Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsfrage. Kritische Literaturstimmen. Rechtlicher Ungehorsam. Klärungsbedürftigkeit. Ambulante Pflegedienste

 

Leitsatz (redaktionell)

Allein der Verweis auf kritische Literaturstimmen sowie den „rechtlichen Ungehorsam” einzelner Stadtverwaltungen erfüllt die gesetzlichen Darlegungsanforderungen für eine fortbestehende bzw. erneute Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen, ob § 19 Abs. 6 SGB XII so auszulegen sei, dass auch ambulante Pflegedienste sich auf diese Norm berufen können, verneinendenfalls ob § 19 Abs 6 SGB XII insofern verfassungswidrig sei, als die Vorschrift ambulante Pflegedienste von dieser Vorschrift ausnehme, nicht.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 S. 3; SGB XII § 19 Abs. 6

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 23.06.2016; Aktenzeichen L 8 SO 264/13)

SG München (Aktenzeichen S 48 SO 584/13)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. Juni 2016 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Im Streit ist ein Anspruch der Klägerin, der Trägerin einer ambulanten Pflegeeinrichtung, auf Zahlung von 23 354,97 Euro für die F. G. (G) vor seinem Tod (am 10.10.2011) erbrachte ambulante Pflege.

Die Beklagte hatte G Leistungen der ambulanten Hilfe zur Pflege als vorläufige Leistungen (Bescheide vom 14.1.2010, 22.3.2010 und 29.3.2010) bewilligt. Einen Antrag für die Zeit ab 1.9.2010 lehnte die Beklagte gegenüber der Klägerin im Ergebnis ab, weil G am 10.10.2011 verstorben sei (Bescheid vom 5.12.2011; Widerspruchsbescheid vom 2.6.2016). Die Klage, mit der die Klägerin unter Berufung auf § 19 Abs 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Kosten der ambulanten Pflege für die Zeit vom 1.9.2010 bis 10.10.2011 geltend gemacht hatte, ist in beiden Instanzen ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 2.12.2013; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 23.6.2016).

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend und formuliert folgende Rechtsfragen:

Ist § 19 Abs 6 SGB XII so auszulegen, dass auch ambulante Pflegedienste sich auf diese Norm berufen können,

verneinendenfalls,

ist § 19 Abs 6 SGB XII insofern verfassungswidrig, als die Vorschrift ambulante Pflegedienste von dieser Vorschrift ausnimmt?

Die hierzu bereits ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei in der Literatur auf Kritik gestoßen und bedürfe einer Fortentwicklung. Die ambulante Pflege habe statistisch erheblich an Bedeutung gewonnen. Die ungleiche Regelung der Sonderrechtsnachfolge für ambulante und stationäre Pflege durch § 19 Abs 6 SGB XII sei verfassungsrechtlich nicht mehr gerechtfertigt. Sie habe deshalb einen Anspruch auf Begleichung der Kosten für "den Zeitraum vom 14. Januar 2010 bis 6. Oktober 2011".

II

Die Beschwerde ist unzulässig, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt ist. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.

Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Um der Darlegungspflicht zu genügen, muss eine konkrete Rechtsfrage formuliert, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihr angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) dargelegt werden (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).

Diesen Voraussetzungen genügt die Beschwerde der Klägerin nicht. Sie selbst weist darauf hin, dass der Senat über die fehlende Anwendbarkeit der Regelung des § 19 Abs 6 SGB XII in Fällen ambulanter Pflege bereits entschieden habe (BSG, Urteil vom 13.7.2010 - B 8 SO 13/09 R - BSGE 106, 264 ff; vgl auch: BSGE 110, 93 ff RdNr 17 = SozR 4-3500 § 19 Nr 3; SozR 4-3500 § 75 Nr 6 RdNr 18). Ausgehend davon lässt sich ihren Ausführungen eine Klärungsbedürftigkeit nicht entnehmen. Allein der Verweis auf kritische Literaturstimmen sowie den "rechtlichen Ungehorsam" einzelner Stadtverwaltungen erfüllt die gesetzlichen Darlegungsanforderungen für eine fortbestehende bzw erneute Klärungsbedürftigkeit nicht. Es ist nicht aufgezeigt, dass sich der Senat nicht mit allen rechtlichen Aspekten, die Anlass für die Kritik sind, auseinandergesetzt hat. Bei dem Vortrag handelt es sich insoweit vielmehr ausschließlich um Kritik an der Senatsrechtsprechung.

Der Hinweis auf Änderungen in der Pflegelandschaft "in den letzten sechs Jahren" unter Heranziehung statistischen Datenmaterials für die Jahre 2012 und 2013 legt auch keinen erneuten Klärungsbedarf für den streitbefangenen Zeitraum von September 2010 bis Oktober 2011 dar. Die von der Klägerin behaupteten Änderungen in der Pflege liegen zeitlich nach dem streitbefangenen Zeitraum (der sich wiederum zeitlich direkt an die Entscheidung des Senats vom 13.7.2010 anschließt) und können daher nicht das Erfordernis einer sich daraus ergebenden neuen, anderen verfassungsrechtlichen Einschätzung des § 19 Abs 6 SGB XII für die Jahre 2010 und 2011 als die des Senats aufzeigen.

Ohnehin fehlt es an den notwendigen Darlegungen zur Klärungsfähigkeit im Einzelfall. Es hätte der zur Entscheidung stehende Sachverhalt so dargelegt werden müssen, dass es dem Senat möglich wäre, die Ansprüche der Klägerin, deren Übergang sie im Wege der Sonderrechtsnachfolge geltend macht, nachzuvollziehen. Den Ausführungen der Klägerin lässt sich jedoch nur entnehmen, dass G zuvor vorläufige Leistungen bewilligt worden und "Abrechnungen erfolgt" seien. Es fehlt jeglicher Vortrag dazu, ob und auf welcher Grundlage die Klägerin von G im streitbefangenen Zeitraum zivilrechtlich (endgültig) eine Vergütung verlangen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI10333575

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