Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Terminsverlegungsantrag. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Wird einem Beteiligten zB ein vom Gericht anberaumter Verhandlungstermin nicht mitgeteilt oder nach Beweisaufnahme trotz nicht mehr wirksamer Verzichtserklärung ohne mündliche Verhandlung entschieden, reicht es wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens vielmehr aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl BSG vom 22.09.1977 - 10 RV 79/76 = BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 und vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - mwN). Gleichermaßen wird einem Verfahrensbeteiligten das Recht auf mündliche Verhandlung versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache abschließend entscheidet, obwohl der Beteiligte zuvor gemäß § 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 SGG einen Terminverlegungsantrag gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat. Das Gericht ist in einem derartigen Fall bei ordnungsgemäßem Vorgehen verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen oder zu vertagen (vgl ua BSG vom 10.08.1995 - 11 RAr 51/95 = SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2). Auch dann reicht es aus, dass bei Anwesenheit des Verfahrensbeteiligen eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist (vgl BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B = SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62).
2. Im Zweifel hat der Anspruch auf Wahrung des rechtlichen Gehörs Vorrang vor dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 202; ZPO § 227 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.10.2010; Aktenzeichen L 11 KR 4730/09) |
SG Konstanz (Urteil vom 26.03.2009; Aktenzeichen S 2 KR 12/06) |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet insbesondere unter einer pulmonalen Hypertonie mit fortgeschrittenem Cor pulmonale. Er ist mit seinem Begehren, ihm Krankengeld (Krg) für die Zeiträume vom 16.3. bis 31.12.2002, vom 1.5. bis 21.5.2003 und vom 31.5. bis 31.12.2003 zu gewähren, bislang ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat seine Berufung gegen das in erster Instanz ergangene klageabweisende Urteil wegen Versäumung der Berufungsfrist unter Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verworfen. Außerdem bestehe auch kein Anspruch auf Krg (Urteil vom 26.10.2010).
Nunmehr wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.
II. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet.
1. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gerügt hat. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Satz 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention, § 62 SGG) verletzt, weil das Gericht am 26.10.2010 in der Sache entschieden hat, obwohl der Kläger annehmen durfte, eine instanzbeendende Entscheidung werde jedenfalls an diesem Tag nicht ergehen.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Grundsätzlich bedarf es allerdings keines weiteren Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). Wird einem Beteiligten zB ein vom Gericht anberaumter Verhandlungstermin nicht mitgeteilt oder nach Beweisaufnahme trotz nicht mehr wirksamer Verzichtserklärung ohne mündliche Verhandlung entschieden, reicht es wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens vielmehr aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (BSGE 44, 292, 295 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG Beschluss vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - mwN). Gleichermaßen wird einem Verfahrensbeteiligten das Recht auf mündliche Verhandlung versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache abschließend entscheidet, obwohl der Beteiligte zuvor gemäß § 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 SGG einen Terminverlegungsantrag gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat. Das Gericht ist in einem derartigen Fall bei ordnungsgemäßem Vorgehen verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen oder zu vertagen (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG Beschluss vom 13.11.2008 - B 13 R 303/07 B; BSG Beschluss vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - RdNr 5). Auch dann reicht es aus, dass bei Anwesenheit des Verfahrensbeteiligen eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). So liegt es hier.
Der unvertretene Kläger hatte erhebliche Gründe für seinen am Sitzungstag gestellten Terminverlegungsantrag geltend gemacht: eine akute Verschlechterung seiner Sauerstoffsättigung im Blut trotz hoher Sauerstoffgabe und Dauerbeamtung. Das LSG konnte seine Verhandlungs- und Reiseunfähigkeit nicht ausschließen. Der Kläger legte damit zugleich dar, warum er sich nicht früher auf diesen Grund hatte berufen können. In einem solchen Fall ist das Gericht verpflichtet, den Termin zu verlegen oder zu vertagen. Dem steht nicht entgegen, dass das LSG die Berufung als unzulässig verworfen hat und diese Entscheidung auch im Beschlusswege ohne mündliche Verhandlung hätte ergehen können (§ 158 Satz 2 SGG). Denn hier ist der Kläger vor der mündlichen Verhandlung nicht dazu angehört worden, dass und warum eine Verwerfung der Berufung in Betracht kommt. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu einer anderen rechtlichen Bewertung des Sachverhalts durch das LSG geführt hätte.
Es bedarf keiner Vertiefung, ob das LSG grundsätzlich befugt gewesen wäre, den Kläger aufzufordern, seine krankheitsbedingte Verhinderung glaubhaft zu machen. Wenn dem Gericht ein vorgetragener Verhinderungsgrund für einen Antrag auf Terminsverlegung nicht hinreichend substantiiert erscheint, erfordern es die Grundsätze des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens, dem Beteiligten stets die Möglichkeit zu geben, die entsprechenden Angaben nachzuholen und die erforderlichen Unterlagen einzureichen (BSG Beschluss vom 1.7.2010 - B 13 R 561/09 B - RdNr 12). Davon hat das LSG abgesehen. Selbst wenn dem Kläger eine ausreichende Glaubhaftmachung am Sitzungstag nicht mehr möglich gewesen wäre, wäre entgegen der Auffassung des LSG eine Vertagung unumgänglich gewesen (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59; s ferner BFH Beschluss vom 19.08.2003 - IX B 36/03 - DStRE 2004, 540). Denn im Zweifel hat der Anspruch auf Wahrung des rechtlichen Gehörs Vorrang vor dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung.
2. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen