Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 12.03.2018; Aktenzeichen L 4 SO 56/15)

SG Hamburg (Entscheidung vom 08.10.2015; Aktenzeichen S 20 SO 223/10)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. März 2018 wird als unzulässig verworfen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 383 364,16 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I

Im Streit ist die Erstattung von Kosten in Höhe von 383 364,16 Euro für Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII), die die Klägerin in der Zeit vom 10.7.2009 bis 31.5.2017 zu Gunsten des Hilfeempfängers (S) erbracht hat.

Der am 10.7.1991 in Afghanistan geborene S ist schwerbehindert. Er reiste am 27.5.1999 unbegleitet über den Flughafen F. nach Deutschland ein und wurde dort in eine Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen. Am 20.6.1999 wurde S von seinem in H. lebenden Onkel aus der Einrichtung in F. ohne Wissen und Zustimmung des zum Vormund bestimmten Jugendamtes abgeholt und mit nach H. genommen. Am 24.6.1999 sprach der Onkel mit S. in einer Erstversorgungseinrichtung (EVE) in H. vor, wo S. noch am selben Tag aufgenommen wurde. Seither war er bis Ende Mai 2017 durchgängig in stationären Einrichtungen, zunächst im Zuständigkeitsbereich der Klägerin, seit Mai 2003 im Zuständigkeitsbereich des Beklagten untergebracht. Bis zum Erreichen der Volljährigkeit gewährte die Klägerin hierfür Leistungen der Jugendhilfe. Ab 10.7.2009 bewilligte sie S Leistungen der Eingliederungshilfe. Beim Beklagten meldete sie erfolglos einen Kostenerstattungsanspruch an, der sich zuletzt auf 383 364,16 Euro belief.

Die auf Erstattung gerichtete Klage ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Hamburg vom 8.10.2015; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Hamburg vom 12.3.2018). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, das Erstattungsbegehren der Klägerin sei unbegründet, weil diese selbst der nach § 98 SGB XII für die Eingliederungshilfe örtlich zuständige Leistungsträger gewesen sei. Einen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 98 Abs 2 SGB XII) habe S nach seiner Einreise in Deutschland nicht begründet. Dies gelte auch für den Aufenthalt bei seinem Onkel vor Aufnahme in die EVE H., denn S habe sich dort ohne den Willen seines Vormundes aufgehalten (unter Verweis auf Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Urteil vom 15.5.1986 - 5 C 68/84). Abzustellen sei daher auf den tatsächlichen Aufenthalt des S (§ 98 Abs 1 SGB XII), für den § 98 Abs 2 Satz 2 SGB XII entsprechend anzuwenden sei, hier mit der Folge der Zuständigkeit der Klägerin. Zwar habe die Einrichtungskette im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen begonnen. Eine Perpetuierung der örtlichen Zuständigkeit scheitere aber am fehlenden "Übertritt" iS von § 98 Abs 2 Satz 2 SGB XII von der Einrichtung in F. zur EVE in H.. Ein Übertritt setze voraus, dass die anschließende Aufnahme in eine andere stationäre Einrichtung beabsichtigt sei. Hieran fehle es. Die Aufnahme des S. in die Einrichtung in H. habe sich als völlig neue Situation dargestellt. Die Hilfe durch das Jugendamt der Klägerin sei nicht in Umsetzung eines geplanten Einrichtungswechsels, sondern als Inobhutnahme wegen des tatsächlichen Aufenthalts in H. erfolgt. Zudem mangele es bei vier zwischen dem Wechsel liegenden Tagen auch am erforderlichen engen zeitlichen Zusammenhang.

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im besagten Urteil macht die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Sie stellt die Frage, "nach welcher Zeitspanne des Verlassens einer Einrichtung bzw unter welchen Voraussetzungen eine bedeutsame Unterbrechung einer Einrichtungskette im Rahmen der Zuständigkeitsregelung nach § 98 Abs 2 Satz 2 SGB XII bei Kostenerstattungsansprüchen zwischen Sozial- und Jugendhilfeträgern anzunehmen ist".

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt worden ist. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Um der Darlegungspflicht zu genügen, muss eine konkrete Rechtsfrage formuliert, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihr angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) dargelegt werden (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin hat zu der von ihr formulierten grundsätzlichen "Frage über die Auslegung des Merkmals der Zeitspanne" jedenfalls die Klärungsfähigkeit nicht ausreichend dargetan.

Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn sie für den zu entscheidenden Fall rechtserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31). Über die aufgeworfene Rechtsfrage müsste das Revisionsgericht also - in Ergänzung zur abstrakten Klärungsbedürftigkeit - konkret-individuell sachlich entscheiden können (BSG SozR 1500 § 160 Nr 39; SozR § 160a Nr 31). Dies erfordert es, dass der Beschwerdeführer den nach seiner Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils und damit insbesondere den Schritt darlegt, der die Entscheidung der als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfrage notwendig macht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31). Dem wird das Vorbringen der Klägerin nicht gerecht.

Das LSG hat den fehlenden "Übertritt" iS von § 98 Abs 2 Satz 2 SGB XII nicht allein darauf gestützt, dass die zwischen dem Aufenthalt in der Jugendhilfeeinrichtung in F. und im EVE H. liegende Zeitspanne von vier Tagen zu groß sei, sondern (selbständig tragend und sogar vorrangig) darauf, dass die Umstände des Wechsels (unerlaubte Mitnahme aus der Einrichtung in F. durch den Onkel; vollständige und an den vorangegangenen Aufenthalt nicht anknüpfende Neuaufnahme in H.) einem "Übertritt" im Sinne dieser Vorschrift entgegenstünden. Die von der Klägerin aufgeworfene Frage nach der zulässigen Zeitspanne stellt sich daher nur für den Fall, dass diese zweite Argumentation ebenfalls entweder einer grundsätzlichen Klärung bedarf oder rechtsfehlerhaft ist oder für sich genommen den fehlenden Übertritt nicht trägt. Dies zeigt die Klägerin indes nicht auf. Ihre Darlegung von Rechtsprechung und Literatur erfolgt allein mit Bezug zur "allgemein bedeutsamen Frage der zulässigen Zeitdauer, innerhalb welcher sich ein Hilfebedürftiger zwischen zwei Einrichtungen aufhält".

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 SGG iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 162 Abs 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts aus § 197a Abs 3 SGG iVm § 47 Abs 3, § 52 Abs 3, § 63 Abs 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI12003772

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