Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung. Berufung gegen einen Gerichtsbescheid. Feststehen einer mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht. absoluter Revisionsgrund
Orientierungssatz
1. Das Gebot fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung verbieten es im Regelfall, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 158 S 2 SGG zu entscheiden, wenn diese sich gegen einen Gerichtsbescheid richtet (vgl BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B = SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7 ff, vom 12.7.2012 - B 14 AS 31/12 B = SozR 4-1500 § 105 Nr 3 RdNr 5 und vom 8.4.2014 - B 8 SO 22/14 B = SozR 4-1500 § 158 Nr 7 RdNr 6 f).
2. Eine Entscheidung nach § 158 S 2 SGG kann in einer solchen Konstellation ausnahmsweise zulässig sein; dies ist etwa der Fall, wenn sicher feststeht, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht stattfinden wird (vgl BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 31/12 B = SozR 4-1500 § 105 Nr 3 RdNr 13).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 158 Sätze 1-2, § 105 Abs. 2 S. 2, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Chemnitz (Gerichtsbescheid vom 13.05.2020; Aktenzeichen S 11 KR 254/20) |
Sächsisches LSG (Beschluss vom 04.06.2020; Aktenzeichen L 9 KR 290/20) |
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. Juni 2020 - L 9 KR 290/20 - gewährt.
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. Juni 2020 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über die Erstattung bzw Übernahme der Kosten für ein Arzneimittel.
Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger beantragte bei dieser unter Übersendung eines Zahlungsbelegs die Erstattung der Kosten für das Arzneimittel Carmenthin in Höhe von 12,97 Euro. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da es sich um ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel handele (Bescheid vom 6.2.2020, Widerspruchsbescheid vom 7.4.2020). Das SG hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen (Gerichtsbescheid vom 13.5.2020). In der Rechtsmittelbelehrung hat es ausgeführt, der Gerichtsbescheid könne nicht mit der Berufung angefochten werden. Es könne beim SG Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt oder beim LSG Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt werden. Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid beim LSG "Berufung" eingelegt. Das LSG hat den Kläger darauf hingewiesen, dass die Berufung unzulässig sei. Es hat auf die Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheides des SG verwiesen und darauf hingewiesen, dass der Kläger einen Antrag auf mündliche Verhandlung nicht gestellt habe. Es hat angekündigt, die Berufung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen (Schreiben vom 28.5.2020). Der Kläger hat geltend gemacht, der Wert übersteige 750 Euro. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung sei selbstverständlich; das müsse er nicht beantragen. Die Berufung sei zugelassen worden. Das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie eine Geldleistung von weniger als 750 Euro betreffe und vom SG nicht zugelassen worden sei. Die Entscheidung habe ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss ergehen können (Beschluss vom 4.6.2020).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG und rügt einen Verfahrensmangel.
II. 1. Dem Kläger war von Amts wegen gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach der Bewilligung von PKH fristgerecht eingelegt und begründet hat.
2. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Der Beschluss des LSG beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu b), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet (dazu a).
a) Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel des Verstoßes gegen das durch Art 101 Abs 1 Satz 2 GG gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter hinreichend. Ausführungen zum Beruhen der angefochtenen Entscheidung auf diesem Gesetzesverstoß bedurfte es nicht. Denn nach § 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.
b) Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG hätte auch unter Beachtung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren, zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und unter Beachtung von Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention nicht durch Beschluss entscheiden dürfen, sondern nur aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter.
Nach § 158 Satz 2 SGG kann die Entscheidung über die Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluss ergehen. Damit ist dem Berufungsgericht - insoweit vergleichbar der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG - Ermessen eingeräumt, durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung kann im Revisionsverfahren zwar nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht, dh etwa sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde gelegt hat. Allerdings verbietet es im Regelfall das Gebot fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 158 Satz 2 SGG zu entscheiden, wenn diese sich gegen einen Gerichtsbescheid richtet (vgl BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7 ff; BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 31/12 B - SozR 4-1500 § 105 Nr 3 RdNr 5; BSG vom 8.4.2014 - B 8 SO 22/14 B - juris RdNr 6 f; BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 7/19 B - juris RdNr 2). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist unter anderem für den Fall anerkannt, dass sicher feststeht, dass in der Sache noch eine mündliche Verhandlung vor dem SG stattfinden wird (vgl BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 31/12 B - SozR 4-1500 § 105 Nr 3 RdNr 13; zur weiteren Ausnahme für den Fall, dass der Gerichtsbescheid nur wegen der Kostenentscheidung angegriffen wird vgl BSG vom 8.4.2014 - B 8 SO 22/14 B - juris RdNr 8, mit Anmerkung von Keller, jurisPR-SozR 17/2014 Anm 5).
