Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Beendigung der Kassenzulassung wegen Erreichens der 68-Jahres-Altersgrenze. Verfassungsmäßigkeit und Europarechtskonformität der bis zum 30.9.2008 geltenden Altersgrenze für Vertragsärzte
Leitsatz (amtlich)
Die bis zum 30.9.2008 geltende Altersgrenze für Vertragsärzte ist mit dem GG und mit europäischem Recht vereinbar.
Normenkette
SGB 5 § 95 Abs. 7 S. 3 Fassung: 2003-11-14; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1; EGRL 78/2000 Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. Januar 2010 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2 - 7.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 183 024 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des beklagten Berufungsausschusses, dass seine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung zum 31.3.2007 aus Altersgründen beendet sei.
Der am 24.3.1939 geborene Kläger ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Seit dem 3.12.1973 war er in B., Landkreis C., zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Mit Schreiben vom 14.9.2006 beantragte er bei der Beigeladenen zu 1. eine Ausnahmegenehmigung zum Weiterbetrieb seiner Praxis nach Vollendung seines 68. Lebensjahres. Der Zulassungsausschuss lehnte den Verlängerungsantrag mit Beschluss vom 5.12.2006 ab und stellte das Ende der Zulassung des Klägers am 31.3.2007 fest. Den Widerspruch wies der beklagte Berufungsausschuss mit Beschluss vom 21.3.2007 zurück. Während des anschließenden Klageverfahrens veräußerte der Kläger seine vertragsärztliche Praxis an die Beigeladene zu 8, die die Praxis seit dem 1.7.2008 fortführt. Das SG Hannover hat die Klage mit Urteil vom 18.2.2009 abgewiesen, das LSG Niedersachsen-Bremen hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 27.1.2010 zurückgewiesen. Die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig, weil der Kläger ein Rehabilitationsinteresse geltend machen könne. Da die Altersgrenze bei Vertragsärzten herkömmlicherweise auch mit der eingeschränkten Leistungsfähigkeit älterer Ärzte gerechtfertigt werde, sei nicht auszuschließen, dass die Beendigung der Zulassung in der Öffentlichkeit auch im Hinblick auf den Kläger, der weiterhin privatärztlich tätig sei, mit einem solchen Verlust an Leistungsfähigkeit verbunden werde.
Die Klage sei aber nicht begründet. Der Beklagte habe zu Recht festgestellt, dass die Zulassung des Klägers mit Ablauf des 1. Quartals 2007 geendet habe. § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V aF verletze kein höherrangiges Recht. In der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG sei geklärt, dass insbesondere ein Verstoß gegen Art 12 Abs 1 GG nicht vorliege. Die Altersgrenze stehe auch nicht im Widerspruch zum Verbot der Diskriminierung wegen Alters, das sich aus der Europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78 EG bzw dem diese umsetzenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ergebe. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe mit Urteil vom 12.1.2010 entschieden, dass die Altersgrenze für Vertragszahnärzte keine Diskriminierung sei, wenn die Begrenzung in geeigneter und widerspruchsfreier Weise einem Ziel des Gesundheitsschutzes oder der Beschäftigungspolitik diene. Die Beendigung der Zulassung werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 95 Abs 7 SGB V in der seit dem 1.10.2008 geltenden Fassung keine Altersgrenze mehr vorsehe. Soweit der Kläger eine Verletzung des Gleichheitssatzes darin sehe, dass nach § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V nF Vertragsärzte, die im Jahr 2008 das 68. Lebensjahr vollendet haben, unter bestimmten Voraussetzungen ihre Zulassung nicht verlieren, übersehe er, dass die Privilegierung nur greife, wenn der Vertragsarztsitz nicht fortgeführt werde.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Es stelle sich die Rechtsfrage, ob die gesetzliche Regelung einer Höchstaltersgrenze für die Zulassung zur Berufsausübung als Vertragsarzt iS des Art 12 GG eine objektive und angemessene Maßnahme zum Schutz eines legitimen Zieles und ein zur Erreichung dieses Zieles angemessenes und erforderliches Mittel sein könne, wenn sie aus einer auf allgemeine Lebenserfahrung gestützten Annahme eines ab einem bestimmten Lebensalter eintretenden generellen Leistungsabfalls hergeleitet werde, ohne dass dabei dem individuellen Leistungsvermögen des konkret Betroffenen in irgendeiner Weise Rechnung getragen werden könne. Ferner sei zu klären, ob die gesetzliche Altersbegrenzung des § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V aF im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG sowie Art 12 Abs 1 GG verfassungsmäßig gewesen sei und ob die Altersgrenzenregelung mit der auf Art 13 EGV beruhenden Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 in Einklang stehe. Es verstoße überdies gegen Art 3 Abs 1 GG, wenn Ärzte, die im Jahr 2008 das 68. Lebensjahr vollendet haben, ohne Weiteres vom Wegfall der Altersgrenze profitieren dürften, er hingegen ausscheiden müsse. Schließlich hätte der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen für B. eine Unterversorgung feststellen müssen.
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Es kann offen bleiben, ob es an einer grundsätzlichen Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bereits deshalb fehlt, weil die Rügen des Klägers außer Kraft getretenes, sogenanntes ausgelaufenes Recht betreffen. Den von ihm aufgeworfenen Rechtsfragen kommt jedenfalls keine grundsätzliche Bedeutung mehr zu, weil sie als geklärt anzusehen sind. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss des BVerfG ≪Kammer≫ vom 31.3.1998 - 1 BvR 2167/93 - und 1 BvR 2198/93 - SozR 3-2500 § 95 Nr 17 sowie Nichtannahmebeschluss vom 7.8.2007 - 1 BvR 1941/07 - SozR 4-2500 § 95 Nr 13) und des erkennenden Senats (zuletzt Urteile des Senats vom 9.4.2008 - B 6 KA 44/07 R - USK 2008, 23 und vom 6.2.2008 - B 6 KA 41/06 R - SozR 4-2500 § 95 Nr 14) ist die Altersgrenze für die Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit mit Vollendung des 68. Lebensjahres gemäß § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V (idF des GMG vom 14.11.2003, BGBl I 2190) mit dem GG vereinbar.
Dabei hat der Senat auch entschieden, dass sich diese Bewertung nicht durch die Einschränkung der Geltung der Altersgrenze für den Fall bestehender oder bevorstehender Unterversorgung durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz zum 1.1.2007 ändert, die Altersgrenze vielmehr gerechtfertigt ist, solange noch in den meisten Planungsbereichen und in den meisten ärztlichen Fachgebieten eine Überversorgung besteht (BSGE 100, 43 = SozR 4-2500 § 95 Nr 14 RdNr 12). Einer verfassungsrechtlichen Neubewertung bedarf es auch nicht deshalb, weil der Gesetzgeber die Altersgrenze für Vertragsärzte durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG vom 15.12.2008, BGBl I 2426) zum 1.10.2008 aufgehoben hat. Dem Gesetzgeber kommt grundsätzlich ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu (vgl zuletzt zu objektiven Berufszugangsvoraussetzungen BVerfG, Beschluss vom 8.6.2010 - 1 BvR 2011/07 und 1 BvR 2959/07 mwN DVBl 2010, 1035). Nach der Begründung für die Neufassung des § 95 Abs 7 SGB V (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/10609 S 55 f) wurde die Altersgrenze aufgehoben, weil die Erfahrungen mit Leistungserbringern, die über das 68. Lebensjahr hinaus etwa in Bezirken mit Unterversorgung Patientinnen und Patienten behandelten, dies rechtfertigten und zugleich Versorgungsprobleme bei nicht gesicherter Nachfolge vermieden werden könnten. Daraus wird zwar deutlich, dass der Gesetzgeber aufgrund der in der Zwischenzeit gewonnenen Erfahrungen und der geänderten Versorgungsverhältnisse die tatsächlichen Bedingungen für eine gesetzliche Altersgrenze für Vertragsärzte mittlerweile anders einschätzt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die gesetzgeberische Einschätzung für den hier streitigen Zeitraum den verfassungsrechtlich vorgegebenen Spielraum überschritten hat. Die Begründung zeigt vielmehr, dass der Gesetzgeber die Regelung auf ihre Tauglichkeit und Angemessenheit beobachtet und im Hinblick auf die dabei gewonnenen Erkenntnisse anders beurteilt hat (vgl zur Beobachtungspflicht des Gesetzgebers BVerfGE 123, 186, 266; 111, 10, 42).
Es ergibt sich auch kein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG dadurch, dass § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V den Vertragsärzten, die im Jahr 2008 das 68. Lebensjahr vollendet haben, eine Weiterführung der Praxis ermöglicht, wenn der Vertragsarztsitz nicht nach § 103 Abs 4 SGB V fortgeführt wird. Dabei handelt es sich um eine Übergangsregelung, für deren Ausgestaltung der Gesetzgeber einen breiten Gestaltungsspielraum hat (vgl BVerfGE 98, 265, 309 f). Diesen Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber nicht dadurch überschritten, dass er eine Übergangsregelung nur für die Vertragsärzte getroffen hat, die im Jahr des Inkrafttretens der Neuregelung das 68. Lebensjahr vollenden. Der Kläger könnte von dieser Regelung im Übrigen ohnehin nicht profitieren, weil seine Praxis seit dem 1.7.2008 von der Beigeladenen zu 8. fortgeführt wird.
Durch die Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass die Regelung des § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V aF mit europäischem Recht vereinbar ist. Der EuGH hat mit Urteil vom 12.1.2010 (C - 341/08 - Petersen) entschieden, dass Art 6 Abs 1 der Richtlinie 2000/78 EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dahin auszulegen ist, dass er einer Altersgrenze für Vertragszahnärzte nicht entgegensteht, wenn diese die Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen innerhalb der Berufsgruppe der Vertragszahnärzte zum Ziel hat und wenn sie unter Berücksichtigung der Situation auf dem betreffenden Arbeitsmarkt zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich ist. Dass die Altersgrenze für Vertragsärzte diese Zielrichtung hat, hat der Senat in seiner Rechtsprechung mehrfach ausgeführt (BSGE 83, 135, 141 ff = SozR 3-2500 § 95 Nr 18 S 69 ff; SozR 3-2500 § 95 Nr 32 S 154 ff; BSGE 100, 43 = SozR 4-2500 § 95 Nr 14 RdNr 11, RdNr 18 ff in Bezug auf Art 6 der Richtlinie sowie § 10 AGG). Im System der versorgungsgradabhängigen Bedarfsplanung mit örtlichen Zulassungssperren dient sie der Wahrung der Berufszugangschancen für jüngere, an der Zulassung interessierte Ärzte, die die Möglichkeit haben sollen, eine vertragsärztliche Tätigkeit auch in wegen Überversorgung gesperrten Gebieten aufzunehmen.
Soweit der Kläger meint, der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hätte für den Bereich B. eine Unterversorgung feststellen müssen, fehlt es an der Darlegung eines Zulassungsgrundes iS des § 160 Abs 2 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 2, 162 Abs 3 VwGO.
Die Entscheidung über den Streitwert folgt derjenigen des Berufungsgerichts und beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 52 Abs 1, 47 Abs 3 GKG.
Fundstellen
Haufe-Index 2391719 |
FA 2011, 95 |