Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Änderung der Anhaltspunkte. Inkrafttreten. Anwendbarkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Änderung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit wird zu dem Zeitpunkt wirksam, den das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung als Herausgeber bestimmt.
2. Die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Anhaltspunkte werden gleichwohl unanwendbar, soweit und sobald sie dem Stand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr entsprechen.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SchwbG § 3; BVG § 30
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Mai 1998 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind ihm nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger macht geltend, wegen einer „Schwerhörigkeit beidseits” betrage der Grad der Behinderung (GdB) bei ihm zumindest schon ab November 1996 80 statt 70, nicht erst seit dem 1. Januar 1997. Das Landessozialgericht (LSG) hat dagegen die Entscheidungen des Beklagten und des Sozialgerichts bestätigt, wonach eine Erhöhung des GdB erst ab 1. Januar 1997 stattfindet, weil die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz idF vom November 1996 (AHP 1996), in denen die beim Kläger unverändert vorliegende Schwerhörigkeit mit einem von 70 auf 80 erhöhten GdB eingeschätzt wird, erst von diesem Tage an anzuwenden seien. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.
Mit der dagegen eingelegten Beschwerde macht der Kläger geltend, das LSG sei von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 9. April 1997 – 9 RVs 4/95 –, SozR 3-3870 § 4 Nr 19) abgewichen. Außerdem stelle sich die grundsätzlich bedeutsame Frage, ob die Neufassung der AHP bereits ab November 1996 anzuwenden sei oder erst ab 1. Januar 1997. Diese Frage werde vom LSG im vorliegenden Fall anders beantwortet als vom Hessischen LSG im Urteil vom 30. September 1997 – L 4 Vb 1327/96 – (E-LSG SB-019).
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist jedenfalls nicht begründet.
Soweit der Kläger als Zulassungsgrund eine Divergenz behauptet, ist schon zweifelhaft, ob die Beschwerde den formellen Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genügt. Dazu hätten tragende Rechtssätze des LSG einerseits und des BSG andererseits herausgearbeitet, hätten einander gegenübergestellt und hätte ihre Unvereinbarkeit dargelegt werden müssen. Sollte sich aus der Beschwerdebegründung insoweit die Behauptung entnehmen lassen, das LSG habe die AHP 1996 erst ab 1. Januar 1997 für anwendbar erklärt, das BSG – im Gegensatz dazu – bereits für die Zeit davor, so trifft dies nicht zu. Der Senat hat in der zitierten Entscheidung einen solchen Rechtssatz nicht aufgestellt. Er hat dem LSG, an das die Sache in jenem Fall zurückverwiesen worden ist, lediglich aufgegeben, bei seiner erneuten Entscheidung die AHP 1996 zu beachten und dies damit begründet, daß bei Verpflichtungsklagen – wie dort – grundsätzlich die Rechtsentwicklung im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zu beachten sei, bei einer im Laufe des Jahres 1997 oder später zu treffenden Entscheidung des LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren also die – unstreitig jedenfalls ab 1. Januar 1997 anzuwendenden – AHP 1996.
Soweit der Kläger grundsätzliche Bedeutung der Frage geltend macht, ob die AHP 1996 bereits für die Zeit vor ihrem, vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) bestimmten förmlichen Inkrafttreten am 1. Januar 1997 (vgl BArbBl 1997, 2/98) schon für die Zeit von November bis zum 31. Dezember 1996 zu beachten seien, so daß der GdB hier bereits vor dem 1. Januar 1997 statt mit 70 (so die AHP 1983) mit 80 (so die AHP 1996) einzuschätzen sei, ist die Beschwerde nicht ordnungsgemäß begründet. Denn der Kläger hat allein mit gegensätzlichen Antworten des LSG im vorliegenden Fall einerseits und des Hessischen LSG andererseits nicht aufgezeigt, daß diese Frage noch klärungsbedürftig ist. Da seit Ablösung der AHP 1983 durch die AHP 1996 bereits mehr als eineinhalb Jahre vergangen sind, hätte dargelegt werden müssen, daß – außer im vorliegenden Fall – überhaupt noch über gleichartige Streitfälle zu entscheiden ist. Außerdem ist die Beschwerdebegründung widersprüchlich, weil der Kläger zunächst behauptet, das BSG habe die Frage, wann Änderungen der AHP wirksam werden, bereits beantwortet und von dieser Rechtsprechung sei das LSG abgewichen, um sodann zu behaupten, die Frage sei höchstrichterlich noch nicht beantwortet und deshalb im angestrebten Revisionsverfahren zu klären.
Im übrigen hätte der Kläger darlegen müssen, daß sich die Antwort auf die von ihm gestellte Frage – auch ohne einschlägige Entscheidung des BSG – nicht aus der bereits vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt. Danach liegt es nahe, daß die AHP nach ihrem vom BMA als Herausgeber bestimmten Geltungswillen bis Ende 1996 idF 1983 und ab 1. Januar 1997 idF 1996 anzuwenden sind. Unabhängig davon ist allerdings stets die Frage zu prüfen, ob die AHP in der jeweils anzuwendenden Fassung dem Gesetz widersprechen, ob sie dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen und ob ein Sonderfall vorliegt, der aufgrund der individuellen Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf (vgl BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Bei dieser Prüfung kann sich herausstellen, daß neuere medizinische Erkenntnisse, die in den AHP 1996 zu einer Neubewertung des GdB geführt haben, schon lange vor dem 1. Januar 1997 vorgelegen haben. Dann sind aber nicht die AHP 1996 rückwirkend anzuwenden, sondern die AHP 1983 sind zu korrigieren. Wird – wie hier – der GdB für eine Schwerhörigkeit bestimmter Ausprägung von 70 auf 80 erhöht, so beruht das nicht auf grundsätzlich neuen medizinischen Erkenntnissen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zur herrschenden medizinischen Auffassung verdichtet haben. Es handelt sich lediglich um eine geringfügige GdB-Korrektur innerhalb des einer gerichtlichen Nachprüfung nicht zugänglichen Einschätzungsspielraums der Verwaltung: Insoweit läßt sich ein richtiger GdB nicht ermitteln und begründen, er läßt sich nur durch Willensentscheidung (des BMA als Herausgeber der AHP) festlegen (vgl BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5).
Die Kostenentscheidung ergibt sich unter entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen