Leitsatz (amtlich)
Zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung werden dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß SGG § 43 folgende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
1. Wird an der Entscheidung festgehalten, daß für die Beurteilung, ob ein Versicherter
a) berufsunfähig iS des RVO § 1246 Abs 2 ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, auf denen tätig zu sein ihm zuzumuten ist und die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
b) erwerbsunfähig iS des RVO § 1247 Abs 2 ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind (Entscheidungssätze Nr 1 der Beschlüsse des Großen Senats vom 1969-12-11 GS 4/69 und GS 2/68 = BSGE 30, 167 und 192)?
2. Falls die Frage zu 1) bejaht wird: Wird an den Entscheidungssätzen Nummern 2 bis 6 der oa Beschlüsse des Großen Senats festgehalten?
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 43 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung werden dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
1) Wird an der Entscheidung festgehalten, daß für die Beurteilung, ob ein Versicherter
a) berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherung ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, auf denen tätig zu sein ihm zuzumuten ist und die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
b) erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung ist, es erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann,
seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind (Entscheidungsgründe Nr 1 der Beschlüsse des Großen Senats v om 11. Dezember 1969 - GS 4/69 und GS 2/68 (BSGE 39, 167 und 192)?
2) Falls die Frage zu 1) bejaht wird:
Wird an den Entscheidungssätzen Nrn. 2 bis 6 der o.a. Beschlüsse des Großen Senats festgehalten?
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zusteht.
Die Beklagte lehnte es ab, der am 3. November 1919 geborenen Klägerin, die als Hausgehilfin, Küchenhilfe, Putzfrau und Maschinenarbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen war, Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) zu gewähren, weil diese noch nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 5. Oktober 1972). Das Sozialgericht Hannover hat der Klägerin Rente wegen EU vom 1. Mai 1972 an zuerkannt (Urteil vom 27. März 1974). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 12. Februar 1975). Es hat seine Entscheidung ua damit begründet, die Klägerin sei vornehmlich durch Aufbrauchserscheinungen an der Wirbelsäule, einen leichten Bluthochdruck bei Schlagaderverhärtung und Übergewicht leistungsgemindert. Nach der im wesentlichen übereinstimmenden Beurteilung durch mehrere medizinische Sachverständige, drei Fachärzte für innere Medizin und einen Facharzt für Orthopädie, könne die Klägerin seit April 1972 (Antragstellung) nur noch höchstenfalls 6 Stunden täglich leichte Frauenarbeiten überwiegend im Sitzen ohne Akkord- und Schicht*-arbeit und ohne andauerndes Bücken, schweres Heben und Tragen verrichten. Mit ihrem derart eingeschränkten Leistungsvermögen müsse die Klägerin als erwerbsunfähig (§ 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) angesehen werden. Allerdings sei offenkundig, daß es für voll leistungsfähige Frauen Teilzeitarbeitsplätze in einer durchaus nennenswerten Zahl vorhanden seien. Für ungelernte Arbeiterinnen mit einem nicht nur zeitlich, sondern auch funktionell erheblich eingeschränkten Leistungsvermögen - leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen ohne Akkordarbeit und Wechselschicht und somit ohne Belastung durch das Arbeitstempo - gebe es indessen entsprechende Arbeitsplätze in einem außerordentlich geringen und kaum noch greifbaren Umfang. Dies sei ihm - dem LSG - schon seit langem aus früheren Vierteljahresstatistiken der Arbeitsverwaltung bekannt. Es ergebe sich auch aus Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit (BA) vom 20. Juli 1973 und vom 16. Januar 1974, des Landesarbeitsamtes (LAA) Niedersachsen-Bremen vom 28. November 1973 und des Arbeitsamtes (ArbA) H. vom 10. Dezember 1973. Die genannten Auskünfte bestätigten auch, daß für Frauen Teilzeitarbeit vornehmlich für Tätigkeiten angeboten werde, die entweder nicht dem gesundheitlichen Leistungsvermögen oder nicht den Kenntnissen und Fähigkeiten der Klägerin als ungelernte Arbeiterin entsprächen. Dies gelte namentlich in Reinigungs- und hauswirtschaftlichen, Organisations-, Verwaltungs- und Büro*-berufen, in Berufen der Ernährungswirtschaft und im Verkäuferinnenberuf. Die ohnehin schon in sehr viel geringerer Zahl vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze, die ungelernte Arbeiterinnen wenigstens zum Teil im Sitzen ausfüllen könnten, zB als Sortiererin, Packerin oder Materialprüferin einfacher Art, erforderten aber ganz überwiegend eine Belastbarkeit im Arbeitstempo (Akkord- und Band*-arbeit, Wechselschicht). Was hiernach an denkbaren Arbeitsplätzen für eine ungelernte Arbeiterin mit dem Leistungsvermögen der Klägerin verbleibe, erscheine demgegenüber verschwindend und kaum noch faßbar. Daher müsse dann von einem praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt gesprochen werden, ohne daß es einer genaueren, allerdings praktisch auch nicht möglichen quantitativen Bestimmung der geeigneten vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze im Verhältnis zu den Interessenten für solche Arbeitsplätze bedürfe. Für diese Feststellungen reichten die vorliegenden Auskünfte iVm den sonstigen Kenntnissen aus, die es, das LSG, auf Grund der erwähnten Statistiken und Betriebsbesichtigungen habe. Zwar könne die Arbeitsverwaltung den Teilzeitarbeitsmarkt nicht lückenlos erfassen. Es erscheine aber in hohem Maße unwahrscheinlich, daß sich - unbemerkt von der Vermittlungstätigkeit der Arbeitsämter - ausgerechnet ein Arbeitsmarkt nennenswerten Ausmaßes für die hier allein erhebliche Art von Teilzeitarbeit für Frauen gebildet haben sollte, nämlich für von ungelernten Arbeiterinnen überwiegend im Sitzen und ohne Belastung durch das Arbeitstempo zu verrichtende leichte körperliche Arbeiten. Eher erscheine es denkbar, daß ein Teil der hier in Betracht kommenden Tätigkeiten, zB in privaten Haushalten einschließlich Beaufsichtigung von Kindern oder in anderen Dienstleistungs- und Büro*-berufen, ohne Einschaltung des ArbA angeboten und vergeben werde.
Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 13. November 1974 - 12 RJ 52/74 - (noch nicht veröffentlicht) entsprechende Auskünfte der Behörden der Arbeitsverwaltung für ausreichend erachtet.
Auf Grund der Lage des Falles hat es das LSG offen gelassen, ob es für Reinigungs- und sonstige hauswirtschaftliche Tätigkeiten einen offenen Teilzeitarbeitsmarkt, insbesondere auch für eine nur 2 bis 3 Stunden täglich dauernde Erwerbstätigkeit gibt, durch die zwar nicht eine BU (§ 1246 Abs 2 RVO), wohl aber eine EU (§ 1247 Abs 2 RVO) abgewendet werden könne. Nach dem Begutachtungsergebnis des zuletzt vom LSG vernommenen medizinischen Sachverständigen, eines Facharztes für innere Krankheiten, sei die Klägerin auch bei einer auf 2 bis 3 Stunden täglich verkürzten Arbeitszeit ebenfalls in ihren Funktionen erheblich eingeschränkt, so daß sie auch nicht eine so zeitlich begrenzte tägliche hauswirtschaftliche Erwerbstätigkeit, namentlich als Putzfrau oder Hausgehilfin, ausüben könne. Andere Erwerbstätigkeiten, die die Klägerin mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten stundenweise ausüben könnte, seien nicht ersichtlich.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1247 Abs 2 RVO.
