Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Vertretungszwang vor dem BSG. Unzulässigkeit eines von einem vertretenen Beteiligten persönlich gestellten Befangenheitsantrags
Leitsatz (amtlich)
Der von einem Beteiligten, der in einem Verfahren vor dem BSG durch einen postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten vertreten wird, in dem Verfahren persönlich gestellte Befangenheitsantrag ist unzulässig.
Orientierungssatz
Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 19.5.2010 - 1 BvR 1089/10).
Normenkette
SGG §§ 60, 73 Abs. 4 S. 1 Fassung: 2007-12-12, § 71 Abs. 3 Fassung: 1975-12-11, § 166 Abs. 1 Fassung: 2003-07-24, § 202; ZPO § 44 Abs. 1, § 78 Abs. 5 Fassung: 2005-12-05
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.02.2009; Aktenzeichen L 9 U 1035/07) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 08.02.2007; Aktenzeichen S 7 U 106/06) |
Tatbestand
Mit Beschluss vom 23. Juli 2009 hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in der Besetzung mit dem Vorsitzenden Richter sowie den Richtern M und H die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Februar 2009 als unzulässig verworfen. Gegen diesen den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 3. August 2009 zugestellten Beschluss haben diese am 14. August 2009 Anhörungsrüge erhoben. Mit Schreiben vom 17. August 2009 hat der Kläger persönlich unter Bezugnahme auf die Anhörungsrüge den Vorsitzenden Richter sowie die Richter M und H wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Ausweislich der Begründung des Beschlusses vom 23. Juli 2009 fehle den Richtern jedwede Kenntnis der Newton'schen Mechanik und anderer Wissensgebiete oder die Fähigkeit oder der Wille derartige Sachverhalte zu durchdringen.
Entscheidungsgründe
Der vom Kläger persönlich mit Schreiben vom 17. August 2009 gestellte Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter sowie die Richter M und H ist unzulässig.
Nach § 73 Abs 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) müssen sich vor dem BSG die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Der vor allen obersten Gerichtshöfen des Bundes bestehende Vertretungszwang dient sowohl den Interessen des betroffenen Bürgers, der weder die Erfolgsaussichten einer Revision noch deren Zulassungsvoraussetzungen abschätzen kann, als auch denen des Revisionsgerichts, um dieses von unsinnigen und ggf wenig sachgerecht vorbereiteten Verfahren zu entlasten (vgl nur BSG vom 25. Oktober 1957 - 8 RV 935/57 - SozR Nr 20 zu § 166 SGG; Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 73 RdNr 39; Littmann in SGG Handkommentar ≪HK-SGG≫, 3. Aufl 2008, § 73 RdNr 16) . Im Rahmen der Neuordnung der Prozessvertretung durch das Rechtsberatungsneuregelungsgesetz vom 12. Dezember 2007 (BGBl I 2840) hat der Gesetzgeber diese Regelung noch verschärft und die zuvor bestehenden Ausnahmen in der Vorläufervorschrift § 166 Abs 1 SGG aF für Behörden, Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie Anstalten des öffentlichen Rechts sowie die Regelung über besonders Beauftragte in § 71 Abs 3 SGG aF abgeschafft.
Folge des Vertretungszwanges ist es, dass sämtliche Prozesshandlungen im Grundsatz wirksam nur durch den Prozessbevollmächtigten - nicht jedoch von dem Beteiligten selbst - vorgenommen werden können (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 73 RdNr 55) . Von diesem gesetzlichen Vertretungszwang nimmt § 73 Abs 4 SGG allein das Prozesskostenhilfeverfahren aus. Rechtfertigung dafür ist das Grundanliegen der Prozesskostenhilfe, den Zugang zu Gericht für unbemittelte Personen zu eröffnen (vgl nur BVerfGE 78, 104; BVerfGE 81, 347; BVerfGK 10, 84) ; durch das Erfordernis eines zB anwaltlichen Prozessbevollmächtigten schon für das Prozesskostenhilfeverfahren würde dieser Zugang erschwert. Inwieweit an den zum früheren § 166 Abs 1 SGG aF vertretenen weiteren Ausnahmen vom Vertretungszwang festzuhalten ist (zB BSG SozR 3-1750 § 706 Nr 1 für die Erinnerung gegen die Ablehnung der Erteilung eines Rechtskraftzeugnisses durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle; siehe zur alten Rechtslage nach § 166 SGG aF nur Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 166 RdNr 3 ff; zur neuen nach § 73 SGG ua Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 73 RdNr 45 ff) oder ob diese überholt sind (in diesem Sinne wohl Beschluss des 11. Senats des BSG vom 2.4.2009 - B 11 AL 2/09 C - RdNr 8) , bedarf hier keiner grundlegenden Entscheidung.
Zumindest bei einem Kläger, der in dem Verfahren, in dem er den Befangenheitsantrag stellt, durch einen beim BSG postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten vertreten wird, ist kein Grund zu erkennen, warum über diese in § 73 Abs 4 SGG festgeschriebene Ausnahme vom Vertretungszwang im Prozesskostenhilfeverfahren hinaus eine weitere Ausnahme bestehen sollte. Der oben aufgezeigte, rechtfertigende Grund für diese Ausnahme in Prozesskostenhilfeverfahren liegt bei einem Beteiligten, der schon einen Prozessbevollmächtigten hat, nicht vor.
Soweit in der Literatur auch zur neuen Rechtslage nach § 73 Abs 4 SGG - ohne zwischen Beteiligten mit und ohne Prozessbevollmächtigten zu differenzieren - der Befangenheitsantrag eines nicht vertretenen Beteiligten unter Hinweis auf § 202 SGG und § 44 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) als zulässig angesehen wird (Littmann in HK-SGG § 73 RdNr 17) , mangelt es an einer Begründung. Zwar kann nach § 44 Abs 1 ZPO, den § 60 Abs 1 Satz 1 SGG ua für entsprechend anwendbar erklärt, das Ablehnungsgesuch vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden und nach § 78 Abs 5 ZPO sind die Vorschriften über den Anwaltsprozess in § 78 Abs 1 bis 4 ZPO auf Prozesshandlungen, die vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vorgenommen werden können, nicht anzuwenden. § 73 Abs 4 Satz 1 SGG ordnet aber nicht die Geltung der Vorschriften über den Anwaltsprozess nach der ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren an, sondern regelt für das Verfahren vor dem BSG, dass die Beteiligten sich - außer im Prozesskostenhilfeverfahren - durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen müssen. Im Übrigen geht der Kreis dieser Prozessbevollmächtigten über den Kreis der Rechtsanwälte deutlich hinaus (vgl nur § 73 Abs 4 Satz 2 iVm Abs 2 Satz 1, 2 Nr 5 bis 9 SGG) .
Andere Gründe, warum von der klaren gesetzlichen Regelung des § 73 Abs 4 Satz 1 SGG bei einer solchen Fallgestaltung abgewichen werden sollte, sind nicht zu erkennen. Der Wortlaut des § 73 Abs 4 Satz 1 SGG mit der Benennung der einzigen Ausnahme für Prozesskostenhilfeverfahren spricht gegen weitere Ausnahmen vom Vertretungszwang, zumal die weiteren zu § 166 Abs 1 SGG aF vertretenen Ausnahmen bei dessen Ablösung durch § 73 Abs 4 SGG bekannt waren (vgl nur Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 166 RdNr 3 ff) , aber seitens des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Vertretungszwangs in § 73 Abs 4 SGG keine Berücksichtigung fanden. Der oben schon dargestellte Sinn und Zweck des Vertretungszwangs erfordert ebenfalls keine Ausnahme, sondern spricht bei einem Beteiligten, der durch einen Prozessbevollmächtigten ohnehin in dem Verfahren vertreten wird, gegen eine Ausnahme für Befangenheitsgesuche. Das zur Begründung von weiteren Ausnahmen angeführte Argument, der unvertretene Beteiligte solle nicht eigens für eine bestimmte Erklärung einen Prozessbevollmächtigten bestellen müssen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 73 RdNr 47) , greift bei einem ordnungsgemäß vertretenen Beteiligten naturgemäß nicht. Auch systematische Gründe sprechen in einer solchen Fallgestaltung gegen eine Ausnahme, denn zB die Zustellung des Beschlusses, in dem über das Befangenheitsgesuch entschieden wird, hat nicht an den Beteiligten persönlich, sondern an dessen Prozessbevollmächtigten zu erfolgen (§ 63 Abs 2 Satz 1 SGG, § 172 Abs 1 Satz 1 ZPO).
Fundstellen