Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch eines unechten Grenzgängers. Gemeinschaftsrechtlich geforderte Verfügbarkeit. Kontrolle der Verfügbarkeit durch Bundesagentur für Arbeit und Träger des Wohnortstaats. Keine Verfügbarkeit bei Angabe einer Briefkastenadresse. Erreichbarkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach Art. 71 Abs. 1b Ziff. i EWGV 1408/71 erhalten unechte Grenzgänger nur dann, wenn sie weiterhin der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staats zur Verfügung stehen, bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland, als ob sie dort wohnten. Die Kontrolle dieser gemeinschaftsrechtlich geforderten Verfügbarkeit des unechten Grenzgängers im zuständigen Staat (Bundesrepublik Deutschland) ist durch den zuständigen Träger (hier die Bundesagentur für Arbeit) ggf. im Zusammenwirken mit dem Träger des Wohnstaats zu organisieren (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 3-6050 Art 71 Nr 5 S 36). Es steht nicht im Belieben des unechten Grenzgängers, durch Angabe einer Briefkastenadresse in Deutschland die Kontrolle seiner Verfügbarkeit in der angegebenen Weise selbst zu bestimmen bzw. herzustellen.
2. Unechte Grenzgänger, die ihren Wohnsitz zwar im Ausland, aber grenznah zu Deutschland im Nahbereich einer deutschen Arbeitsagentur haben, müssen für einen Leistungsbezug im Sinn des deutschen Arbeitsförderungsrechts erreichbar sein (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 3-6050 Art 71 Nr 5).
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 71 Abs. 1b Ziff. i; SGB III § 119 Abs. 3 Nr. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. April 2002 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 16. April 2002. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass dem Kläger kein Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) zugestanden habe, weil er bei seiner Arbeitslosmeldung als Wohnort bzw Wohnanschrift lediglich eine Briefkastenadresse in Deutschland (79219 Staufen) angegeben habe, tatsächlich aber in Frankreich (68320 Kunheim) im Nahbereich eines deutschen Arbeitsamtes gewohnt habe. Zwar lasse sich ein möglicher Anspruch des Klägers auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht unmittelbar auf Vorschriften des SGB III stützen; maßgeblich sei vielmehr Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71, der für sog unechte Grenzgänger wie den Kläger Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates vorsehe, wenn sie weiterhin der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung stünden. Dieses Merkmal setze ebenso wie das in Art 71 EWGV 1408/71 für anwendbar erklärte deutsche Recht voraus, dass der Arbeitslose wie ein Arbeitsuchender in Deutschland der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe. Danach müsse der Arbeitslose auch die Voraussetzungen der Erreichbarkeit nach der ab 1. Januar 1998 geltenden Erreichbarkeitsanordnung (EAO) erfüllen. Daran habe es schon deshalb gefehlt, weil der Kläger bei seiner Arbeitslosmeldung in Deutschland nur eine sog Briefkastenadresse angegeben, hingegen seinen Wohnort verschwiegen habe. Hätte er seine Wohnanschrift in Frankreich angegeben, hätte dies den Anforderungen an seine Erreichbarkeit genügt. Es wäre dann Sache des zuständigen Trägers (Bundesanstalt für Arbeit ≪BA≫) gewesen, eine wirksame Kontrolle seiner Verfügbarkeit – möglichst im Zusammenwirken mit dem Träger des Wohnstaats – zu gewährleisten. Die Pflicht, seine Wohnanschrift anzugeben, habe der Kläger grob fahrlässig verletzt.
Der Kläger macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend. Der Rechtsstreit werfe folgende Rechtsfrage auf:
“Hat ein Arbeitsloser, der nicht Grenzgänger ist und der im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedsstaates wohnt, bei Arbeitslosigkeit einen Arbeitslosengeldanspruch nach Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71 zu Lasten des zuständigen Staates dann, wenn er sich dort arbeitslos meldet und sich der Kontrolle der zuständigen Stelle dieses Staates in folgender Weise unterwirft:
Er richtet in örtlicher Nähe dieser Stelle und im Gebiet dieses Staates eine Adresse ein, unter der er nicht wohnt, wo sich aber ein mit seinem Namen beschrifteter Briefkasten befindet, begibt sich dann 2-3 mal wöchentlich zur Leerung des Briefkastens an diese Adresse und vereinbart für die Tage, an denen er nicht persönlich anwesend ist, mit der Vermieterfamilie, ihn über einen etwaigen Posteingang sofort telefonisch zu informieren, was auch geschieht?”
Diese Rechtsfrage sei klärungsbedürftig. Ihre Beantwortung ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Ebenfalls liege keine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Frage vor. Einschlägig für die Beantwortung der Frage sei nicht das Recht der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere nicht § 119 Abs 3 Nr 3 SGB III und die EAO vom 23. Oktober 1997. Abzustellen sei vielmehr auf Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71. Hiernach bestehe ein Anspruch auch für den Arbeitslosen, der sich bei den Dienststellen des zuständigen Staates als Arbeitsuchender melde, obwohl er wegen der Entfernung weniger in der Lage sei, auf die Beschäftigungsangebote dieser Stellen zu antworten und obwohl er nicht einer Kontrolle durch die zuständigen Stellen dieses Staates daraufhin unterzogen werden könne, ob er die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung erfülle (Hinweis auf Europäischer Gerichtshof ≪EuGH≫, Urteil vom 1. Februar 1996, SozR 3-6050 Art 13 Nr 10, S 35, 36). Damit komme dem Kriterium der “Zeit- und Ortsnähe” iS des § 119 Abs 3 Nr 3 SGB III in diesem Zusammenhang keine Relevanz zu. Sein Leistungsanspruch wäre selbst bei einem sehr weit entfernten Wohnsitz, wie in Portugal oder in Sizilien, nicht ausgeschlossen gewesen. Ebenso wenig könne demnach in solchen Fällen auf die EAO zurückgegriffen werden. Neben der Arbeitslosmeldung sei der Arbeitslose, der einen Anspruch nach Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71 erhebe, gehalten, sich der Kontrolle der zuständigen Stellen des zuständigen Staates zu unterwerfen. Es sei aber noch nicht entschieden, ob es für eine demnach erforderliche Kontrolle des zuständigen Staates ausreiche, wenn in der oben beschriebenen Weise eine “Briefkastenadresse” in dem zuständigen Mitgliedsstaat, und zwar in Nähe der zuständigen Stelle, eingerichtet werde. Seiner – des Klägers – Ansicht nach liege in diesem Fall eine ausreichende und wirksame Unterwerfung unter die Kontrolle der zuständigen Stellen vor. Er habe hierdurch die Voraussetzungen dafür geschaffen, zeit- und ortsnah von den Vermittlungsangeboten des ArbA unterrichtet zu werden. Eine annähernd rasche Unterrichtung wäre bei bloßer Nennung der Wohnanschrift nicht zu erreichen gewesen. Zwar reiche sein Verhalten nicht aus, um die Voraussetzungen des § 119 SGB III zu erfüllen. Dies sei jedoch rechtlich hier nicht notwendig. Die Rechtsfrage sei schließlich klärungsfähig und entscheidungserheblich. Es komme entscheidend darauf an, ob sein Verhalten rechtlich anhand der Vorschriften des § 119 Abs 3 Nr 3 SGB III iVm der EAO zu überprüfen sei oder ob anhand anderer Kriterien festzustellen sei, ob der Anforderung, sich der Kontrolle der zuständigen Stellen des Staates, der Leistungen erbringe, zu unterwerfen, Genüge getan sei. Das Urteil des LSG stelle maßgeblich auf die Verfügbarkeit und hierbei insbesondere auf die objektive Verfügbarkeit nach deutschem Recht ab. Damit beruhe die angefochtene Entscheidung auf der Rechtsauffassung des LSG zur Anwendung der Verfügbarkeit auch bei den Leistungsberechtigten, die ihren Anspruch aus Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71 herleiten würden. Wenn die Bestimmungen des deutschen Rechts zur Verfügbarkeit jedoch nicht anwendbar wären, hätte die Berufung mit der gegebenen Begründung nicht zurückgewiesen werden dürfen.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat lässt offen, ob die Beschwerdebegründung bereits deshalb nicht den Anforderungen an die Darlegungspflicht des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genügt, weil der dem Urteil des LSG zu Grunde liegende Sachverhalt jedenfalls nicht umfassend geschildert ist. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet, weil die aufgeworfene Rechtsfrage, soweit sie im vorliegenden Fall entscheidungserheblich bzw klärungsfähig ist, geklärt ist und damit keine grundsätzliche Bedeutung hat. Ihre Beantwortung ergibt sich aus dem geltenden Recht und der zu seiner Auslegung ergangenen Rechtsprechung.
