Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage. ständige Wiederholung gleichartiger Angriffe gegen eine gefestigte Rechtsprechung des BSG
Orientierungssatz
1. Um seiner Darlegungspflicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160a Abs 2 S 3 SGG zu genügen, muss der Beschwerdeführer eine konkrete Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl nur BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B).
2. Die ständige Wiederholung von gleichartigen Angriffen gegen eine gefestigte Rechtsprechung des BSG, das sich bereits vollumfänglich mit der rechtlichen Problematik des § 44 SGB 10 im Rahmen des Asylbewerberleistungsrechts (und des Sozialhilferechts) auseinandergesetzt hat, genügt nicht den Anforderungen an die Darlegung der abstrakten Klärungsbedürftigkeit der formulierten Rechtsfragen.
3. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 2.12.2019 - 1 BvR 1699/16).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160a Abs 2 S. 3, § 160 Abs 2 Nr. 1; SGB X § 44; SGB 12; AsylbLG
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.12.2015; Aktenzeichen L 7 AY 4101/12) |
SG Freiburg i. Br. (Aktenzeichen S 6 AY 4245/11) |
Tenor
Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2015 werden als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Im Streit sind höhere Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), insbesondere auf sog Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle der erbrachten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, im Rahmen von Zugunstenverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.7.2007.
Der 1965 geborene Kläger zu 1 und die 1964 geborene Klägerin zu 2 sind miteinander verheiratet; die Kläger zu 3 (geboren 1998) und 4 (geboren 2001) sind ihre gemeinsamen Kinder. Die Kläger sind serbische Staatsangehörige; die Kläger zu 1, zu 2 und zu 3 leben seit 1999 zunächst auf der Grundlage von Duldungen in Deutschland und erhielten von Juni 1999 bis zum 31.7.2007 Leistungen nach § 3 AsylbLG, der Kläger zu 4 seit seiner Geburt. Zum 1.8.2007 stellte die Beklagte diese Leistungen ein (Bescheid vom 16.7.2007), nachdem den Klägern Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 Abs 1 Aufenthaltsgesetz erteilt worden waren. Im Anschluss bezogen sie vom 6.8.2007 bis zum 31.10.2009 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Im Oktober 2009 nahm der Kläger zu 1 eine Vollzeittätigkeit auf. Die am 23.10.2009 gestellten Anträge auf Überprüfung der früheren Leistungsbewilligungen nach dem AsylbLG und der Gewährung sog Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG statt der erbrachten Grundleistungen lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25.5.2011; Widerspruchsbescheid vom 1.7.2011).
Die Klagen blieben in beiden Instanzen ohne Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 13.8.2012; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 17.12.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, eine durchgehende Bedürftigkeit der Kläger bis zur letzten mündlichen Tatsachenverhandlung habe nicht bestanden. Jedenfalls im Juli 2010 habe der Kläger zu 1 ein Einkommen erzielt, das zusammen mit dem ausgezahlten Kindergeld den nach Maßgabe der Regelungen im SGB II zu bemessenden Bedarf der Bedarfsgemeinschaft überstiegen habe. In ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), dem der Senat folge, stehe bereits dieser, zumindest zeitweise Wegfall der Bedürftigkeit der nachträglichen Erbringung höherer Leistungen entgegen. Dementsprechend bestehe auch kein Anspruch auf (teilweise) Rücknahme der bestandskräftigen Bescheide.
Mit ihren Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision machen die Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Divergenz geltend. Sie formulieren die Rechtsfrage, ob bei rechtswidrig verweigerten Pauschalleistungen des AsylbLG (und der Sozialhilfe bzw der Grundsicherung) durch eine Bezugnahme auf Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts, hier des Asylbewerberleistungsrechts (bzw des Sozialhilferechts), der Nachgewährungsanspruch des § 44 SGB X in seinen dort vom Gesetzgeber festgelegten zeitlichen Grenzen für den Personenkreis ausgeschlossen werden könne, der in der Zeit nach der Beendigung des Leistungsbezugs gemäß § 3 AsylbLG bis ggf zu dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz länger als einen Monat nicht sozialhilfebedürftig gewesen ist bzw für diesen Zeitraum seine durchgehende Sozialhilfebedürftigkeit nicht nachweise.
