Orientierungssatz
Gegen eine Verallgemeinerung des Satzes, daß der Erlaß eines Prozeßurteils statt eines Sachurteils oder umgekehrt stets ein Verfahrensmangel bedeutet.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1974-07-30, § 160a Abs. 2 S. 3 Fassung: 1974-07-30
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. März 1975 zugelassen.
Gründe
Mit der Klage verfolgt der Kläger die Erteilung eines sogenannten Zugunstenbescheides (§ 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -). Er möchte erreichen, daß frühere Rentenfeststellungsbescheide, durch welche die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) einschließlich einer besonderen beruflichen Betroffenheit auf 30. v. H. geschätzt worden war, geändert und der Grad seiner Erwerbsbehinderung auf 40 v. H. angehoben werden. Die früheren Verwaltungsakte waren durch - rechtskräftig gewordene - Gerichtsurteile bestätigt worden (zuletzt Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Baden-Württemberg vom 23. November 1961).
Der gegenwärtigen Klage hat das Sozialgericht (SG) nach Erhebung eines Sachverständigenbeweises nicht stattgegeben (Urteil vom 3. August 1972). Es hat sich von der Unrichtigkeit der älteren Entscheidungen nicht überzeugen können; an deren Rechtskraft seien die Beteiligten gebunden. - Noch bevor das SG den Sachverständigenbeweis erhoben hatte, hatte der Kläger schriftsätzlich (am 15. Juli 1970) - "hilfsweise" - die Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Prof. Dr. H beantragt. Der Schriftsatz enthielt zur Hauptsache den Klagantrag. In der mündlichen Verhandlung, die dem Urteil des SG vorausging, stellte der Kläger den Antrag "aus" diesem Schriftsatz. In dem klagabweisenden Urteil ist das Beweisbegehren nach § 109 SGG nicht erwähnt.
Die Berufung des Klägers hat das LSG als unzulässig verworfen (Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 6. März 1975). Es hat ausgeführt, für den hier auszutragenden Streit über den Grad der MdE sei das Rechtsmittel nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen. Allerdings sei es verfahrensrechtswidrig, wenn ein Tatsachenrichter sich über das Gesuch nach § 109 SGG hinwegsetze. Das SG habe aber auf diesen Beweisantrag nicht einzugehen brauchen, weil das Beweisresultat nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des SG nicht rechtserheblich gewesen sei (vgl. BSG SozR Nr. 25 zu § 109 SGG).
Denn von der Warte des erstinstanzlichen Richters her sei die Rechtskraft der Vorentscheidungen nicht durch neue Beweise zu erschüttern. - Dem in der Berufungsinstanz wiederholten Antrag nach § 109 SGG folgte das LSG nicht, weil die Berufung unzulässig sei.
Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs. 2 Nr. 3; § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG) erblickt er darin, daß das LSG ebenso wie das SG gegen § 123 SGG verstoßen, nämlich den Antrag des Klägers auf Anhörung des von ihm bestimmten Arztes unbeachtet gelassen habe. Als eine Verletzung des Verfahrensrechts beanstandet es der Kläger ferner, daß das Berufungsgericht durch Prozeß- und nicht durch Sachurteil entschieden habe. Des weiteren meint der Kläger, das LSG hätte die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zulassen müssen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Er wendet sich dagegen, daß das Berufungsgericht die von ihm als unrichtig erkannte Auffassung des SG über die Rechtskraftwirkung übernommen habe. Obgleich das LSG in der Rechtskraft älterer Entscheidungen kein Hindernis für eine Korrektur nach § 40 Abs. 1 VerwVG erblickt habe, habe es sich doch dem Berufungsbegehren des Klägers verschlossen.
Die Beschwerde ist begründet.
Dem Beschwerdevorbringen ist allerdings nicht zu entnehmen, woraus sich die Grundsätzlichkeit der zu entscheidenden Sache ergeben soll.
