Entscheidungsstichwort (Thema)
Spaziergang in der Mittagspause
Leitsatz (redaktionell)
Auf Wegen, die Versicherte unternehmen, um sich Erholung und Erfrischung zu verschaffen, besteht nur dann Versicherungsschutz, wenn die Wege aus besonderen mit der betrieblichen Tätigkeit zusammenhängenden Umständen notwendig sind.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.03.1975; Aktenzeichen L 5 U 60/74) |
SG Detmold (Entscheidung vom 07.03.1974; Aktenzeichen S 3 U 190/73) |
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. März 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Ehemann bzw. Vater der Kläger Werner L (L.) war bei der Firma H Werke in H-Bad M als Einkaufsleiter beschäftigt. Am 23. Mai 1973 verließ er zu Beginn der Mittagspause um 12 Uhr zusammen mit dem Zeugen J das Werksgelände zu einem Spaziergang. Beim Überqueren eines Fußgängerüberweges wurde L. von einem Kraftfahrzeug erfaßt und so schwer verletzt, daß er am 1. Juni 1973 starb. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 27. August 1973 Entschädigungsansprüche der Kläger ab, weil für Spaziergänge außerhalb des Betriebsgeländes im allgemeinen kein Versicherungsschutz bestehe. Solche Spaziergänge seien der eigenwirtschaftlichen Sphäre des Versicherten zuzurechnen. Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die Beklagte verurteilt, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen und den Klägern Hinterbliebenenleistungen nach der gesetzlichen Bestimmung zu gewähren (Urteil vom 7. März 1974). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat der auf die Verurteilung zur Rentengewährung beschränkten Berufung der Beklagten stattgegeben und insoweit die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. März 1975). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Behauptung der Kläger, daß L. auf dem zum Unfall führenden Weg die Sparkasse H, Nebenstelle M, habe aufsuchen wollen, um dort Geld abzuheben, sei nicht bewiesen. Der Zeuge J habe ausdrücklich bekundet, daß er und L. ohne ein besonderes Ziel die Absicht gehabt hätten, während der Mittagspause spazieren zu gehen. Überdies hätten die Kläger selbst zugestanden, daß L. im Unfallmonat das Geldinstitut bereits einmal aufgesucht hatte. Nach § 548 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe aber nur bei dem erstmaligen Aufsuchen des Geldinstituts Versicherungsschutz. Aufgrund der Zeugenaussagen, den Feststellungen der Beklagten und den Einlassungen der Kläger stehe fest, daß L. den Unfall erlitten habe, als er, wie üblich, mit dem Zeugen J während der Mittagspause einen Spaziergang außerhalb des Betriebsgeländes unternahm, der nur unterblieben sei, wenn die Witterungsverhältnisse ihm entgegenstanden. Ein Spaziergang in der Freizeit sei eine zum privaten Lebensbereich des Versicherten gehörende Betätigung. Das allgemeine Interesse des Unternehmers, daß der Versicherte Freizeit und Arbeitspausen zur Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit sinnvoll gestalte und nutze, reiche für sich allein nicht aus, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen dem während der Mittagspause durchgeführten Spaziergang und der versicherten Tätigkeit zu begründen. Allerdings sei es nicht ausgeschlossen, daß ein Spaziergang auch mit der versicherten Tätigkeit in Zusammenhang stehen könne. Voraussetzung sei jedoch, daß der Spaziergang aus besonderen Umständen zur notwendigen Erholung und Stärkung erforderlich sei. Im vorliegenden Fall seien aber Umstände, die es rechtfertigten, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit anzunehmen, nicht gegeben. Am Vormittag des Unfalltages sei die Arbeitszeit des L. ohne Besonderheiten gewesen. Auch für die Zeit nach der Mittagspause sei keine außergewöhnliche Tätigkeit zu erwarten gewesen. Aus den Arbeitsplatzbedingungen lasse sich ebenfalls nicht herleiten, daß ein Spaziergang während der Mittagspause für die Weiterarbeit erforderlich gewesen sei. Im Arbeitsraum habe am Unfalltag keine besondere Wärme oder Hitze geherrscht, auch wenn sich nicht habe feststellen lassen, ob die installierte Klimaanlage in Betrieb gewesen sei. Nach Auskunft des Wetteramtes E sei im Gebiet von H kein besonders warmes Wetter gewesen. Im Hinblick auf die starke Bewölkung könne auch ausgeschlossen werden, daß eine länger dauernde Sonneneinstrahlung im Büroraum zu einem Hitze- oder Wärmestau geführt habe. Die von den Klägern behauptete nicht ausreichende Belüftung des Büroraumes sei durch Zeugen nicht bestätigt worden. Überdies sei durch Fensterritzen ständig Frischluft eingedrungen. Unzutreffend sei, daß L. einen räumlich beengten Arbeitsplatz gehabt habe. Der Betriebslärm habe sich im Arbeitsraum des L. nicht als eine besondere Belästigung ausgewirkt, da am Unfalltag vorwiegend bei geschlossenem Fenster gearbeitet worden sei. Für den Spaziergang sei vielmehr maßgebend gewesen, daß L. habe "Sauerstoff tanken" wollen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Kläger haben das Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Ein in der Mittagspause unternommener Spaziergang, um Sauerstoff zu tanken und Kraft für die betriebliche Weiterarbeit zu sammeln, sei betriebsbezogen. Denn durch den Spaziergang hätten die Mängel des Arbeitsplatzes - Staub, Sonneneinstrahlung, Lärm, Enge des Raumes - ausgeglichen werden sollen. Sofern das LSG Bedenken gehabt habe, hätte es den Zeugen J nochmals vernehmen müssen. Falls das Revisionsgericht einen Spaziergang nur unter besonderen Umständen als versicherte Tätigkeit ansehe, sei dazu auszuführen, daß das LSG die tatsächlichen Verhältnisse unzutreffend gewürdigt habe. Der 18 qm große Büroraum sei mit vier Angestellten überbelegt gewesen. Es habe durchaus Grund bestanden, eine Klimaanlage einzubauen, die jedoch im Unfallzeitpunkt noch nicht in Betrieb gewesen sei. Daß durch Fensterritzen Frischluft eindringe, spreche nicht für die Überzeugungskraft des angefochtenen Urteils. Die Schlußfolgerung, daß der Spaziergang nicht unternommen worden sei, um während der Mittagspause dem Betriebslärm zu entgehen. lasse sich aus den Bekundungen des Zeugen J nicht herleiten. Der Zeuge hätte erforderlichenfalls dazu nochmals vernommen werden müssen. Es hätte auch nahe gelegen, ihm die Auskunft des Wetteramtes Essen vorzuhalten. Zudem hätte vom LSG eine eingehende Würdigung der Tatsache erwartet werden dürfen, daß auf dem Betriebsgelände weder ein Aufenthaltsraum noch Grünanlagen und Sitzgelegenheiten vorhanden seien. Dies seien besondere Umstände, die einen Spaziergang rechtfertigten.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. März 1975 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Detmold vom 7. März 1974 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beziehe sich auf ihr bisheriges Vorbringen und die Gründe des angefochtenen Urteils, die sie für überzeugend halte.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger ist nicht begründet.
Das LSG hat nicht als bewiesen angesehen, daß L. sich im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Weg zu einem Geldinstitut befunden hat, um dort einen Geldbetrag abzuheben. Insoweit bezeichnen die Kläger zwar § 548 Abs 1 Satz 2 RVO als die verletzte Rechtsnorm, legen jedoch nicht dar, warum ihrer Meinung nach das LSG diese Vorschrift unrichtig angewandt hat. Nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, gegen die zulässige und begründete Revisionsrügen nicht vorgebracht worden sind und an die das Bundessozialgerichts (BSG) daher gebunden ist (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), hatte L. nur die Absicht, während der Mittagspause spazieren zu gehen. Dem ihn begleitenden Zeugen J war vom Aufsuchen eines Geldinstituts nichts bekannt. Zudem hat das LSG festgestellt, daß L. das Geldinstitut, an das der Arbeitgeber sein Gehalt zahlte, nach Ablauf des letzten Gehaltszahlungszeitraumes bereits einmal persönlich aufgesucht hatte. Daher hat das LSG die Voraussetzungen des Versicherungsschutzes nach § 548 Abs 1 Satz 2 RVO zutreffend verneint.
Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß L. auf dem Spaziergang nicht versichert war. Der erkennende Senat hat sich wiederholt mit dem Versicherungsschutz auf Wegen (§ 550 Abs 1 RVO) beschäftigt, die Versicherte unternehmen, um sich Erholung und Erfrischung zu verschaffen (BSGE 4, 219, 223; 12, 254, 255; 16, 236, 239; SozR Nr 26 und 61 zu § 543 RVO aF; SozR Nr 15 zu § 550 RVO; BG 1967, 115; Urteile vom 31. Januar 1969 - 2 RU 116/67 - und vom 9. Dezember 1976 - 2 RU 145/74 -; vgl. auch Beschluß vom 17. Dezember 1975 - 2 BU 21/75 -). Nach dieser Rechtsprechung, der sich das LSG angeschlossen hat, besteht auf solchen Wegen Versicherungsschutz nur, wenn sie aus besonderen mit der betrieblichen Tätigkeit zusammenhängenden Umständen notwendig sind (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 482 b II und 482 c). Das bloße Interesse des Unternehmers, daß Arbeitspausen in vernünftiger Weise zur Erholung und Entspannung verwendet werden, damit die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers erhalten bleibt oder wiederhergestellt wird, reicht nicht aus, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen einem Spaziergang in der Mittagspause und der versicherten Tätigkeit zu begründen (vgl. BSGE 11, 267, 268).
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG lagen besondere Umstände, die aus betrieblichen Gründen einen Spaziergang in der Mittagspause für L. notwendig machten, nicht vor. Weder seine Arbeit am Vormittag, noch die im Anschluß an die Mittagspause zu erwartende Arbeit, auch nicht die Arbeitsplatzverhältnisse (Größe und Belegung des Arbeitsraumes, Temperatur, Belüftung, Geräusche) begründeten die Notwendigkeit eines Spazierganges. Soweit die Kläger die in diesem Zusammenhang erhobenen Beweise anders als das LSG würdigen, sind darin keine zulässigen und durchgreifenden Verfahrensrügen zu sehen. Eine nach Meinung der Kläger unzutreffende oder nicht erschöpfende Beweiswürdigung ist kein Verfahrensmangel (vgl. BSGE 2, 236, 237). Daß das LSG die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten hätte, haben die Kläger nicht geltend gemacht. Sie legen auch nicht dar, aus welchen Gründen das LSG sich zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) hätte gedrängt fühlen und den Zeugen J nochmals zum Zweck des Spazierganges oder zur Auskunft der Wetterwarte Essen hätte vernehmen müssen. Die durch ihren Prozeßbevollmächtigten vertretenen Kläger haben bei der Beweisaufnahme vor dem SG am 7. März 1974 weitere Fragen an den Zeugen nicht für erforderlich gehalten. Angesichts der nicht als ungünstig festgestellten Verhältnisse am Arbeitsplatz hat das LSG die Notwendigkeit eines Spazierganges in der Mittagspause zu Recht verneint, so daß ein Fehlen von Grünanlagen und Ruhebänken sowie eines Aufenthaltsraumes auf dem Betriebsgelände allein den ursächlichen Zusammenhang des Spazierganges mit der Beschäftigung des L. im Unternehmen der Firma H nicht zu begründen vermag.
Die Revision der Kläger war daher nach § 170 Abs 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen