Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10.10.1995; Aktenzeichen L 15 U 153/94)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger ist mit seinem Begehren, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 2. Juni 1988 über den Monat Juni 1990 hinaus Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit zu gewähren, ohne Erfolg geblieben (Bescheid vom 18. Mai 1990 idF des Widerspruchsbescheides vom 25. September 1990; Urteile des Sozialgerichts vom 5. Mai 1994 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 10. Oktober 1995). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, dem Kläger stehe keine Verletztenrente zu. Er sei durch die Folgen des Arbeitsunfalls über den Monat Juni 1990 hinaus nicht mehr um 20 vH und damit nicht in rentenberechtigendem Grad in der Erwerbsfähigkeit gemindert (§ 581 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫). Die durch die Stichverletzung mit einer infizierten Kanüle und ihre Folgen verursachte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit bedinge lediglich eine MdE um 10 vH. Ebensowenig sei eine Höherbewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO zu begründen. Eine unbillige Härte im Sinne dieser Vorschrift liege hier nicht vor. Der zwar nicht unbedeutende Einkommensverlust im Vergleich zur Chefarzttätigkeit bis zum Unfall falle angesichts der dem Kläger verbliebenen und auch von ihm durch seine Gutachtertätigkeit realisierten Erwerbschancen nicht so sehr ins Gewicht, als mit ihm eine besondere Härte zu begründen wäre.

Zur Begründung seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Er meint, klärungsbedürftig seien folgende Rechtsfragen:

  1. Ist es zulässig, die Erhöhung der MdE wegen unbilliger Härte dann zu verneinen, wenn der Verletzte nach Aufgabe seiner unmittelbaren Berufstätigkeit eine Arbeit aufnimmt, mit der er einen Verdienst erzielt, der oberhalb der maßgeblichen Jahres-Arbeitsverdienstgrenze liegt?
  2. Ist es zulässig, eine unbillige Härte iS des § 581 Abs 2 RVO zu verneinen, wenn ein Arzt – hier Chirurg und Unfallchirurg – nicht mehr praktisch tätig sein kann und nur noch eine Tätigkeit gutachterlich ausüben kann?
  3. Ist es zulässig, eine unbillige Härte iS des § 581 Abs 2 RVO zu verneinen, wenn durch den Wechsel der Tätigkeit aufgrund des Arbeitsunfalls die berufliche „Lebensfreude” vermindert wird?
  4. Besteht ein Rangverhältnis zwischen den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Beurteilung der unbilligen Härte i.S.d. des § 581 Abs 2 RVO?
  5. Liegt eine unbillige Härte iS des § 581 Abs 2 RVO mit der Folge der Erhöhung der MdE vor, wenn der Verletzte sein Arbeitsverhältnis wegen des Arbeitsunfalls auflösen muß und hinterher nur noch freiberuflich tätig sein kann?

Die Beschwerde ist zurückzuweisen. Die Sache hat nicht die vom Beschwerdeführer geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung.

Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. Grundsätzliche Bedeutung hat das angestrebte Revisionsverfahren nur, wenn der Rechtsstreit sich in seiner Bedeutung nicht in diesem Einzelfall erschöpft, sondern dazu dienen kann, die Rechtseinheit zu wahren und die Entwicklung des Rechts zu fördern. Das ist dann der Fall, wenn die für grundsätzlich gehaltenen Rechtsfragen klärungsbedürftig sind (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 63 mwN). Das ist für sämtliche vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Fragen nicht gegeben.

Bereits vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I, 241) entsprach es der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), zur Vermeidung unbilliger Härten bei der Bemessung der MdE auch die Auswirkungen der Unfallfolgen auf den Lebensberuf des Verletzten im Einzelfall angemessen zu berücksichtigen (vgl BSGE 1, 174, 178; 4, 294, 298). Die durch das UVNG eingeführte Vorschrift des § 581 Abs 2 RVO normiert im wesentlichen die bis dahin entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung (vgl BSGE 23, 253, 254; 28, 227, 229; 39, 31, 32). Danach sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann. Allerdings läßt diese unfallversicherungsrechtliche Regelung keine allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit – etwa entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes – zu. Eine derartige Auslegung widerspräche den Voraussetzungen und der gegenüber dem Versorgungsrecht anders gearteten Systematik des Unfallversicherungsrechts (BSGE 70, 47, 49). Im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO liegen die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile aber dann vor, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (st Rspr seit BSGE 23, 253, 255; vgl auch BSGE 31, 185, 188; 39, 31, 32; BSG SozR Nrn 10 und 12 zu § 581 RVO; BSG SozR 2200 § 581 Nrn 18 und 27).

Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat das BSG insbesondere das Alter des Verletzten (BSGE 4, 294, 299), die Dauer der Ausbildung (BSG SozR Nr 10 zu § 581 RVO) sowie vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit (BSGE 4, 294, 298; BSG SozR aaO Nrn 9 und 10) und auch den Umstand bezeichnet, daß die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (BSG SozR aaO Nrn 10 und 12). Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalls kann sich eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann (BSGE 70, 47, 49). Dieser Rechtsprechung ist schließlich zu entnehmen, daß die einzelnen Umstände des jeweiligen Falls nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit zu beurteilen sind (BSGE aaO). Ein Rangverhältnis zwischen den einzelnen Kriterien hat das BSG nicht aufgestellt; vielmehr ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen.

Diese Einzelfallprüfung hat das LSG im Rahmen des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG durchgeführt, die Summe der einzelnen wesentlichen Merkmale in ihrer Gesamtheit gewürdigt und im Rahmen dieser Wertung das Vorliegen einer unbilligen Härte iS des § 581 Abs 2 RVO verneint.

Von diesen in der Rechtsprechung entwickelten – und vom LSG im einzelnen beachteten – Grundsätzen ausgehend sind die vom Beschwerdeführer für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Fragen nicht klärungsbedürftig. Sie betreffen alle die Bewertung der einzelnen Umstände in ihrer Gesamtheit. Bei seiner Bewertung hat das LSG das Einkommen des Klägers nach dem Arbeitsunfall als Außengutachter für das Versorgungsamt Dortmund ebenso berücksichtigt wie seine herausragende Stellung als Chefarzt einer chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses und den unfallbedingten Verlust dieser Position. In der Bewertung des LSG enthalten ist auch die vom Beschwerdeführer dargelegte Verminderung der „beruflichen Lebensfreude” und die durch die Unfallfolgen verursachte Auflösung des Arbeitsverhältnisses als chirurgischer Chefarzt. Daß das LSG sodann diese besonderen Umstände anders gewertet hat, als es der Kläger für richtig hält, kann nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führen.

Die Beschwerde war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173443

SozSi 1997, 37

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