Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 07.12.1993; Aktenzeichen L 3 U 117/92)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1993 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung eines Betrages von 10.343,20 DM, der durch die Weiterzahlung der höheren Witwenrente (§ 590 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) an sie nach Volljährigkeit ihrer Tochter Eva in der Zeit vom 1. Juli 1988 bis 31. Oktober 1989 entstanden ist (Rückforderungsbescheid vom 26. Oktober 1989 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1990).

Während das Sozialgericht die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 25. November 1991), hat das Landessozialgericht (LSG) die angefochtenen Rückforderungsbescheide aufgehoben (Urteil vom 7. Dezember 1993). Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, daß die am 12. Juni 1988 eingetretene Volljährigkeit der Tochter der Klägerin eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen iS des § 48 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) im Vergleich zur Rentengewährung im Bescheid vom 13. August 1987 darstelle mit der Folge, daß der Klägerin für die Zeit ab 1. Juli 1988 die höhere Witwenrente nicht mehr zustehe. Die Beklagte hätte prüfen müssen, ob sie „gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4, Abs 4 SGB X die Rente entziehen/gemäß § 50 Abs 1 SGB X die überzahlte Rente zurückfordern” könne. Sie hätte daher zunächst die Rentenherabsetzung gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X vornehmen müssen. Für eine Rückforderung nach § 50 Abs 1 SGB X fehle es damit an der Voraussetzung der Aufhebung des leistungsgewährenden Verwaltungsaktes nach § 48 SGB X; diese Aufhebung sei präjudiziell für die Erstattung der Leistungen. Einen solchen Bescheid habe die Beklagte nicht erteilt und ausdrücklich auch nicht erteilen wollen. Im Rahmen des Verfahrens nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X sei außerdem der Rentenberechtigte vor der Rentenentziehung/-herabsetzung gemäß § 24 Abs 1 SGB X anzuhören. Die im Schreiben der Beklagten vom 19. September 1989 zum Ausdruck gekommene Anhörung werde dem Erfordernis dieser Vorschrift nicht gerecht, so daß bereits aus diesem Grund die angefochtenen Bescheide rechtswidrig seien.

Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Grundsätzlich bedeutsam und klärungsbedürftig seien die Rechtsfragen, nach welchen verfahrensrechtlichen Vorschriften Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung einzustellen oder herabzusetzen seien, wenn materiell-rechtlich ein gesetzlicher Wegfall- oder Herabsetzungstatbestand gegeben sei. Verlange ferner die Rechtslage nach Inkrafttreten des SGB X nunmehr zwingend in allen Fällen die Feststellung einer wesentlichen Änderung iS des § 48 SGB X nach vorheriger Anhörung, oder könne der in dem Bewilligungsbescheid festgestellte Leistungsanspruch – ggfs in Verbindung mit dem Eintritt einer zulässigen Nebenbestimmung – sich nach § 39 Abs 2 SGB X „auf andere Weise erledigen”? Habe § 631 RVO nur materiell-rechtliche, nicht aber verfahrensrechtliche Bedeutung? Sei § 631 RVO daher unanwendbar, weil in Fällen der vorliegenden Art die Rente wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X neu festgestellt werden müsse?

Die Beschwerde ist zurückzuweisen. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) liegen nicht vor. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist nur dann gegeben, wenn die von der Beschwerdeführerin für grundsätzlich gehaltene Rechtsfrage für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits klärungsbedürftig, klärungsfähig und entscheidungserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160 Nrn 53 und 54; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 63 mwN). Das ist hier nicht der Fall.

Aus dem vom LSG festgestellten Sachverhalt und aus den vom LSG in Bezug genommenen Verwaltungsakten der Beklagten ergibt sich, daß es sich hier um einen besonders gelagerten Einzelfall handelt. Zum einen wurde die Witwenrente wenige Monate vor Vollendung des 18. Lebensjahres der am 12. Juni 1970 geborenen Tochter der Klägerin bewilligt (Bescheid vom 13. August 1987). Obwohl der Umwandlungsbescheid über die der Klägerin gewährte Witwenrente der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 16. Juni 1988 in Durchschrift auch der Beklagten zugeleitet wurde (Bl 161 der Verwaltungsakten ≪VA≫) und die Beklagte der Tochter der Klägerin wegen Vollendung des 18. Lebensjahres die Waisenrente nach vorheriger Anhörung (Schreiben vom 27. April 1988 – Bl 146 VA) zunächst entzog (Bl 147, 150 VA), wurde trotz dieser Überwachung und Bearbeitung der Waisenrente für die Tochter der Klägerin und trotz einheitlicher Verwaltungsakte für die Klägerin und ihre Tochter offensichtlich übersehen, daß für die Zeit ab 1. Juli 1988 auch die Herabsetzung der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu prüfen war. Wie sich aus dem Aktenvermerk vom 18. September 1989 (Bl 181 VA) ergibt, wurde dieser Fehler erst nach mehr als einem Jahr bemerkt.

Von diesem Einzelfall ausgehend sind die von der Beklagten für grundsätzlich bedeutsam angesehenen Fragen für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht entscheidungserheblich und damit auch nicht klärungsbedürftig. Die Klägerin wendet sich nicht gegen die Herabsetzung ihrer Witwenrente für die Zeit ab 1. Juli 1988. Die von der Beklagten für wesentlich erachtete Frage, ob die Witwenrente nach § 48 SGB X durch Bescheid herabzusetzen ist oder gemäß § 631 RVO kraft Gesetzes entfällt, würde aber auch nach Zulassung der Revision durch den Senat im Revisionsverfahren keiner Entscheidung bedürfen, da der Rückforderungsbescheid vom 26. Oktober 1989 nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen unabhängig davon aufzuheben ist, ob man der Entscheidung die Rechtsauffassung des LSG oder die der Beklagten zugrunde legt.

Folgt man der – von der Beklagten angegriffenen – Auffassung des LSG, daß sich die Rückforderung nach § 50 Abs 1 SGB X richte, so fehlt es schon an dem die Witwenrente der Klägerin ab 1. Juli 1988 nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X herabsetzenden Verwaltungsakt mit der Folge, daß der Rückforderungsbescheid vom 26. Oktober 1989 aus diesem Grund rechtswidrig ist.

Aber auch nach der Rechtsauffassung der Beklagten, wonach sich der Erstattungsanspruch nach § 50 Abs 2 SGB X richte, wäre in dem von ihr angestrebten Revisionsverfahren der Rückforderungsbescheid als rechtswidrig anzusehen. Denn den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß die Beklagte der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Ermessensausübung nicht genügt hat.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) macht die entsprechende Anwendung des § 45 SGB X innerhalb des § 50 Abs 2 SGB X – nicht anders als die unmittelbare Anwendung des § 45 SGB X – eine Ermessensentscheidung erforderlich (BSGE 66, 204, 206 ff; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10, jeweils mit zahlreichen Nachweisen). Das leitet sich aus dem Wortlaut des § 45 Abs 1 SGB X ab, wonach ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 zurückgenommen werden „darf” (BSGE 66, 204, 206 f). Der Leistungsträger hat das ihm zustehende Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs 1 Satz 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches ≪SGB I≫). Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht Anspruch (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I).

Bei der Frage, ob die Beklagte eine rechtmäßige Ermessensentscheidung vorgenommen hat, kommt es ua auf die Begründung an. Diese muß zunächst deutlich machen, daß sie eine Ermessensentscheidung getroffen hat. Darüber hinaus muß die Begründung die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs 1 Satz 3 SGB X; s dazu BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10). Hier mangelt es im Bescheid vom 26. Oktober 1989 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1990 an der ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens. Es ist bereits nicht einmal deutlich ersichtlich, ob die Beklagte überhaupt ein Ermessen ausgeübt hat. Im Bescheid vom 26. Oktober 1989 weist sie im wesentlichen darauf hin, daß die Differenz zwischen der einfachen und der erhöhten Witwenrente seit dem 1. Juni 1988 „ohne Verwaltungsakt” gezahlt worden sei; die Voraussetzungen für die Rückforderung nach den §§ 50, 45 SGB X seien erfüllt. Lediglich hinsichtlich der Zumutbarkeit der Rückforderung enthält der Widerspruchsbescheid vom 15. März 1990 den allgemeinen Hinweis, Anhaltspunkte dafür, daß die Rückzahlung aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar sei, fehlten. Die Prüfung der finanziellen Zumutbarkeit bildet bei einem Anspruch auf Rückforderung aber nur einen Teilbereich der erforderlichen Ermessensentscheidung.

Falls unter diesen Umständen überhaupt von einer Ermessensausübung in den angefochtenen Bescheiden ausgegangen werden kann, hat die Beklagte bei dieser Ermessensentscheidung auch wesentliche Gesichtspunkte nicht beachtet; zumindest hat sie diese in den Rückforderungsbescheiden und ihren Begründungen nicht hinreichend deutlich gemacht.

Die Klägerin ist mit ihrer minderjährigen Tochter Eva am 28. Mai 1985 als Aussiedlerin aus Polen in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffen (Bl 8 VA) und bezieht eine mit Bescheid vom 13. August 1987 rückwirkend bewilligte Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Für ihre Tochter Eva wurde mit Bescheid ebenfalls vom 13. August 1987 Waisenrente bewilligt. Bereits mit Schreiben vom 27. April 1988 (Bl 146 VA) wurden die Klägerin und ihre Tochter, die nach wie vor gemeinsamen Wohnsitz hatten, auf den Wegfall der Waisenrente mit Ablauf des Monats Juni 1988 hingewiesen. Nach Einreichung einer Schulbescheinigung wurde nach kurzfristiger Einstellung Waisenrente erneut bewilligt (Bescheid vom 23. Juni 1988 – Bl 158 VA). Auch dieser Bescheid wurde der Tochter Eva und in Durchschrift der Klägerin zugestellt. Hinsichtlich der Neuberechnung der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wurde seitens der Beklagten nichts unternommen, selbst nachdem der Bescheid der BfA vom 16. Juni 1988 über die Umwandlung der Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli 1988 zu den Akten der Beklagten gelangt war (Bl 161 VA). Inwiefern unter diesen Umständen die Klägerin, die nach Bewilligung der Witwenrente mit Bescheid vom 13. August 1987 und Rücknahme des vorsorglich hiergegen erhobenen Widerspruchs im September 1987 (Bl 135 VA) nicht mehr rechtskundig vertreten war, die Rechtslage für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung kannte oder zumindest infolge grober Fahrlässigkeit hätte kennen müssen, ist nicht ersichtlich. Dies gilt um so mehr, als trotz mehrfacher Korrespondenz der Beklagten mit der Klägerin und der Tochter wegen der Waisenrente die höhere Witwenrente bis zum Schreiben vom 19. September 1989 – also mehr als 14 Monate – ohne jeden Hinweis auf die ab 1. Juli 1987 geänderte Situation weitergezahlt wurde.

Die Auffassung der Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 15. März 1990, die Klägerin hätte nach der Herabsetzung – nur – ihrer Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung trotz der Weiterzahlung der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung in der bisherigen Höhe wissen müssen, auch die aufgrund eines Arbeitsunfalls gezahlte Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung stehe ihr nunmehr nicht mehr in der bisherigen Höhe zu, ist nicht nachvollziehbar. Ebenso läßt der Hinweis im Bescheid vom 13. August 1987, die Witwenrente betrage 2/5 des Jahresarbeitsverdienstes, solange die Witwe ein waisenrentenberechtigtes Kind erziehe, keine Abwägung dahingehend erkennen, ob die erst knapp über zwei Jahre in Deutschland lebende Klägerin mit ihren Rechtskenntnissen und Wissensstand allein aufgrund des im Rentenbescheid mitgeteilten Gesetzestextes den Schluß ziehen mußte, daß nach der Rechtsprechung grundsätzlich die Erziehung eines Kindes nach Vollendung des 18. Lebensjahres auch dann endet, wenn es weiter die Schule besucht und im Haushalt der Mutter lebt.

Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung sowohl der Beklagten als auch der des LSG hat damit das Fehlen einer ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Rückforderungsbescheide zur Folge. Die fehlende Ermessensentscheidung kann von der Beklagten auch nicht mehr nachgeholt werden. Auch im Rahmen der entsprechenden Anwendung des § 45 SGB X innerhalb des § 50 Abs 2 SGB X gilt die Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Die für den Fristbeginn erforderliche Kenntnis bezieht sich nicht darauf, daß die Geltendmachung der Erstattung die Ausübung von Ermessen voraussetzt, sondern auf die Kenntnis der Tatsachen, welche die Erstattung für die Vergangenheit rechtfertigen und für eine Vertrauensabwägung erforderlich sind (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10 mwN). Hier wußte die Beklagte spätestens im Zeitpunkt ihres Schreibens vom 19. September 1989 (Bl 182 VA), daß die Voraussetzungen der Erstattungspflicht der Klägerin gegeben waren. Ebenso waren ihr sämtliche für die Ausübung einer Ermessensentscheidung relevanten Umstände bekannt. Gleichwohl hat sie zunächst nicht diesen Umständen entsprechend gehandelt und später von dem ihr eingeräumten Ermessen nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form Gebrauch gemacht. Dies kann von ihr wegen des Fristablaufs jetzt nicht mehr nachgeholt werden.

Die auf grundsätzliche Bedeutung gestützte Nichtzulassungsbeschwerde war daher mangels Klärungsbedürftigkeit und Entscheidungserheblichkeit der geltend gemachten Rechtsfragen für den vorliegenden Rechtsstreit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173481

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