Leitsatz (amtlich)
Hat das LSG die Zulassung der Revision, ohne die Grundsätzlichkeit der entschiedenen Rechtsfrage zu prüfen, mit der - unrichtigen - Begründung abgelehnt, das Urteil sei ohnehin mit der Revision anfechtbar, so liegt hierin kein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2; der Rechtsirrtum des LSG betrifft den Inhalt der Entscheidung.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27 . August 1957 wird als unzulässig verworfen .
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten .
Gründe
Der Klägerin , die beide Beine infolge eines Unfalls in der Landwirtschaft verloren hat , ist vom Sozialgericht (SG . ) Marburg ein Pflegegeld (§ 558 c der Reichsversicherungsordnung - RVO) von 125 , -- DM monatlich zugesprochen worden . Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG . ) durch Urteil vom 27 . August 1957 das Pflegegeld auf 100 , -- DM monatlich herabgesetzt . Es hat die Revision - entgegen der Anregung der Beklagten - nicht zugelassen , weil "die Revisionseinlegung bereits durch § 150 Nr . 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ermöglicht und daher eine Zulassung nicht statthaft" sei .
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt . Sie beantragt , die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 13 . Februar 1956 , mit dem sie der Klägerin ein Pflegegeld von 90 , -- DM monatlich zugebilligt hatte , abzuweisen .
Die Revision rügt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens , indem sie ausführt: Die Begründung , mit der das LSG . es abgelehnt habe , die Revision zuzulassen , beruhe auf einem Rechtsirrtum; sie lasse indessen erkennen , daß das LSG . die Revision zugelassen hätte , wenn es die Zulässigkeitsbestimmungen nicht verkannt hätte . Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision hätten auch vorgelegen; denn es sei über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gewesen (§ 162 Abs . 1 Nr . 1 SGG) .
Der Revision ist zuzugeben , daß die Entscheidung des LSG . über die Zulassung der Revision fehlerhaft ist . Die angeführte Vorschrift des § 150 Nr . 2 SGG betrifft nicht die Revision , sondern die Berufung . Ein Rechtsirrtum liegt auch vor , wenn man - was nahe liegt - annimmt , daß das LSG . § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG gemeint , sich aber in der Bezeichnung der Vorschrift vergriffen hat . § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG begründet nicht ohne weiteres die Statthaftigkeit der Revision , Voraussetzung ist vielmehr , daß ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt (BSG . 1 S . 150) . Gleichwohl bedeutet die insoweit unrichtige Entscheidung keinen Mangel im Verfahren des LSG ., der im vorliegenden Falle allein die Statthaftigkeit der Revision begründen könnte .
Das Bundessozialgericht (BSG . ) - auch der erkennende Senat - hat wiederholt entschieden , daß die Nichtzulassung der Revision das Revisionsgericht bindet und auch nicht auf dem Wege der Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens zum Gegenstand der Prüfung durch das Revisionsgericht gemacht werden kann (BSG . in SozR .SGG § 162 Bl . Da 1 Nr . 1; BSG . 2 S . 45 und 81; vgl . auch für das Rechtsmittel der Berufung BSG . in SozR .SGG § 150 Bl . Da 4 Nr . 12 und 8 Nr . 19; BSG . 3 S . 231 und 5 S . 150) . Die Bindung des BSG . ergibt sich insbesondere daraus , daß das SGG im Gegensatz zu § 53 Abs . 3 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23 . September 1952 (BVerwGG - BGBl . I S . 625) kein Rechtsmittel gegen die Nichtzulassung vorsieht , vielmehr im wesentlichen die gleiche Regelung enthält wie die Zivilprozeßordnung (§ 546 Abs . 2) und das Arbeitsgerichtsgesetz (§ 72 Abs . 1); auch in den beiden zuletzt angeführten Verfahrensordnungen hat es der Gesetzgeber bewußt der Verantwortung der Berufungsgerichte überlassen , in den vom Gesetz bestimmten Fällen die Voraussetzungen für die Eröffnung des dritten Rechtszuges zu schaffen . Eine Nachprüfung der vom Berufungsgericht in der Zulassungsfrage getroffenen Entscheidung a . f dem Wege über die Rüge eines Verfahrensmangels scheitert daran , daß eine unrichtige Entscheidung nicht das Verfahren des Berufungsgerichts berührt , sondern den Inhalt seiner Entscheidung . § 162 Abs . 1 Nr . 1 SGG betrifft das Verfahren des LSG . nur insoweit , als dem Gericht zur Pflicht gemacht ist , eine Entscheidung über die Zulassung der Revision zu treffen . Trifft es diese Entscheidung , so ist dem verfahrensrechtlichen Bestandteil des § 162 Abs . 1 Nr . 1 SGG Genüge getan . Demgegenüber regelt der zweite Halbsatz dieser Vorschrift die Frage , unter welchen Voraussetzungen die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision positiv zu treffen ist; er betrifft demnach nicht das Verfahren , sondern den Inhalt der Entscheidung, so auch Brackmann , Handbuch der Sozialversicherung , Stand 15 . 1 . 1958 , Bd . I S . 250 t hinsichtlich der Zulassung der Berufung .
Die angeführte Rechtsprechung des BSG . betrifft allerdings ausschließlich solche Fälle , in denen als Verfahrensmangel gerügt worden war , daß in der angefochtenen Entscheidung die Frage unrichtig beurteilt sei , ob über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden war (§ 162 Abs . 1 Nr . 1 SGG) bzw . ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hatte (§ 150 Nr . 1 SGG) . Demgegenüber hat das LSG . im vorliegenden Falle die Zulassung der Revision schon deshalb abgelehnt , weil es seine Entscheidung - unrichtigerweise - als ohne weiteres mit der Revision angreifbar erachtete . Dieser Unterschied ist jedoch für die Beurteilung der Frage , ob ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vorliegt , unerheblich . Im vorliegenden Falle wird ebenso wie in den vom BSG . bereits entschiedenen Fällen gerügt , daß eine Voraussetzung für die Zulassung des Rechtsmittels unrichtig beurteilt worden sei . Genau so wie bei fehlender Grundsätzlichkeit der zu entscheidenden Rechtsfrage oder auch z . B . im Falle der Endgültigkeit des Berufungsurteils (§ 214 Abs . 5 SGG - vgl . BSG . 1 S . 104 [106]) die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision in negativem Sinne zu treffen und beim Fehlen von Berufungsausschließungsgründen die Berufung nicht nach § 150 Nr . 1 SGG zuzulassen ist (vgl . BSG . 2 S . 135 [139]) , so hätte auch das Hessische LSG . die Zulassung der Revision , ohne daß die Frage der Grundsätzlichkeit geprüft zu werden brauchte , schon deshalb ablehnen dürfen und müssen , wenn es eine Vorschrift gäbe , nach der sein Urteil ohne weiteres der Revision zugänglich wäre . Von dem Vorhandensein einer solchen , die Revisionszulassung hindernden Voraussetzung ist das LSG . ausgegangen . Da diese Annahme nicht zutrifft , ist die Begründung für die Nichtzulassung der Revision allerdings fehlerhaft; der Rechtsirrtum liegt aber nicht auf dem Gebiet des Verfahrensrechts , sondern in der Entscheidungsfindung und vermag deshalb die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG nicht zu begründen .
Ob ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vorläge , wenn das LSG . es unterlassen hätte , die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision zu prüfen (so für die Berufung: Brackmann a . a . O . S . 250 t; vgl . auch Spielmeyer , Die Sozialgerichtsbarkeit 1958 S . 214) , kann dahingestellt bleiben; denn im vorliegenden Falle hat das LSG . eine Entscheidung Über die Zulassung der Revision zwar nicht im Urteilstenor , aber in den Entscheidungsgründen eindeutig getroffen .
Die Revision ist somit nicht statthaft , sie mußte deshalb als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG) .
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG .
Fundstellen