Der Kläger vermag ferner nicht mit der Rüge eines Verstoßes gegen § 123 SGG durchzudringen. Es kann auf sich beruhen, ob unter diese Vorschrift, wonach das Gericht über die von dem Kläger erhobenen Ansprüche zu befinden hat, der gegebene Sachverhalt unterzuordnen ist. Auch dann, wenn Anspruch i. S. des § 123 SGG nicht gleichbedeutend mit Streitgegenstand (§ 141 SGG) wäre und diese Vorschrift sich nicht bloß auf Sachanträge beziehen sollte (insoweit jedoch BSG 9, 17, 20), ist hier nicht auf diese Rechtsnorm zurückzugreifen. Maßgeblich ist vielmehr § 109 SGG, also die für den erörterten Beweisantrag gegebene Spezialnorm (dazu im übrigen, was die gegenwärtige Sachlage anbetrifft: BSG 3, 284). Ihre Verletzung kann jedoch in Verbindung mit einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht zum Gegenstand einer Verfahrensrüge erhoben werden (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG).
Des weiteren kann offen bleiben, ob in dem Vorbringen, das LSG hätte anstelle eines Prozeßurteils ein Sachurteil erlassen müssen, stets und ohne weiteres die Rüge eines Verfahrensmangels zu erkennen ist. Bedenken gegen eine Verallgemeinerung des angeführten Satzes ergeben sich im gegenwärtigen Streitfall ua daraus, daß das Berufungsurteil ausschlaggebend von einer Bewertung prozessualer Vorgänge der ersten Instanz bestimmt ist. Diese Bewertung bildet den Inhalt des Berufungsurteils, macht aber - zumindest unmittelbar - keinen Verfahrensmangel aus (vgl. SozR Nr. 40 zu § 162 SGG; Beschluß vom 28. März 1974 - 9 RV 458/73 -; RGZ 132, 330, 335; BGH 19. September 1967, VersR 1967, 1077: speziell in bezug auf die irrtümliche Annahme einer Bindungswirkung; BGH 14. Juli 1966, NJW 1966, 2210; BFH 26. Februar 1970, NJW 1971, 168; Stein/Jonas/Grunsky, Kommentar zur ZPO § 554 III A 3 a; Wieczorek, Zivilprozeßordnung, § 554 C III d 1, 4; andererseits ua BSG 4, 200, 201; 15, 169, 172). Hier ist indessen - dem Gesamtzusammenhang der Beschwerde - ein hinreichender Hinweis auf einen anderen Mangel des Verfahrens, und zwar des Berufungsverfahrens selbst zu entnehmen. Das Berufungsgericht hat zur Sache selbst eine Entscheidung nicht getroffen, weil es glaubte, von der - als unrichtig erkannten - Rechtsauffassung des SG nicht abgehen zu können. Denn für die Entscheidung über das Vorliegen eines Verfahrensmangels komme es auf die sachlich-rechtliche Auffassung des vorinstanzlichen Richters an (vgl. dazu BSG 2, 84, 87; SozR Nr. 40 zu § 103 SGG). Indem das Berufungsgericht sich an die unzutreffende Ansicht des Erstrichters hielt, verkannte es zugleich eine in allen Instanzen zu beachtende prozessuale Voraussetzung, nämlich das Gebot, daß das Bestehen oder Fehlen der materiellen Rechtskraft einer Vorentscheidung unabhängig von der hierzu vertretenen Ansicht der Vorinstanz zu klären ist (BSG SozR Nr. 40 zu § 162 SGG; BSG 8, 185, 188; 8, 284, 289; offen lassend: BSG 13, 181, 188; BGH 19. September 1967, VersR 1967, 1077; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anmerkung 3 a zu § 141 SGG; Stein/Jonas/Schumann/Leipold, Kommentar zur ZPO, § 322 IX 4; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., Rdnrn 9, 40 zu § 121). Richtiger Ansicht nach hätte das Berufungsgericht von der Erwägung ausgehen müssen, daß die Bestätigung eines früheren Bescheides durch ein rechtskräftiges Urteil der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides (§ 40 Abs. 1 VerwVG) nicht entgegensteht (BSG SozR 1500 § 141 Nr. 2; SozR 3900 § 40 Nrn. 2 und 3; vgl. auch BSG 19, 164, 167). Indem das Berufungsgericht diese Richtlinie unberücksichtigt gelassen hat, mißachtete es eine für seine eigene Entscheidung wichtige Prozeßfortsetzungsbedingung. Hierauf kann die Verfahrensrevision gestützt werden.
Fundstellen