Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Zurückweisung der Berufung durch Beschluss. rechtliches Gehör. Erfordernis erneuter Anhörungsmitteilung. Frist zur Abgabe einer weiteren Stellungnahme
Leitsatz (amtlich)
Weist das LSG nach einer Stellungnahme des Klägers zu einer beabsichtigten Entscheidung über die Berufung durch Beschluss darauf hin, dass es "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt", muss es eine ausreichende Frist für eine erneute Stellungnahme einräumen.
Normenkette
SGG §§ 62, 153 Abs. 4 Sätze 1-2; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 14.04.2010; Aktenzeichen L 9 U 5997/06) |
SG Ulm (Entscheidung vom 19.09.2006; Aktenzeichen S 2 U 118/04) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers werden der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. April 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der Kläger begehrt die Zahlung von Verletztenrente für die Zeit vom 1.8.2002 bis zum 23.5.2004. Das SG Ulm hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19.9.2006). Im Berufungsverfahren hat das LSG Baden-Württemberg dem Kläger mit Schreiben vom 16.3.2010 mitgeteilt, dass eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG vorgesehen sei und hierzu bis zum 8.4.2010 Stellung genommen werden könne. Mit Schriftsatz vom 8.4.2010, per Fax am selben Tag beim LSG eingegangen, hat der Kläger der beabsichtigten Entscheidung widersprochen und eine weitere Beweiserhebung beantragt. Daraufhin hat das LSG mit einem den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 13.4.2010 zugegangenen Schreiben vom 8.4.2010 mitgeteilt, dass es auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt". Mit am 16.4.2010 zugestelltem Beschluss vom 14.4.2010 hat es die Berufung zurückgewiesen.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, ohne zuvor erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG iVm § 153 Abs 4 Satz 2 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör wegen Verstoßes gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verletzt, wonach die Beteiligten vor Erlass einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zu hören sind. Der Verstoß gegen diese Verfahrensvorschrift besteht darin, dass dem Kläger keine angemessene Frist zur Stellungnahme auf das gerichtliche Schreiben vom 8.4.2010 eingeräumt war.
Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet, eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 SGG) ist. Die Beteiligten sind gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots rechtlichen Gehörs, dem nur Genüge getan ist, wenn den Beteiligten Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter) als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird (BSG vom 27.8.2009 - B 13 RS 9/09 B - Juris RdNr 12 mwN).
§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG schreibt nicht vor, dass das Gericht eine Frist zur Stellungnahme zu bestimmen hat und welche Frist zumindest einzuräumen wäre. Weist es erstmals auf die Absicht hin, die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, muss eine Anhörungsfrist allerdings so bemessen sein, dass dem Betroffenen ausreichend Zeit zur Einholung rechtlichen und ggf medizinischen Rats sowie zur Abfassung seiner Äußerung bleibt (BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 15). Macht ein Beteiligter von der Gelegenheit zur Äußerung Gebrauch, ist das Berufungsgericht nicht in jedem Fall zu einer weiteren Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verpflichtet. Es braucht insbesondere nicht auf ein Vorbringen zu reagieren, das nicht entscheidungserheblich oder unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird. Eine neue Anhörungsmitteilung mit der Möglichkeit zur Äußerung in einer angemessenen Frist muss aber dann ergehen, wenn nach einer (ersten) Anhörungsmitteilung weiter vorgetragen und ein förmlicher Beweisantrag gestellt wird, das Berufungsgericht gleichwohl unter Würdigung des neuen Vorbringens an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und dem Beweisantrag nicht nachzugehen (BSG vom 27.8.2009 aaO RdNr 13 mwN). Anhörungsmitteilungen iS des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG müssen für die Beteiligten unmissverständlich sein. Aus ihnen muss unzweifelhaft hervorgehen, dass nicht nur auf die Absicht, im Wege des Beschlusses ohne mündliche Verhandlung über die Berufung zu entscheiden, hingewiesen wird, sondern auch Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden soll. Erscheint aus der objektiven Sicht eines sorgfältig handelnden Beteiligten die Möglichkeit zur weiteren Stellungnahme nicht ausgeschlossen, muss hierfür eine ausreichende Zeit zur Verfügung stehen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob auf den Schriftsatz des Klägers vom 8.4.2010 eine weitere Anhörungsmitteilung zu ergehen hatte. Es kann auch offen bleiben, ob das LSG mit seinem Schreiben vom selben Tag eine erneute Gelegenheit zur Äußerung einräumen wollte. Aufgrund der Mitteilung, dass es "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt", konnte der Kläger jedenfalls davon ausgehen, dass das LSG nicht nur an der beabsichtigten Verfahrensweise, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, festhalten, sondern zudem entsprechend dem früheren Hinweis die Möglichkeit zur (erneuten) Stellungnahme gewähren wollte. Hierfür stand dem Kläger keine angemessene Äußerungsfrist zur Verfügung. Welche Frist vorliegend als angemessen zu gelten hätte, bedarf hier keiner Entscheidung. Von einer angemessenen Äußerungsfrist kann jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn unter Berücksichtigung der Postlaufzeiten der angegriffene Beschluss - wie hier - bereits acht Tage nach dem Ausstellungstag des Anhörungsschreibens dem Beteiligten zugeht.
Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger bei ordnungsgemäßer Anhörung noch Gründe vorgetragen hätte, die dem LSG zumindest Veranlassung gegeben hätten, seinem Vortrag weiter nachzugehen, und dass es - ggf auch nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung - aufgrund neuer Erkenntnisse zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Angesichts dieses Verfahrensmangels können die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das Bundessozialgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen