Leitsatz (amtlich)
Die Klage kann auch nach Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch Erklärung gegenüber dem BSG zurückgenommen werden.
Normenkette
SGG § 102 S 1 Fassung: 1953-09-03, § 160a Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 25.05.1982; Aktenzeichen L 5 Kr 49/81) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 22.10.1981; Aktenzeichen S 7 Kr 18/81) |
Gründe
Auf Antrag des Klägers war gemäß § 102 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache durch Beschluß auszusprechen. Die erklärte Klagerücknahme ist entgegen der Ansicht der Beklagten zu 1) in dem bezeichneten Umfang wirksam, ungeachtet dessen, daß die Rücknahmeerklärung nach Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision erfolgt ist. Damit ist zugleich auch das Beschwerdeverfahren erledigt, weil wegen der das gesamte Verfahren erledigenden Wirkung der Klagerücknahme für eine Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde kein Raum mehr ist.
Ob die Klage auch im Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision zurückgenommen werden kann, ist im SGG nicht ausdrücklich geregelt. Die Regelung des § 102 Satz 1 und 2 SGG, wonach der Kläger bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung die Klage mit den Rechtsstreit in der Hauptsache erledigender Wirkung zurücknehmen kann, gilt über §§ 165, 153 SGG auch im Revisionsverfahren entsprechend (BSG SozR Nr 4 zu § 102 SGG). Für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde fehlt eine entsprechende Vorschrift. Allerdings unterliegt die Nichtzulassungsbeschwerde als Rechtsmittel den gleichen Grundsätzen, die für Rechtsmittel allgemein gelten (Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, RdNr 191); wegen des systematischen Zusammenhangs mit der Revision - das Zulassungsverfahren ist der Revision als Verfahren zur Überwindung der Zulassungsschranke vorgeschaltet - gelten grundsätzlich die allgemeinen Regeln des Revisionsrechts entsprechend (vgl Weyreuther, aaO, RdNr 192 f). Dies gilt auch für die Klagerücknahme nach § 102 SGG iVm §§ 165, 153 SGG. Die in § 102 Satz 1 SGG vorgesehene Einschränkung "bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung" rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich keinerlei Hinweis, warum der Gesetzgeber hier - anders als in den anderen Verfahrensordnungen (§ 269 Abs 1 Zivilprozeßordnung -ZPO-; § 92 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung; § 72 Abs 1 Finanzgerichtsordnung) - nicht auf den Zeitpunkt der Rechtskraft, sondern auf den Schluß der mündlichen Verhandlung abgestellt hat (vgl die Begründung zu § 50 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung, der im wesentlichen als § 102 SGG übernommen worden ist, in BT-Drucks 4357/53, S 28). Kann damit nicht gemeint sein, daß die Klagerücknahme überhaupt nur bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung im Klageverfahren zulässig ist, so gewinnt § 102 Satz 1 SGG nur dann einen Sinn, wenn die Klagerücknahme solange zulässig ist, wie eine mündliche Verhandlung noch möglich ist, also regelmäßig bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils. Für diese Auslegung sprechen nicht nur Gründe der Prozeßökonomie. Würde für den Fall, daß ein Rechtszug - hier das Berufungsverfahren - durch Verkündung des Urteils abgeschlossen und damit eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich ist, gefordert, daß erst das gegebene Rechtsmittel - hier die Revision - eingelegt worden ist, bevor eine Klagerücknahme wirksam erklärt werden kann (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur SGb, § 102 Anm 3 aE; Rohwer-Kahlmann, Kommentar zum SGG, § 102 RdNr 5), so wäre dies nicht nur im Hinblick auf entstehende Verfahrenskosten unzweckmäßig (vgl Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 2. Aufl, § 102 RdNr 6), sondern liefe auch auf eine unnötige, durch den Schutzzweck des § 102 SGG nicht gebotene Abweichung von den anderen Verfahrensordnungen hinaus.
Den Regelungen in § 102 SGG und in den anderen Verfahrensgesetzen liegt hinsichtlich des Schutzes des Beklagten vor einer willkürlichen Disposition des Klägers über den Streitgegenstand derselbe Rechtsgedanke zugrunde: Hat der Beklagte ein für ihn günstiges Urteil erstritten, so soll ihm dieses Urteil - auch solange es noch nicht rechtskräftig ist - nicht durch Klagerücknahme mit der Folge aus der Hand geschlagen werden, daß eine neue Klage mit demselben Streitgegenstand gegen ihn erhoben werden kann. Darum ist in den übrigen Verfahrensgesetzen die Rücknahme der Klage von der Einwilligung des Beklagten abhängig. In Verfahren nach dem SGG ist diese Einwilligung nicht erforderlich, weil hier nach der Klagerücknahme, die den Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, eine neue Klage mit demselben Streitgegenstand nicht erhoben werden kann (BSG SozR Nrn 9 und 10 zu § 102; Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 102 Anm 4). Es besteht daher kein weitergehendes Bedürfnis, den Beklagten vor Einlegung eines Rechtsmittels (bis zum Eintritt der Rechtskraft) vor den Folgen einer Klagerücknahme zu schützen. Diese ist vielmehr in jedem Stand des Verfahrens vom Eintritt der Rechtshängigkeit an solange zulässig, wie eine mündliche Verhandlung möglich ist, wobei hier dahingestellt bleiben kann, ob sich dieser Zeitpunkt stets mit dem Eintritt der Rechtskraft deckt.