Das LSG habe den "allgemeinen Erfahrungssatz" außer acht gelassen, daß leistungsgeminderte Frauen wie die Klägerin in nennenswertem Umfang Teilzeitarbeitsplätze einnähmen. Es treffe zwar zu, daß besetzte Teilzeitarbeitsplätze überwiegend von gesunden Frauen eingenommen würden, weil dafür familiäre und zeitliche Gründe maßgebend seien. Erfahrungsgemäß nähmen verheiratete Frauen oder Witwen im Alter von Mitte bis Ende 40 und Anfang von 50 Jahren wieder Teilzeitarbeit an, nachdem sie von ihren starken familiären Verpflichtungen frei seien. Allerdings pflegten sich bei ihnen altersbedingte oder andere Leiden einzustellen, die bei jüngeren Frauen noch fehlten. Derartige Beschwerden schlössen von vornherein schwere Arbeiten aus. Mit ganztägiger oder vollschichtiger Arbeitszeit würden diese Frauen zu stark belastet, weil sich bei ihnen nach Ablauf von 4 bis 6 Stunden ein deutlicher Leistungsabfall bemerkbar mache. Solche Arbeitnehmerinnen mit qualitativ und quantitativ eingeschränktem Leistungsvermögen litten am häufigsten an: Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, orthostatischen Beschwerden infolge Kreislaufschwäche, Blutunterdruck oder Blutüberdruck, Belastungsschwäche der Beine infolge Krampfadern oder anderer Beinbeschwerden, Nachlassen der Sehkraft, Nachlassen der Fingerfertigkeit oder Geschicklichkeit der Hände. Diese Leiden hätten regelmäßig zur Folge, daß lange Anmarschwege nicht bewältigt, Arbeiten mit längerem Stehen oder Gehen, in häufig gebückter Haltung oder mit anderen Erschwernissen nicht mehr verrichtet werden könnten. Deshalb seien derartige ältere Arbeitnehmerinnen aber nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Gerade die vergangenen Zeiten der Vollbeschäftigung hätten bewiesen, daß vorzugsweise Arbeitgeber in Handel und Gewerbe mit kleineren und mittleren Betrieben solche Arbeitskräfte, zumal solche der unteren Lohngruppen, in Teilzeitarbeit eingestellt hätten. Vorübergehende Zeiten einer schwankenden oder zurückgehenden Wirtschaftskonjunktur wie die jetzigen seien für die Zahl der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze kein Maßstab.
Der Erfahrungssatz, daß auch ältere und in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkte Arbeitnehmerinnen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt würden, liege auch der Feststellung des Großen Senats (Gr S) des BSG in seinem Beschluß vom 11. Dezember 1969 - Gs 2/68 - (BSGE 30, 192) zu V Nr 2 Abs 2 (aaO, 207) zugrunde. Der GrS habe (aaO) ua ausgeführt, daß nur die Versicherten, "die aus gesundheitlichen Gründen quantitativ und qualitativ keine der Teilzeittätigkeit entsprechende Normalleistungen erbringen können und die gesundheitlich nur noch unter Bedingungen arbeiten können, die von den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen erhebliche abweichen", vom allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen seien. "Normalleistungen" und "betriebsübliche Arbeitsbedingungen" im Sinne der Ausführungen des GrS des BSG sähen aber bei weiblichen Versicherten anders als bei männlichen Arbeitskräften aus. Daher sei es folgerichtig gewesen, daß die Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit in den Jahren nach den Beschlüssen des GrS BU oder EU bei weiblichen Versicherten, die nur noch Teilzeitarbeitsleistungen verrichten konnten, verneint habe, und zwar selbst dann, wenn diese Arbeitnehmerinnen auch qualitativ in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkt gewesen seien. Das LSG habe verkannt, daß zu einer quantitativen Einschränkung des Leistungsvermögens fahrende Gesundheitsschäden fast regelmäßig auch eine qualitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit zur Folge hätten und daß in dem hier zu entscheidenden Fall keine "erheblichen Einschränkungen des Leistungsvermögens" vorlägen, die über die Einschränkungen hinausgingen, die üblicherweise bei weiblichen Versicherten dieser Altersgruppe vorlägen.
Wie jedem Arzt und auch manchem erfahrenen Laien bekannt sei, handelt es sich bei den Leiden, wie sie die Klägerin habe - Aufbrauchserscheinungen an der Wirbelsäule, leichter Bluthochdruck als Folge einer Schlagaderverhärtung und des Übergewichts -, nicht um Leiden, die einen besonderen Krankheitswert hätten, selbst wenn die Klägerin deswegen ärztlich behandelt werde. Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule seien in dem Lebensalter der Klägerin nichts außergewöhnliches. Sie lägen durchaus im Bereich eines normalen Abbaus der Wirbelsäule bei Menschen dieser Altersgruppe. Daß der Bluthochdruck von einem medizinischen Sachverständigen nur als "leicht" bezeichnet werde, zeige bereits, daß die Begleiterscheinungen nicht zu erheblichen Einschränkungen des Leistungsvermögens führen könnten. Nach medizinischer und allgemeiner Lebenserfahrung könne angenommen werden, daß die meisten 56jährigen weiblichen Versicherten in einer Teilzeitarbeit unter ähnlichen oder in ihren Auswirkungen vergleichbaren Gesundheitsbeeinträchtigungen litten. Zudem habe sie, die Beklagte, der Klägerin im angefochtenen Bescheid ein Heilverfahren zur Erhaltung ihrer Erwerbsfähigkeit angeboten. Es müsse insbesondere auf § 7 Abs 1 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) verwiesen werden: "Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit sollen erst dann bewilligt werden, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden oder wenn, insbesondere wegen Art oder Schwere der Behinderung, ein Erfolg solcher Maßnahmen zu erwarten ist. Die Leistungsbeeinträchtigungen der Klägerin hätten nach Auffassung der zum Fachbereich der inneren Medizin gehörigen Sachverständigen durch die angebotenen Heilmaßnahmen erfolgreich behandelt werden können.
Das LSG habe die bisher in ständiger Rechtsprechung von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit stets angeführten Verweisungsberufe einer Sortiererin, Packerin, Materialprüferin einfacher Art für die Klägerin zu Unrecht ausgeschlossen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts treffe es nicht zu, daß derartige Tätigkeiten überwiegend eine Belastbarkeit hinsichtlich des Arbeitsumfanges (Akkord- und Band*-arbeit, Wechselschicht) erforderten. Vielleicht sei dies in Großbetrieben mit Fließbandarbeit der Fall. Demgegenüber seien aber viele ruhige leichte Arbeitsplätze vorhanden, zB in Verwaltungen, kleineren Gewerbebetrieben, im Handel und in Haushalten, die ein derartiges Arbeitstempo nicht verlangten. So unterlägen zB die Tätigkeiten einer Verwiegerin, einer Etikettiererin oder Preisauszeichnerin nicht dem genannten Leistungs- und Zeit*-druck.
Das LSG habe zu Unrecht sich auf die Auskünfte zur Ermittlung der Zahl der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze (Auskünfte der BA vom 20. Juli 1973 und 16. Januar 1974, des LAA Niedersachsen-Bremen vom 28. November 1973 und des ArbA H. vom 10. Dezember 1973) berufen. Entgegen der Auffassung des LSG reichten diese Auskünfte nicht aus, um das Verhältnis der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze zu der Zahl der Interessenten für solche Arbeitsplätze feststellen zu können. Die Auffassung des LSG lasse sich auch nicht auf das Urteil des BSG vom 13. November 1974 - 12 RJ 52/74 - (noch nicht veröffentlicht) stützen. Es sei schon zweifelhaft, ob diese Entscheidung im Falle der Klägerin herangezogen werden könne. Sie enthalte nämlich keine allgemeine Aussage über den Wert von Auskünften der BA, sondern betreffe lediglich einen Einzelfall mit besonderen Einschränkungen, die zudem "erheblich" gewesen seien. Das LSG habe es jedoch unterlassen, die der Entscheidung des 12. Senats des BSG zugrunde liegenden Einschränkungen des Leistungsvermögens mit denjenigen des hier zu entscheidenden Falles zu vergleichen. Jedenfalls seien die vom LSG festgestellten Leistungseinschränkungen nicht "erheblich" im Sinne der Beschlüsse des GrS des BSG. Aus den genannten Auskünften könne auch nicht der Schluß gezogen werden, daß der Arbeitsmarkt für die Klägerin praktisch verschlossen sei. Die BA habe nämlich in ihrer Auskunft, die nach der Auffassung des LSG als Beweis ausreichen solle, wörtlich ausgeführt: "Konkrete Zahlen über die offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze, an denen Frauen ohne Berufsausbildung beschäftigt werden, gibt es nicht". Auch das ArbA H. habe in seiner Auskunft vom 10. Dezember 1973 bestätigt, daß sich die Zahl der besetzten Teilzeitstellen nicht ermitteln lasse. Ebenso ergebe die Auskunft des LAA Niedersachsen-Bremen vom 28. November 1973, daß statistische Daten für die Feststellung, wie viele offene und besetzte Teilzeitarbeitsplätze im Arbeitsamtsbezirk vorhanden seien, fehlten. Die Entscheidung des 12. Senats des BSG stehe im übrigen im Widerspruch zu Urteilen anderer Senate des BSG: Urteil des 1. Senats vom 6. Februar 1975 - 1 RA 207/74; Urteil des 4. Senats vom 16. August 1973 SozR Nr 114 zu § 1246 RVO.
Tatsächlich sei davon auszugehen, daß die Arbeitsverwaltung bei ihrer Arbeitsvermittlung nur jene offenen Stellen und nur jene Interessenten für Teilzeitarbeitsplätze registriere, die von Arbeitgebern und Arbeitsuchenden dort gemeldet würden. Die meisten Arbeitsplätze, auch Teilzeitarbeitsplätze, würden aber auf dem freien Arbeitsmarkt vermittelt. Daher hätten die Arbeitsbehörden auch nicht das für die Entscheidung notwendige Zahlenmaterial. Nach Einführung der flexiblen Altersgrenze mit 62 oder 63 Jahren habe sich übrigens gezeigt, daß die meisten älteren Arbeitnehmer, die diese Voraussetzungen für das flexible Altersruhegeld erfüllen, von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und ein großer Teil dieser Rentner bis zur höchstzulässigen Grenze noch hinzuverdiene. Da es sich hierbei nur um eine Beschäftigung auf Teilzeitarbeitsplätzen handeln könne, beweise die Weiterarbeit gegen der Höhe nach begrenzten Lohn, daß sogar für ältere Arbeitnehmer, die meist auch qualitativ in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt seien, Teilzeitarbeitsplätze vorhanden seien.
Die Beklagte verweist schließlich auf die Vorlage des 4. Senats an den GrS und hält es für dringend geboten, daß die bestehende Rechtsunsicherheit behoben werde.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Februar 1975 und des Sozialgerichts Hannover vom 27. März 1974 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 5. Oktober 1972 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
In seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 und GS 2/68 - (BSGE 30, 167 und 192) hat der GrS des BSG es bei der Auslegung der Begriffe der BU und EU im Sinne der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO vorrangig und grundsätzlich für erforderlich erklärt, die in Betracht kommenden Arbeitsplätze festzustellen; es komme darauf an, daß Arbeitsplätze, seien sie frei oder besetzt, vorhanden seien (Entscheidungssätze Nr 1 der beiden Beschlüsse). Der GrS hat weiter ausgesprochen, es sei auch erheblich, in welcher Zahl solche Arbeitsplätze vorhanden seien (Entscheidungssätze Nr 2), der Versicherte nur auf Tätigkeiten verwiesen werden dürfe, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen sei (Entscheidungssätze Nr 3), und wenn dies der Fall sei (Entscheidungssätze Nr 4), welches Verweisungsgebiet zu berücksichtigen sei (Entscheidungssätze Nr 5), und daß es nicht allgemein zulässig sei, aber im Einzelfall vertretbar sein könne, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.
Die Rentenversicherungsträger und die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben sich bemüht, den Entscheidungssätzen unter Heranziehung der Anhaltspunkte für die Praxis in den beiden Beschlüssen zu folgen. Sie sind jedoch bei den Tatsachenfeststellungen im Einzelfall verstärkt auf Schwierigkeiten gestoßen. Es hat sich ergeben, daß die Lage des jeweiligen Teilzeitarbeitsmarktes nicht verläßlich aufklärbar ist. Insbesondere haben sich die vom GrS in die Aufklärungsmöglichkeiten der Arbeitsverwaltung gesetzten Erwartungen (BSGE 30, 167, 188 bis 192; 30, 192, 205 bis 208) nicht erfüllt. Die Arbeitsverwaltung sieht sich nämlich außerstande, das vom GrS verlangte Zahlenverhältnis (75:100) mit entsprechendem Material zu belegen. Im vorliegenden Falle folgt das eindeutig aus den Auskünften der Arbeitsverwaltung. Versuche, auf anderem Wege den Teilzeitarbeitsmarkt aufzuhellen, haben sich als fruchtlos erwiesen; insoweit wird die Begründung des Vorlagebeschlusses des 4. Senats vom 18. März 1975 - 4 RJ 319/74 - in Bezug genommen.
Bei der Anwendung der Beschlüsse des GrS vom 11. Dezember 1969 hat sich in der Verwaltungs- und Gerichts*-praxis zunehmend ergeben, daß die Rente wegen BU nach Zahl und Bedeutung weit hinter diejenigen wegen EU zurückgefallen ist, wie dies schon vor den oa Beschlüssen befürchtet worden war (BSGE 30, 179). Die von den oa Beschlüssen erhoffte Rechtssicherheit ist nicht eingetreten.
Der 12. Senat hält es mit dem 4. Senat (vgl dessen Vorlagebeschluß vom 18. März 1975) zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 43 des Sozialgerichtsgesetzes) für dringend angezeigt, daß der GrS den gesamten Fragenkreis, der ihm bereits einmal zur Entscheidung vorgelegen hat, unter Berücksichtigung aller rechtlichen und praktischen Gesichtspunkte, und zwar auch derjenigen auf Grund des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) überprüft und alsdann einer neuen, überschaubaren und in Verwaltungs- und Gerichts*-praxis verläßlich handbaren Lösung zuführt.
Fundstellen