Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente für Bergleute. Bestimmung der Vergleichslohngruppe. Verletzung von Verfahrensvorschriften als Revisionszulassungsgrund. Rechtliches Gehör. Fehlende Abhandlung von Tatsachenfeststellungen in den Entscheidungsgründen. Überraschungsentscheidung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die erfolgreiche Rüge der Verletzung des § 128 Abs. 1 S. 2 SGG setzt voraus, dass die nach der Rechtsauffassung des LSG wesentlichen entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte, insbesondere die Tatsachenfeststellungen, in den Entscheidungsgründen des Urteils nicht behandelt worden sind. Als Angabe der die richterliche Überzeugung leitenden Gründe reicht aber die Darlegung der wesentlichen Gesichtspunkte aus. Es braucht nicht auf den gesamten Beteiligtenvortrag, die gesamte Prozessgeschichte und jede sonstige Einzelheit eingegangen zu werden, wenn sich aus dem Urteil ergibt, dass alle entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte gewürdigt worden sind (st.Rspr.; vgl. BSGE 1, 91 ff.). Ob dies der Fall ist, hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Ein Tatsachenvortrag oder das Ergebnis der Beweisaufnahme muss z.B. dann nicht in allen Einzelheiten abgehandelt werden, wenn sich im Verlauf des Prozesses herausgestellt hat, dass es darauf nicht mehr ankommt.

2. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (s.tRspr.; vgl. BSG, SozR 3-4100 § 103 Nr 4). Ein Beteiligter darf daher auch nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn er in den Entscheidungsgründen einer Beweiswürdigung begegnet, für die bisher keine Hinweise vorlagen (st.Rspr.; vgl. BSG, SozR 1500 § 62 Nr 20).

 

Normenkette

SGB VI § 45; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 128 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, § 62; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 24.01.2002; Aktenzeichen L 5 KNR 6/01)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 2002 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist jedenfalls unbegründet, wobei dahingestellt bleiben kann, ob die Beschwerdebegründung den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genügt.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG genannten Gründen – grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Abweichung oder Verfahrensmangel – zugelassen werden. Der Kläger stützt seine Nichtzulassungsbeschwerde allein auf den letztgenannten Zulassungsgrund:

1. Der im Klage- und Berufungsverfahren von einem Prozessbevollmächtigten, dem Rentenberater N… E…, vertretene Kläger rügt, das Landessozialgericht (LSG) habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz) verletzt, weil es eine sog Überraschungsentscheidung getroffen habe. Weiter seien im Urteil des LSG nicht die für die richterliche Überzeugung maßgeblich gewesenen Gründe angegeben (§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG).

In einem Rechtsstreit um die Gewährung einer Rente für Bergleute bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 45 Abs 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch ≪SGB VI≫) habe das LSG im Rahmen des anzustellenden Vergleichs mit der derzeitigen Beschäftigung als Maschinist in einem Brunnenbetrieb die “bisher (in Polen) ausgeübte knappschaftliche Beschäftigung” (§ 45 Abs 3 Nr 3 SGB VI) der Tätigkeit eines Kolonnenführers (Förderung, Transport und Unterhaltung) der Lohngruppe 11 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau zugeordnet. Diese Zuordnung habe nicht dem Sachvortrag der Parteien entsprochen; sie sei so auch vom Sozialgericht (SG) nicht vorgenommen worden. Weiter stelle das LSG zwar die These auf, die knappschaftliche Tätigkeit des Klägers in Polen sei der Lohngruppe 11 zuzuordnen, eine Subsumtion des Sachverhalts unter die Tätigkeitsmerkmale der Lohngruppe 11 sei dem Urteil aber nicht zu entnehmen. Indes stehe nach der durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der Kläger über die Qualifikation eines der Lohngruppe 13 zugeordneten “Schießmeisters” verfüge und eine entsprechende Tätigkeit bis zuletzt ausgeübt habe. Dies sei zwischen den Parteien unstreitig gewesen und selbst die Beklagte habe niemals die Subsumierbarkeit des Sachverhalts unter den “Kolonnenführer im Sinne der Lohngruppe 11” vorgetragen. Das LSG hätte deshalb zwingend weiter ermitteln müssen, wenn es Zweifel an der Einstufung in die Lohngruppe 13 bzw der Ausübung der Schießbefugnis gehabt hätte. So sei es aber “ohne rechtlichen Hinweis und ohne jede Würdigung des Sachverhalts” davon ausgegangen, dass “entgegen dem unstreitigen Vortrag zwischen den Parteien” als Vergleichsgruppe die Gruppe 11 heranzuziehen sei.

Auf diesen Verfahrensmängeln beruhe das Urteil, denn – den übereinstimmenden Sachvortrag der Parteien als zutreffend gewürdigt – hätte die Einstufung in die Lohngruppe 13, wenigstens aber in die Lohngruppe 12 erfolgen müssen, womit die derzeitige Tätigkeit des Klägers als Maschinenführer in einem Brunnenbetrieb nicht mehr wirtschaftlich und qualitativ gleichwertig iS des § 45 Abs 3 Nr 3 SGB VI gewesen wäre. Dem Kläger hätte damit die beantragte Rente zugestanden.

2. Die beiden gerügten Verfahrensmängel, auf denen das Urteil des LSG beruhen könnte (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), liegen nicht vor. Die Beschwerde ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

a) Die erfolgreiche Rüge der Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG setzt voraus, dass die nach der Rechtsauffassung des LSG wesentlichen entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte, insbesondere die Tatsachenfeststellungen (vgl BSG Beschluss vom 9. Juni 1967 – 4 RJ 109/67 – SozR Nr 79 zu § 128 SGG), in den Entscheidungsgründen des Urteils nicht behandelt worden sind. Als Angabe der die richterliche Überzeugung leitenden Gründe reicht aber die Darlegung der wesentlichen Gesichtspunkte aus. Es braucht nicht auf den gesamten Beteiligtenvortrag, die gesamte Prozessgeschichte und jede sonstige aus der Sicht des Klägers relevante Einzelheit eingegangen zu werden, wenn sich nur aus dem Urteil ergibt, dass alle entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte gewürdigt worden sind (BSG Urteil vom 16. Juni 1955 – 3 RJ 118/54 – BSGE 1, 91, 94, stRspr). Ob dies der Fall ist, hängt von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab (vgl BSG Beschluss vom 13. Mai 1998 – B 10 AL 6/98 B – veröffentlicht in JURIS). Ein Tatsachenvortrag oder das Ergebnis der Beweisaufnahme müssen zB dann nicht mehr in allen Einzelheiten abgehandelt werden, wenn sich im Verlauf des Prozesses herausgestellt hat, dass es darauf nicht mehr ankommt.

So war es im Fall des Klägers hinsichtlich der nach Beweisaufnahme unstreitigen Qualifikation (polnische Schießgenehmigungen A… und B…) und Tätigkeit als Schießbergmann im polnischen Bergbau bis zum Jahre 1981, die auch nach Ansicht der Beklagten der Tätigkeit eines Schießmeisters im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau – Lohngruppe 13 – entsprochen hätte. Die Beklagte hatte jedoch unter Bezugnahme auf die Arbeitgeberauskünfte bestritten, dass der Kläger nach 1981 überwiegend mit Schießarbeiten beschäftigt war (Schriftsatz an das SG vom 14. Dezember 1998), und der Bevollmächtigte des Klägers hatte daraufhin (Schriftsatz an das SG vom 22. Januar 1999) ausdrücklich eingeräumt, dass der Kläger ab 1982 als B-Schießmeister “nur noch ab und an, dh auch nicht überwiegend” tätig gewesen sei. Entsprechend hatte sich der Kläger persönlich nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 9. Februar 2000 erklärt. Für das weitere Verfahren spielte deshalb die Qualifikation und Tätigkeit des Klägers als Schießbergmann in Polen keine Rolle mehr, und es ging nur noch darum, ob der Kläger seit Sommer 1982, wie behauptet, die Tätigkeit eines Vormannes einer Raub/Hauermannschaft von 18 bis 21 Mann ausübte und deshalb eine Gleichstellung mit einem Aufsichtshauer (Lohngruppe 13/Schlüsselnummern 130, 132 nach der Lohnordnung im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau) erfolgen konnte. Hierauf bezog sich dann die folgende umfangreiche Beweisaufnahme des SG. Im Tatbestand des klageabweisenden Urteils des SG Koblenz vom 21. März 2001 ist diese Prozessgeschichte ausführlich dargestellt. In den Urteilsgründen genügte deshalb der kurze Hinweis, es sei davon auszugehen, dass der Kläger als Schießbergmann, der nicht überwiegend mit Schießarbeiten beschäftigt war, nach der Vergleichslohngruppe 11 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau (dh als Kolonnenführer bzw Hauer in der Gewinnung) beschäftigt war. Von einer zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Aufsichtshauer konnte sich das SG indes nach einer ausführlich begründeten Beweiswürdigung nicht überzeugen. Die weitere Beweisaufnahme des LSG (Einvernahme des Zeugen B…) sollte lediglich abklären, ob die Tätigkeit des Klägers der eines Aufsichtshauers gleichgestellt werden kann. Auch das LSG hat im Tatbestand des Urteils vom 24. Januar 2002 diesen Prozessverlauf kurz geschildert und sich in den Gründen des Urteils darauf beschränkt, festzustellen, dass nach eigener Beweiswürdigung die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Klägers in Polen der eines Kolonnenführers (Förderung, Transport und Unterhaltung) Lohngruppe 11 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau entspricht, nicht jedoch der eines Aufsichtshauers, Lohngruppe 13. Unter Berücksichtigung des Prozessverlaufs lässt sich deshalb ein Begründungsmangel iS des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG nicht feststellen.

b) Eine Überraschungsentscheidung ist gegeben, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BSG Urteile vom 12. Dezember 1990 – 11 RAr 137/89 – SozR 3-4100 § 103 Nr 4 mwN und vom 18. November 1997 – 2 RU 19/97 – HVBG-INFO 1998, 396). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist durch eine solche Entscheidung verletzt, denn damit soll verhindert werden, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, zu der sie bisher nach dem tatsächlichen Sach- und Streitstand keine Veranlassung hatten, Stellung zu nehmen. Ein Beteiligter darf daher auch nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn er in den Entscheidungsgründen einer Beweiswürdigung begegnet, für die bisher keine Hinweise vorlagen (BSG Urteil vom 15. Oktober 1986 – 5b RJ 24/86 – SozR 1500 § 62 Nr 20 und vom 29. Mai 1991 – 9a RVi 1/90 – Meso B 20a/259).

Es kann keine Rede davon sein, dass der Kläger von der Feststellung des LSG überrascht wurde, die zuletzt im polnischen Bergbau ausgeübte Tätigkeit entspreche der eines Kolonnenführers (Förderung, Transport und Unterhaltung) der Lohngruppe 11 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau. Im Übrigen konnte das LSG bei dem fachkundig vertretenen Kläger, der sich im Verfahren vor dem SG bis ins Detail mit der Eingruppierungsproblematik auseinander gesetzt hatte, davon ausgehen, dass die Gruppendefinition der Lohnordnung – die im Urteil wiedergegeben wird und unter welche die Tätigkeit des Klägers auch subsumiert wurde – bekannt war. Denn die gesamte Beweisaufnahme des SG und des LSG betraf die Frage, ob ungeachtet der tatsächlichen, gegen den Kläger sprechenden polnischen Lohngruppeneinstufung (Lohngruppe 7) eine dem Aufsichtshauer vergleichbare Tätigkeit nachgewiesen werden könne. Dabei war unbestritten, dass der Kläger einer kleinen Kolonne vorstand. Es ging immer nur um die Größe dieser Kolonne und Art und Umfang der Aufsichtstätigkeit (vgl Schriftsatz der Beklagten an das SG vom 8. Oktober 1999). Bereits das SG hatte aber festgestellt, dass die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Klägers, übertragen auf den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau, nur nach der Vergleichslohngruppe 11 entlohnt worden wäre. Im Berufungsschriftsatz des Bevollmächtigten des Klägers vom 11. Juni 2001 wird in Kenntnis dieser Einstufung lediglich die Beweiswürdigung des SG angegriffen und die Vernehmung des Zeugen B… angeboten.

Zusammenfassend ist deshalb festzustellen, dass der Beschwerdevortrag des Klägers in den wesentlichen Behauptungen nicht den Tatsachen entspricht. Es besteht kein Anhalt für eine unzureichende Urteilsbegründung oder eine Missachtung des prozessualen Grundrechts des Klägers auf rechtliches Gehör. Der Kläger übersieht, dass das Gericht mit ihm kein Rechtsgespräch führen und ihn auch nicht darauf hinweisen muss, wenn es hinsichtlich der gewünschten Einstufung in die Lohngruppe 13 nach Würdigung der Sach- und Rechtslage nicht zum gleichen Ergebnis wie der Kläger gelangt.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1614708

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