Eine mündliche Verhandlung ist auch noch möglich, wenn - wie hier - eine Beschwerde nach § 160a SGG eingelegt worden ist; denn abgesehen davon, daß über die Beschwerde selbst mündlich verhandelt werden kann (§ 124 Abs 3 iVm § 160a SGG) ist, solange nicht über die Beschwerde entschieden ist, eine mündliche Verhandlung im Revisionsverfahren noch möglich. Das gilt jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - das eingelegte Rechtsmittel an sich statthaft und fristgerecht eingelegt ist, mag es auch mangels formgerechter Begründung unzulässig oder unbegründet sein; denn solange die Beschwerde noch nicht verworfen ist, wird durch ihre Einlegung die Rechtskraft des Berufungsurteils gehemmt (§ 160a Abs 4 Satz 4 SGG). Die Verwerfung wirkt in diesen Fällen konstitutiv mit der Folge, daß erst mit Erlaß des Beschlusses die Rechtskraft eintritt. Ob etwas anderes gilt, wenn das eingelegte Rechtsmittel nicht "an sich statthaft" war oder wenn es nach Ablauf der Rechtsmittelfrist eingelegt worden ist, bedarf hier keiner Entscheidung (vgl zur Problematik Wieczorek, ZPO, 2. Aufl, § 271 B I b 1; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl 1981, § 131 I 3, S 766; zur einseitigen Erledigungserklärung vgl auch BSG SozR Nr 193 zu § 162 SGG aF).
Ist demnach die Klagerücknahme auch noch während des beim Bundessozialgericht (BSG) anhängigen Beschwerdeverfahrens zulässig, so ist sie auch mit der Erklärung gegenüber diesem Gericht wirksam geworden. Die Erklärung ist zwar nach Erlaß eines Urteils und vor Rechtsmitteleinlegung regelmäßig an das Gericht zu richten, das das Urteil erlassen hat (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 102 RdNr 8). Ist - wie hier - gegen ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) mangels Zulassung der Revision nicht dieses Rechtsmittel, sondern die stattdessen gegebene Beschwerde nach § 160a SGG beim BSG eingelegt worden, so kann gleichwohl die Klagerücknahme gegenüber diesem Gericht erklärt werden, ungeachtet dessen, daß Revision und Beschwerde unterschiedliche Entscheidungs- bzw Streitgegenstände haben. Denn abgesehen davon, daß das Beschwerdeverfahren inhaltlich über die Zulassungstatbestände in engem Bezug zum Streitgegenstand des - erstrebten - Revisionsverfahrens steht und dieses gewissermaßen vorbereitet, ist, wie auch sonst bei formal und materiell getrennten Verfahren, die Klagerücknahme bei dem Gericht zulässig, bei dem über eines dieser Verfahren entschieden werden soll (vgl Wieczorek, aaO, Anm B II a).
Die auf Antrag des Klägers und des Beklagten zu 1) ergangene Kostenentscheidung (§ 102 Satz 3 SGG iVm § 193 Abs 1 und 4 SGG) erfolgte nach billigem Ermessen (BSG SozR Nr 4 zu § 193 SGG). Hierbei wurde berücksichtigt, daß das gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Feststellungsbegehren voraussichtlich ohne Erfolg geblieben wäre. Die Kosten der Beklagten sind nach § 193 Abs 4 SGG grundsätzlich nicht erstattungsfähig. Die Auferlegung von Mutwillenskosten nach § 192 SGG kommt nicht in Betracht, weil keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, daß der Kläger mutwillig, dh wider bessere Einsicht den Rechtsweg zu den Sozialgerichten weiter beschritten hat. Die Kostenentscheidung betrifft im übrigen nur die Verfahrenskosten, soweit der Beklagte zu 1) am Verfahren beteiligt war; über weitere Verfahrenskosten - Kosten des Verfahrens, soweit es gegen den Beklagten zu 2) gerichtet war - hat der Senat nicht zu entscheiden, da sich hierauf der Antrag der Beteiligten nach § 102 Satz 3 SGG nicht erstreckt.
Fundstellen