Entscheidungsstichwort (Thema)
Sprachschwierigkeiten nicht stets Wiedereinsetzungsgrund
Orientierungssatz
Das Bundesverfassungsgericht hält es zwar grundsätzlich für geboten, einem Ausländer, der eine Rechtsmittelbelehrung nicht versteht, im Strafbefehls- und Bußgeldverfahren mit einwöchiger Anfechtungsfrist eine Fristversäumnis nachzusehen (vgl BVerfG 1976-04-07 2 BvR 728/75 = BVerfGE 42, 120, 124). Dies gilt aber nicht uneingeschränkt für alle anderen Gerichtsverfahren, namentlich nicht für das Sozialgerichtsverfahren bei einer dreimonatigen Rechtsmittelfrist (hier: nach Zustellung eines Urteils an einen in Polen lebenden deutschen Volkszugehörigen mit Sprachschwierigkeiten).
Normenkette
SGG § 67 Fassung: 1953-09-03, § 87 Abs 1 S 2 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 27 Fassung: 1980-08-18
Gründe
Prozeßkostenhilfe kann dem Kläger allein deshalb nicht gewährt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 114 Abs 1 Satz 1 Zivilprozeßordnung idF des Gesetzes über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1981 - BGBl I 677 -).
Eine form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision (§§ 160, 160a, 166 SGG) wäre nicht erfolgreich. Ein Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 SGG ist weder aus der Beschwerdebegründung noch aus dem Akteninhalt ersichtlich. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (Nr 1); das Berufungsurteil weicht nicht erkennbar von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes ab (Nr 2). Es ist auch kein Verfahrensmangel der zweiten Instanz zu erkennen, der die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte (Nr 3). Insbesondere hat das Landessozialgericht (LSG) nicht in der Sache selbst entscheiden müssen, sondern zu Recht die Berufung des Klägers wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen (§ 158 Abs 1 SGG).
Der Kläger hat die dreimonatige Berufungsfrist versäumt, die mit der ordnungsmäßigen Zustellung des Urteils des Sozialgerichts auf diplomatischem Wege zu laufen begann (§§ 151, 153 Abs 1, § 87 Abs 1 Satz 2, §§ 64, 135, 63 Abs 2 SGG, § 2 Abs 1 Satz 3, § 14 Verwaltungszustellungsgesetz). Entgegen der Auffassung des Klägers, der sich auf polnisches Recht berufen zu können glaubt, bestimmt sich die Fristberechnung allein nach deutschem Recht. Für die Fristwahrung ist demnach der Eingang der Berufungsschrift beim zuständigen deutschen Gericht maßgebend, hingegen nicht das Aufgeben der Sendung bei der Post.
Das LSG hat auch zu Recht dem Kläger keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt; denn er war nicht ohne Verschulden verhindert, die Berufungsfrist zu wahren (§ 67 Abs 1 SGG). Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils war zutreffend (§ 66 SGG) und machte den Kläger klar und unzweideutig damit vertraut, auf welche Weise die Berufungsfrist einzuhalten war. Diese Belehrung war in deutscher Sprache abzufassen (§ 61 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 184 Gerichtsverfassungsgesetz; BVerfGE 42, 120, 125; BVerwG, Bayerische Verwaltungsblätter 1978, 474; OLG Stuttgart und Frankfurt am Main, Neue Juristische Wochenschrift -NJW- 1980, 1238). Es erscheint schon fraglich, ob der Kläger die deutsche Gerichtssprache nicht genügend beherrscht; seine Eingaben im vorausgegangenen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sowie sein Begehren, ihm als Deutschen oder deutschen Volkszugehörigen Versorgung zu gewähren, sprechen gegen seine Behauptung (BSGE 50, 279, 281 f = SozR 5070 § 20 Nr 3). Aber selbst wenn er mit der deutschen Sprache nicht genügend vertraut wäre, könnte ihm nicht deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Wohl ist einem Ausländer, dessen sprachliche Schwierigkeiten zu berücksichtigen sind, gerichtlicher Rechtsschutz in gleichem Umfange und ebenso wirksam wie jedem Deutschen zu gewähren (BVerfGE 40, 95, 98 f; 42, 120, 123; vgl auch BGH, Versicherungsrecht 1977, 646). Deshalb hält es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) grundsätzlich für geboten, einem Ausländer, der eine Rechtsmittelbelehrung nicht verseht, im Strafbefehls- und im Bußgeldverfahren mit einwöchiger Anfechtungsfrist eine Fristversäumnis nachzusehen (BVerfGE 40, 95, 99 f; 42, 124 ff). Das gilt aber nicht uneingeschränkt für alle anderen Gerichtsverfahren, namentlich nicht für das Sozialgerichtsverfahren bei einer dreimonatigen Rechtsmittelfrist. Das BVerfG verlangt gerade nur bei der Versäumung so kurzer Fristen wie in den zuvor bezeichneten Verfahren eine großzügige Wiedereinsetzung (BVerfGE 38, 35, 38 ff). Außerdem läßt es die Versagung einer Wiedereinsetzung zu, falls ein Ausländer nicht alles, was ihm möglich und zumutbar ist, unternommen hat, um seine Interessen zureichend zu verfolgen (BVerfGE 42, 126 f; vgl auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Leitsatz in NJW 1977, 12313). Auch nach dem Grundsatz, daß die Anforderungen an die Wiedereinsetzung allgemein nicht überspannt werden dürfen (BSG - Großer Senat - BSGE 38, 248, 260 = SozR 1500 § 67 Nr 1), war dem Begehren des Klägers nicht stattzugeben. Er hätte bei rechtzeitiger Befragung eines Übersetzers oder eines anderen Mitbürgers, der Deutsch lesen kann, erfahren, bis wann ihm Zeit für die Berufung verblieb. Zudem war er durch wiederholt vorausgegangene Verwaltungsverfahren allgemein mit deutschen Anfechtungsfristen vertraut. Falls er sich frühzeitig über den Inhalt der Rechtsmittelbelehrung informiert hätte, hätte es ihm möglich sein müssen, die dreimonatige Berufungsfrist durch rechtzeitiges Absenden seiner Berufungsschrift zu wahren. Er durfte sich nicht darauf verlassen, daß ein polnischer Rechtsanwalt ihn zutreffender und zuverlässiger als die Rechtsmittelbelehrung, die Bestandteil des Urteils ist, über die Einzelheiten der Fristwahrung unterrichtete. Schließlich mußte er die Sendung so frühzeitig abschicken, daß sie bei regelmäßiger Postlaufzeit noch spätestens am Ende der gesetzlichen Frist beim zuständigen Gericht gemäß der Rechtsmittelbelehrung eingehen konnte (BSGE 38, 256 f).
Da die Beschwerde nicht von einem beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten eingelegt worden ist, muß sie entsprechend § 169 SGG mit der Kostenfolge aus § 193 SGG als unzulässig verworfen werden.
Fundstellen