Nach Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71 erhalten sog unechte Grenzgänger, wenn sie “weiterhin … der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung stehen, … bei … Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie in diesem Staat wohnten …”. Zu den in dieser Vorschrift nicht genannten Umständen, unter denen die Voraussetzungen der Verfügbarkeit erfüllt sind, hat der EuGH bereits entschieden, dass sie sich nicht unmittelbar oder mittelbar so auswirken dürfen, dass ein Arbeitnehmer zu einem Wohnortwechsel gezwungen ist; vielmehr steht der sog unechte Grenzgänger der Arbeitsvermittlung des zuständigen Staates zur Verfügung, sofern er sich bei deren Stellen als Arbeitsuchender meldet und sich ihrer Kontrolle unterwirft (EuGH SozR 3-6050 Art 13 Nr 10 S 36). Wegen der auch mit dieser Vorschrift gewährleisteten Freizügigkeit ist es Aufgabe der zuständigen Träger, eine wirksame Kontrolle der Verfügbarkeit in Zusammenarbeit mit den Trägern des Wohnstaates zu organisieren (BSG SozR 3-6050 Art 71 Nr 5 S 36). Damit ist zwar nicht im Einzelnen geklärt, wie diese Kontrolle zu verwirklichen ist; geklärt ist hingegen, dass eine wirksame Kontrolle der Verfügbarkeit iS von Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71 durch den zuständigen Träger (BA) ggf im Zusammenwirken mit dem Träger des Wohnstaats zu organisieren ist und dass es damit jedenfalls nicht im Belieben des unechten Grenzgängers stehen kann, durch Angabe einer Briefkastenadresse in Deutschland die Kontrolle seiner Verfügbarkeit in der angegebenen Weise selbst zu bestimmen bzw herzustellen.
Abgesehen von der gemeinschaftsrechtlich geforderten Verfügbarkeit des unechten Grenzgängers im zuständigen Staat (Bundesrepublik Deutschland) setzt auch die Anwendung des deutschen Rechts, auf die Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff i EWGV 1408/71 verweist, voraus, dass der Arbeitslose wie ein in Deutschland wohnender Arbeitsuchender der – deutschen – Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Insoweit hat das BSG für den Personenkreis der unechten Grenzgänger, die – wie der Kläger – ihren Wohnsitz zwar im Ausland, aber grenznah zu Deutschland im Nahbereich eines deutschen Arbeitsamtes haben, entschieden, dass dieser Personenkreis im Sinne des deutschen Arbeitsförderungsrechts erreichbar sein muss (BSG SozR 3-6050 Art 71 Nr 5). Mindestanforderung der Erreichbarkeit ist aber die Mitteilung der Wohnanschrift des Arbeitslosen, wie sich aus § 119 Abs 3 Nr 3 SGB III iVm § 1 Abs 1 Satz 2 EAO ergibt und wie das LSG im Einzelnen ausgeführt hat. Da der Kläger nach den Feststellungen des LSG dem deutschen Arbeitsamt nicht seine Wohnanschrift, sondern nur eine Briefkastenadresse angegeben hatte, fehlt es auch an einer nationalrechtlichen Voraussetzung für die Leistungspflicht der Beklagten. Danach kann es im vorliegenden Fall nicht auf die Entscheidung der Frage ankommen, ob und ggf wie die Kontrolle der Verfügbarkeit durch den zuständigen Staat in solchen Fällen gewährleistet werden kann, in denen der unechte Grenzgänger nicht im Nahbereich eines deutschen Arbeitsamts wohnt – ggf auch ohne den Anforderungen der Erreichbarkeit zu genügen – und ohne Angabe der Wohnanschrift.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen