Entscheidungsstichwort (Thema)

Beachtung der Rechtskraft

 

Leitsatz (redaktionell)

Zur Beachtung der Rechtskraft:

Das Bestehen oder Fehlen der materiellen Rechtskraft einer Vorentscheidung hat die Rechtsmittelinstanz unabhängig von der hierzu vertretenen Ansicht der Vorinstanz zu klären.

 

Normenkette

SGG § 141 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 06.03.1975; Aktenzeichen L 12 V 1407/72)

SG Reutlingen (Entscheidung vom 03.08.1972; Aktenzeichen S 9 V 966/70)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. März 1975 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Mit der Klage verfolgt der Kläger die Erteilung eines sogenannten Zugunstenbescheides (§ 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -). Er möchte erreichen, daß frühere Rentenfeststellungsbescheide, durch welche die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 30 v.H. geschätzt worden war, geändert und der Grad seiner Erwerbsbehinderung auf 40 v.H. angehoben werden. Die früheren Verwaltungsakte waren zum Teil durch - rechtskräftig gewordene - Gerichtsurteile bestätigt worden (zuletzt Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Baden-Württemberg vom 23. November 1961). Die Versorgungsverwaltung lehnte mit Rücksicht auf die Bindung an die Vorentscheidungen eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs ab (Bescheid vom 4. Mai 1970; Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1970).

Der gegenwärtigen Klage, mit welcher der Kläger vor allem seine berufliche Betroffenheit verficht, hat das Sozialgericht (SG) nach Erhebung eines Sachverständigenbeweises nicht stattgegeben (Urteil vom 3. August 1972). Es hat sich von der Unrichtigkeit der älteren Entscheidungen, namentlich der Verneinung einer besonderen Berufsbetroffenheit, nicht überzeugen können; an die Rechtskraft der Vorentscheidungen seien die Beteiligten gebunden. - Noch bevor das SG den Sachverständigenbeweis erhoben hatte, hatte der Kläger schriftsätzlich (am 15. Juli 1970) - "hilfsweise" -  die Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Prof. Dr. Hauf beantragt. Der Schriftsatz enthielt zur Hauptsache den Klagantrag. In der mündlichen Verhandlung, die dem Urteil des SG vorausging, stellte der Kläger den Antrag "aus" diesem Schriftsatz. In dem klagabweisenden Urteil ist das Beweisbegehren nach § 109 SGG nicht erwähnt.

Die Berufung des Klägers hat das LSG als unzulässig verworfen (Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 6. März 1975). Es hat ausgeführt, für den hier auszutragenden Streit über den Grad der MdE sei das Rechtsmittel nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen. Allerdings sei es verfahrensrechtswidrig, wenn ein Tatsachenrichter sich über das Gesuch nach § 109 SGG hinwegsetze. Das SG habe aber auf diesen Beweisantrag nicht einzugehen brauchen, weil das Beweisresultat nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des SG nicht rechtserheblich gewesen sei (vgl. BSG SozR Nr. 25 zu § 109 SGG). Denn von der Warte des erstinstanzlichen Richters her habe die Rechtskraft der Vorentscheidungen es nicht erlaubt, sie auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Infolgedessen sei für eine Beweisermittlung, auch für die Erhebung des Sachverständigenbeweises gemäß § 109 SGG kein Raum gewesen.

Der Kläger hat die - zugelassene (Beschluß des Bundessozialgerichts - BSG - vom 18. Mai 1976) - Revision eingelegt. Er wendet sich dagegen, daß das Berufungsgericht die als unrichtig erkannte Auffassung des SG über die Rechtskraftwirkung übernommen habe. Obgleich das LSG in der Rechtskraft älterer Entscheidungen kein Hindernis für eine Korrektur nach § 40 Abs. 1 VerwVG erblickt habe, habe es sich doch dem Berufungsbegehren des Klägers verschlossen.

Der Kläger beantragt,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet; die erhobene Verfahrensrüge greift durch.

Das LSG durfte die auf eine Verletzung des § 109 SGG gestützte Berufung nicht deshalb als unzulässig verwerfen, weil es glaubte, von der - als unrichtig erkannten - Rechtsauffassung des SG nicht abgehen zu können. Zwar kommt es für die Entscheidung über das Vorliegen eines Verfahrensmangels grundsätzlich auf die sachlich-rechtliche Auffassung des vorinstanzlichen Richters an (vgl. dazu BSG 2, 84, 87; SozR Nr. 40 zu § 103 SGG). Im gegenwärtigen Streitfalle verkannte das Berufungsgericht, das sich an die unzutreffende Ansicht des Erstrichters hielt, jedoch eine in allen Instanzen zu beachtende prozessuale Voraussetzung. Es vernachlässigte das Gebot, daß das Bestehen oder Fehlen der materiellen Rechtskraft einer Vorentscheidung unabhängig von der hierzu vertretenen Ansicht der Vorinstanz zu klären ist (BSG SozR Nr. 40 zu § 162 SGG; BSG 8, 185, 188; 8, 284, 289; offen lassend: BSG 13, 181, 188; BGH 19. September 1967, VersR 1967, 1077; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anmerkung 3a zu § 141 SGG; Stein/Jonas/Schumann/Leipold, Kommentar zur ZPO, § 322, Anm. IX 4; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., Rdnrn, 9, 40 zu § 121). In der Rechtskraftfrage mußte das Berufungsgericht also den für zutreffend gehaltenen Weg einschlagen. Dann hätte es von der Erwägung ausgehen müssen, daß die Bestätigung eines früheren Bescheides durch ein rechtskräftiges Urteil der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides (§ 40 Abs. 1 VerwVG) nicht entgegensteht (BSG SozR 1500 § 141 Nr. 2; SozR 3900 § 40 Nrn 2 und 3; vgl. auch BSG 19, 164, 167). Indem das Berufungsgericht diese Richtlinie unberücksichtigt gelassen hat, mißachtete es eine für seine eigene Entscheidung wichtige Prozeßfortsetzungsbedingung.

Deswegen ist die Revision auch begründet. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist in dem Rechtsstreit darüber, ob frühere Bescheide gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG zu berichtigen sind, der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes (§ 109 SGG) dann zu befolgen, wenn die Beweisfrage erheblich ist (BSG 29, 278, 284). Ob dies der Fall ist, im besonderen ob der Ausgang des Rechtsstreits von einer medizinischen Beurteilung abhängt, wird aufgrund der konkreten Umstände des gegenwärtigen Falles zu entscheiden sein. Sollte dies zu bejahen sein - und das SG hat dies, wie der von ihm erhobene Sachverständigenbeweis zeigt, angenommen -, so wird dem LSG die Entscheidung in der Sache selbst zufallen. Damit das Berufungsgericht Gelegenheit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erhält, wird der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerde- und Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651137

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