Zwar habe das BSG in seinen Entscheidungen vom 20.12.2012 (B 7 AY 4/11 R) und vom 26.6.2013 (B 7 AY 3/12 R), die allerdings nur zur Zurückverweisung der Sache an das jeweilige LSG geführt hätten, ausgeführt, dass der Anwendung des § 44 SGB X entgegenstehe, wenn Bedürftigkeit länger als einen Monat nicht bestanden habe. Allerdings stimme diese Rechtsprechung ("keine Sozialhilfe für die Vergangenheit") nicht mit dem Gesetz überein und verstoße gegen das Grundgesetz. Der Umstand, dass das LSG Niedersachsen-Bremen - ua im Urteil vom 4.9.2014 - L 8 AY 70/12 - eine dezidiert andere Auffassung zur Auslegung des Aktualitätsgrundsatzes für zutreffend erachtet habe, bestätige dies. Dem stehe nicht entgegen, dass das dagegen geführte Revisionsverfahren am 28.5.2015 durch Vergleich, nicht durch Aufhebung des Urteils, geendet und das BSG in seiner Pressemitteilung mitgeteilt habe, es halte an seiner Rechtsprechung zur Auslegung des § 44 SGB X im AsylbLG fest.
Die Entscheidung des LSG weiche zudem von dem Urteil des BSG vom 17.6.2008 (B 8 AY 5/07 R) ab; darin habe das BSG übergeordnete "Strukturprinzipien", also auch den Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit", abgelehnt. Dazu verhalte sich das LSG konträr, wenn es gestützt auf die Rechtsprechung des 7. Senats des BSG (nicht des 8. Senats) die Auffassung vertrete, rückwirkend seien Leistungen nur zu erbringen, wenn sie ihren Zweck noch erfüllen könnten, was bei temporärer oder auf Dauer entfallener Bedürftigkeit nicht der Fall sei. Außerdem weiche auch ein Rechtssatz im Urteil des 8. Senats des BSG vom 26.8.2008 (B 8 SO 26/07 R) von der Entscheidung im Urteil desselben Senats vom 17.6.2008 (B 8 AY 5/07 R) ab, und das LSG habe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18.7.2012 (BVerfGE 132, 134 ff) fehlerhaft angewandt.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet worden sind. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Um der Darlegungspflicht zu genügen, muss eine konkrete Rechtsfrage formuliert, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihr angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) dargelegt werden (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Die ständige Wiederholung von gleichartigen Angriffen gegen eine gefestigte Rechtsprechung nicht nur des 7., sondern auch des 8. Senats des BSG, die sich bereits vollumfänglich mit der rechtlichen Problematik des § 44 SGB X im Rahmen des Asylbewerberleistungsrechts (und des Sozialhilferechts) auseinandergesetzt haben, genügt nicht den Anforderungen an die Darlegung der abstrakten Klärungsbedürftigkeit der formulierten Rechtsfragen.
Die Kläger hätten darlegen müssen, weshalb insoweit weiterer Klärungsbedarf bestehen sollte. Dass das LSG Niedersachsen-Bremen zur Auslegung des § 44 SGB X im Asylbewerberleistungsrecht dieser Rechtsprechung nicht in vollem Umfang gefolgt ist, sondern abweichend von ihr als maßgeblichen Zeitpunkt des anspruchsvernichtenden Bedürftigkeitswegfalls auf den Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt hat, macht diese Rechtsprechung nicht wieder klärungsbedürftig. Zudem berufen sich die Kläger gerade nicht auf die von der ständigen Rechtsprechung des BSG abweichende Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bedürftigkeitswegfalls, sondern treten jeglicher Einschränkung der Reichweite des § 44 SGB X entgegen.
Soweit die Kläger eine Divergenz zu einer Entscheidung des BSG behaupten, genügt ihr Vorbringen ebenso wenig den gesetzlichen Anforderungen. Eine Divergenz liegt nur dann vor, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem tragenden abstrakten Rechtssatz des BSG aufgestellt hätte; eine Abweichung ist erst dann zu bejahen, wenn das LSG diesen Kriterien - wenn auch unter Umständen unbewusst - widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat (BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). Ob die Kläger überhaupt einen tragenden abstrakten Rechtssatz dargelegt haben, den das LSG abweichend von einem tragenden abstrakten Rechtssatz des BSG aufgestellt hat, sei dahingestellt. Jedenfalls aber ist eine Abweichung nicht schlüssig dargelegt. Denn die Kläger betonen selbst in ihren Ausführungen zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, dass sich das LSG der Rechtsprechung des BSG zur Auslegung des § 44 SGB X im Asylbewerberleistungsrecht angeschlossen habe. Die zu Unrecht behaupteten Abweichungen zwischen Entscheidungen des für das Asylbewerberleistungsrecht zuständigen und des Sozialhilfesenats selbst könnten (siehe dazu BSG, Beschluss vom 27.10.2015 - B 7 AY 3/15 B) eine Divergenz ohnedies nicht begründen. Soweit die Kläger die behauptete Divergenz auf eine Abweichung der Entscheidung des LSG von der des BVerfG stützen, haben sie schon keinen tragenden abstrakten Rechtssatz des LSG mitgeteilt, geschweige einen des BVerfG, von dem abgewichen worden sei.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 11281624 |
SAR 2016, 106 |