Dies war indes vorliegend nicht der Fall. Zum einen ist bereits fraglich - und wird vom LSG nicht näher geprüft -, ob es sich bei dem Schreiben des Klägers vom 29.5.2020 um einen Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs 2 Satz 2 SGG handelte, zumal das Schreiben an das LSG gerichtet war und der Kläger darin behauptet, der Wert übersteige 750 Euro. Zum anderen hätte ein solcher Antrag beim SG gestellt werden müssen (vgl Hauck in Hauck/Behrend, SGG, § 105 RdNr 100 ≪Stand 1.5.2018≫; zu den Folgen der Stellung des Antrages beim LSG vgl Bayerisches LSG vom 13.7.2020 - L 18 SO 139/20 NZB - juris RdNr 16 ff; zur Unanwendbarkeit des § 91 SGG vgl BSG vom 22.3.1963 - 11 RV 628/62 - SozR Nr 1 zu § 105 SGG = juris RdNr 11).
Ob auch dann durch Beschluss entschieden werden kann, wenn ein Beteiligter von seiner Möglichkeit, mündliche Verhandlung nach § 105 Abs 2 Satz 2 SGG zu beantragen, keinen Gebrauch macht, hat das BSG bislang offengelassen (vgl BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 31/12 B - SozR 4-1500 § 105 Nr 3 RdNr 13; BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 7/19 B - juris RdNr 3; dafür BVerwG Beschluss vom 2.8.1995 - 9 B 303/95 - juris RdNr 3; LSG Berlin-Brandenburg vom 18.6.2010 - L 10 AS 779/10 - juris RdNr 14; LSG Sachsen-Anhalt vom 16.11.2010 - L 3 R 362/09 - juris RdNr 20; LSG Niedersachsen-Bremen vom 9.5.2019 - L 11 AS 13/19 - juris RdNr 15; Binder in Berchtold, SGG, 6. Aufl 2021, § 158 RdNr 8; Jungeblut in BeckOK, SGG, § 158 RdNr 6, Stand 1.12.2020; Groth in Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, VIII. Kapitel, RdNr 77; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leithe-rer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 158 RdNr 6; Wolff-Dellen in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 158 RdNr 6; dagegen Meßling in Hauck/Behrend, SGG, § 158 RdNr 20 aE, Stand 1.10.2017; Sommer in BeckOGK, SGG, § 158 RdNr 10, Stand 1.1.2021; zweifelnd auch Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, aaO, § 105 RdNr 2).
Darauf kommt es jedoch vorliegend nicht an. Denn die prozessuale Fürsorge- und Hinweispflicht gebietet die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch in einem solchen Fall jedenfalls dann, wenn die abgegebenen prozessualen Erklärungen auslegungsbedürftig sind (vgl BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7; Wolff-Dellen in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 158 RdNr 6). So lag der Fall hier.
Die Ausführungen des Klägers hinsichtlich des Klagebegehrens waren auslegungs- und klärungsbedürftig. Die Frage nach der Statthaftigkeit der Berufung hängt von dem Auslegungsergebnis ab. Zwar hat der Kläger im Verwaltungsverfahren bei der Beklagten nur die Erstattung von 12,97 Euro für ein selbst beschafftes Arzneimittel beantragt. Bereits im Klageverfahren hat er zur Begründung der Klage jedoch geltend gemacht, er könne das Medikament nicht bezahlen. Dies könnte dafür sprechen, dass es ihm auch um die Kostenübernahme für die Zukunft geht. Hinzu kommt, dass der Kläger sowohl vor dem SG als auch vor dem LSG auf der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bestanden hat. In dieser Situation hätte das LSG nicht durch Beschluss entscheiden, sondern zur Wahrung seiner Fürsorge- und Hinweispflicht eine mündliche Verhandlung durchführen und dem Kläger Gelegenheit geben müssen, seine prozessualen Erklärungen zu konkretisieren.
3. Der Senat macht von seiner Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG). Einer Zurückverweisung steht nicht der Rechtsgedanke des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG entgegen, der auch bei Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden Anwendung findet (vgl BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - juris RdNr 9). Nach § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist eine Revision bei einer Gesetzesverletzung auch dann zurückzuweisen, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt. Dies gilt jedoch nicht für den absoluten Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts. Denn hierbei handelt es sich um einen die Grundlagen des Verfahrens betreffenden Mangel, der so wesentlich ist, dass ein Einfluss auf die Sachentscheidung unwiderlegbar vermutet wird (BSG vom 2.11.2007 - B 1 KR 72/07 B - SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 13; BSG vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - juris RdNr 10).
4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
Dokument-Index HI14434267 |