. In der Entscheidung SozR Nr. 236, 239 hat der Senat ausgesprochen, daß der Schutz der Unfallversicherung einem Beschäftigten nicht versagt werden könne, der sich bei der Arbeitstätigkeit hoher Hitzeeinwirkung aussetzt, daß er auf Erfrischung angewiesen ist, um ohne erhebliche Schwächung seiner Arbeitstätigkeit bis zum Ende der Schicht durcharbeiten zu können. Eine der Erfrischung bzw. Abkühlung dienende Tätigkeit hängt in einem solchen Fall mit der Arbeitstätigkeit ursächlich zusammen (vgl. auch SozR Nr. 41 zu § 342 RVO aF). Das BSG hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es weitgehend von den Umständen des Einzelfalles abhängt, in welcher Weise sich der Versicherte die benötigte Erfrischung verschaffen kann, ohne sich aus diesem Zusammenhang zu lösen. Daß der Beschäftigte auch auf einem Weg versichert sein kann, den er zum Zwecke der Einnahme einer Mahlzeit zurücklegt, wenn die Mahlzeit wesentlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft dient, hat das BSG in der Entscheidung SozR Nr. 61 zu § 543 RVO aF nochmals als zutreffend herausgestellt. Und es hat an dieser Rechtsauffassung in der Entscheidung SozR Nr. 15 zu § 550 RVO festgehalten. In ihr ist ausgeführt, daß nach der Rechtsprechung unter § 550 RVO auch solche Wege fallen, die der Beschäftigte während einer Arbeitspause unternimmt, um sich die zur Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung außerhalb der Arbeitsstätte zu verschaffen.
Einer weiteren Klärung ist die vom LSG im angefochtenen Urteil entschiedene Rechtsfrage nicht bedürftig, zumal da die Beklagte neue Gesichtspunkte, die eine nochmalige Entscheidung rechtfertigen könnten, nicht vorgetragen hat.
Das angefochtene Urteil weicht in der Entscheidung der Rechtsfrage, ob und wann auf Wegen, die der Erfrischung oder Erholung von Versicherten dienen, Unfallversicherungsschutz besteht, nicht von dem von der Beklagten genannten Entscheidungen des BSG ab. Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß für die Klägerin das Bedürfnis nach Erholung mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Arbeitsplatzes unabweisbar gewesen ist und der von ihr im Unfallzeitpunkt zurückgelegte Weg der körperlichen und geistigen Erholung gedient hat. Darin vermag der Senat keine Abweichung von der aufgezeigten Rechtsprechung des BSG zu sehen.
Die Beschwerde der Beklagten mußte daher gemäß § 160 a Abs. 4 SGG als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen