Leitsatz (amtlich)
Zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung werden dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß SGG § 43 folgende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
1. Wird an der Entscheidung festgehalten, daß für die Beurteilung, ob ein Versicherter
a) berufsunfähig iS des RVO § 1246 Abs 2 ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, auf denen tätig zu sein ihm zuzumuten ist und die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
b) erwerbsunfähig iS des RVO § 1247 Abs 2 ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind (Entscheidungssätze Nr 1 der Beschlüsse des Großen Senats vom 1969-12-11 GS 4/69 und GS 2/68 = BSGE 30, 167 und 192)?
2. Falls die Frage zu 1) bejaht wird: Wird an den Entscheidungssätzen Nummern 2 bis 6 der oa Beschlüsse des Großen Senats festgehalten?
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 43 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung werden dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
1. Wird an der Entscheidung festgehalten, daß für die Beurteilung, ob ein Versicherter
a) berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, auf denen tätig zu sein ihm zuzumuten ist und die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
b) erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind (Entscheidungssätze Nr. 1 der Beschlüsse des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 und GS 2/68 -, BSGE 30,. 167 und 192)?
2. Falls die Frage zu 1) bejaht wird:
Wird an den Entscheidungssätzen Nrn. 2 bis 6 der o.a. Beschlüsse des Großen Senats festgehalten?
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) über den 31. Dezember 1972 hinaus zu gewähren ist.
Die am 18. März 1923 geborene Klägerin, die als Hausgehilfin, Weinbergarbeiterin und Postfacharbeiterin mit Beschäftigung im Zustelldienst versicherungspflichtig tätig gewesen war, erkrankte 1969 am rechten Unterschenkel an einem Fibrosarkom, das auch nach Operation und häufiger Röntgenbestrahlung Beschwerden verursachte. Deswegen gewährte die Beklagte der Klägerin Rente auf Zeit wegen EU vom 22. Juli 1970 bis 31. Dezember 1971 und verlängerte sie bis zum 31. Dezember 1972, nachdem sich ergeben hatte, daß zwar die Geschwürsbildung durch Hauttransplantationen geschlossen werden konnten und kein akuter Geschwürsprozeß mehr bestand, aber immer noch ein erheblicher Muskelschwund des rechten Unterschenkels, Teilversteifung und Verdickung des rechten Kniegelenks und fast völlige Versteifung des rechten Fußgelenks fortbestanden, wodurch die Klägerin insbesondere beim Gehen deutlich behindert war.
Auf Grund eines medizinischen Gutachtens, wonach die Klägerin trotz näher beschriebener Beschwerden als Postfacharbeiterin im Sitzen, nicht aber im Stehen, und zwar letzteres nicht länger als eine Stunde arbeiten könne, lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin weiterhin Versichertenrente zu gewähren. Sie begründete dies damit, die Klägerin sei nicht mehr berufs- oder erwerbs*-unfähig (Bescheid vom 8. Februar 1973). Das Sozialgericht Koblenz hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen EU über den 31. Dezember 1972 hinaus zu gewähren (Urteil vom 25. Oktober 1973). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 14. Oktober 1974). Es hat die Auffassung der Beklagten verworfen, die Klägerin sei wieder vollschichtig arbeitsfähig und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar. Es hat demgegenüber festgestellt, die Klägerin sei lediglich halbschichtig bis unter vollschichtig einsatzfähig, aber dennoch erwerbsunfähig. Sie sei nämlich nicht mehr in der Lage, das ihr verbliebene Leistungsvermögen auf dem Teilzeitarbeitsmarkt durch eine Erwerbstätigkeit in Erwerb umzusetzen. Der Teilzeitarbeitsmarkt sei ihr praktisch verschlossen, weil für die ihr noch verbliebene Leistungsfähigkeit Arbeitsplätze fehlten. Zur Begründung hat das LSG sich insbesondere auf von ihm näher bezeichnete statistische Unterlagen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) berufen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie bekämpft die Berufungsentscheidung ua damit, das LSG habe es nicht allein dabei bewenden lassen dürfen, statistische Unterlagen der BA zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen. Zwar habe der 5. Senat in seinem Urteil vom 29. September 1970 (SozR Nr 28 zu § 1247 RVO) entschieden, daß für Teilzeitarbeitskräfte, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten könnten, der Arbeitsmarkt auch dann als verschlossen gelte, wenn die BA außerstande sei, die für die Entscheidung erforderlichen Zahlen zu nennen, weil, wenn nicht einmal die Arbeitsverwaltung einen Überblick über diesen Arbeitsmarkt habe, der Versicherte nicht ermitteln könne, wo sich ggf offene Teilzeitarbeitsplätze befänden. Demgegenüber habe der 4. Senat schon in seinem Urteil vom 23. Juli 1970 (SozR Nr 24 zu § 1247 RVO), sodann in seinem Urteil vom 29. Februar 1972 (SGb 1972, 360) und schließlich mit eingehender Begründung in seinem Urteil vom 16. August 1973 (SozR Nr 114 zu § 1246 RVO) ausgeführt, es spräche keine Vermutung dafür, daß es Teilzeitarbeitsplätze überhaupt nicht oder nicht in der vom Großen Senat (GrS) für erforderlich gehaltenen Zahl gäbe, wenn die BA über ihr Vorhandensein keine sicheren zahlenmäßigen Auskünfte zu erteilen imstande sei. In diesem Falle müßten die Tatsachengerichte weitere Ermittlungen (zB bei Wirtschaftsverbänden verschiedener Art) anstellen, zumal gerade Teilzeitarbeitsplätze auch ohne Einschaltung der Arbeitsämter vermittelt würden und deshalb damit zu rechnen sei, daß die Arbeitsverwaltung nicht den erforderlichen vollen Überblick über alle Erscheinungslagen für Teilzeitbeschäftigungen habe. Daher habe es der 4. Senat für erforderlich gehalten, die "den Normentatbestand ausfüllende Wirklichkeit" des Teilzeitarbeitsmarktes erst noch zu ergründen, wobei die Mithilfe anderer Wissenschaften, insbesondere der Sozialwissenschaften, geboten sei. Unter Hinweis auf diese Entscheidungen ist die Beklagte der Auffassung, daß das LSG weitere Tatsachenermittlungen habe vornehmen müssen.
Entscheidungsgründe
II.
Gegen die Vertretung der Klägerin durch den Oberpostdirektor S. Justitiar des D.-V. im D.Bund, bestehen nach Prüfung der Satzung 1972 des D. Verbandes, der Eintragungen im Vereinsregister und der Vollmacht keine Bedenken (§ 166 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
III
In seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 und GS 2/68 - (BSGE 30, 167 und 192) hat der GrS des Bundessozialgerichts es bei der Auslegung der Begriffe der Berufs- und Erwerbs*-unfähigkeit im Sinne der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO vorrangig und grundsätzlich für erforderlich erklärt, die in Betracht kommenden Arbeitsplätze festzustellen; es komme darauf an, daß Arbeitsplätze, seien sie frei oder besetzt, vorhanden seien (Entscheidungssätze Nr 1 der beiden Beschlüsse). Der GrS hat weiter ausgesprochen, es sei auch erheblich, in welcher Zahl solche Arbeitsplätze vorhanden seien (Entscheidungssätze Nr 2), der Versicherte nur auf Tätigkeiten verwiesen werden dürfe, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen sei (Entscheidungssätze Nr 3) und wenn dies der Fall sei (Entscheidungssätze Nr 4), welches Verweisungsgebiet zu berücksichtigen sei (Entscheidungssätze Nr 5) und daß es nicht allgemein zulässig sei, aber im Einzelfall vertretbar sein könne, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.
Die Rentenversicherungsträger und die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben sich bemüht, den Entscheidungssätzen unter Heranziehung der Anhaltspunkte für die Praxis in den beiden Beschlüssen zu folgen. Sie sind jedoch bei den Tatsachenfeststellungen im Einzelfall verstärkt auf Schwierigkeiten gestoßen. Es hat sich ergeben, daß die Lage des jeweiligen Teilzeitarbeitsmarktes nicht verläßlich aufklärbar ist. Insbesondere haben sich die vom GrS in die Aufklärungsmöglichkeiten der Arbeitsverwaltung gesetzten Erwartungen (BSGE 30, 167, 188 bis 192; 30, 192, 205 bis 208) nicht erfüllt. Die Arbeitsverwaltung sieht sich nämlich außerstande, das vom GrS verlangte Zahlenverhältnis (75:100) mit entsprechendem Material zu belegen. Versuche, auf anderem Wege den Teilzeitarbeitsmarkt aufzuhellen, haben sich als fruchtlos erwiesen; insoweit wird die Begründung des Vorlagebeschlusses des 4. Senats vom 18. März 1975 - 4 RJ 319/74 - in Bezug genommen.
Bei der Anwendung der Beschlüsse des GrS vom 11. Dezember 1969 hat sich in der Verwaltungs- und Gerichts*-praxis zunehmend ergeben, daß die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach Zahl und Bedeutung weit hinter diejenige wegen EU zurückgefallen ist, wie dies schon vor den oa Beschlüssen befürchtet worden war (BSGE 30, 179). Die von den oa Beschlüssen erhoffte Rechtssicherheit ist nicht eingetreten.
Der 12. Senat hält es mit dem 4. Senat (vgl dessen Vorlagebeschluß vom 18. März 1975) zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 43 SGG) für dringend angezeigt, daß der GrS den gesamten Fragenkreis, der ihm bereits einmal zur Entscheidung vorgelegen hat, unter Berücksichtigung aller rechtlichen und praktischen Gesichtspunkte, und zwar auch derjenigen auf Grund des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation - Rehabilitations-Angleichungsgesetz vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) - überprüft und alsdann einer neuen, überschaubaren und in Verwaltungs- und Gerichts*-praxis verläßlich handbaren Lösung zuführt.
Fundstellen