Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Rüge des Fehlens der Entscheidungsgründe. Bezeichnung der Tatsachen
Leitsatz (amtlich)
Die Rüge des Fehlens von Entscheidungsgründen wegen verspäteter Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle erfordert Darlegungen, daß und mit welchem Ergebnis versucht worden ist, den Inhalt des amtlichen Vermerks über den Zeitpunkt der Urteilsübergabe zu erfahren.
Orientierungssatz
Die Frist von fünf Monaten zur Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle dient ausschließlich der Sicherung der Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe. Liegt deshalb die zögerliche Zustellung des Urteils nicht an der verspäteten Übergabe der Urschrift an die Geschäftsstelle, sondern an Umständen innerhalb der Gerichtsverwaltung, wird dadurch die Beurkundungsfunktion der Urteilsurschrift nicht beeinträchtigt.
Normenkette
SGG §§ 202, 164 Abs 2 S 3; ZPO § 551 Nr 7
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 25.03.1993; Aktenzeichen L 3 An 24/92) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 21.04.1992; Aktenzeichen S 7 An 97/91) |
Tatbestand
Streitig ist die Höhe einer Regelaltersrente.
Das Landessozialgericht (LSG) hat sein von der Beklagten mit der Revision angefochtenes Urteil am 25. März 1993 verkündet. Nach einem Aktenvermerk (Bl 55 R der LSG-Akte) wurde ein Urteilsentwurf am 20. August 1993 "auf Band" gesprochen und zur Kanzlei gegeben. In den Akten des LSG ist nicht vermerkt, wann das vollständig abgefaßte und von den Mitgliedern des Senats unterschriebene Urteil zur Geschäftsstelle des LSG gelangt ist. Diese hatte bereits am 26. März 1993 angeordnet, Ausfertigungen des Urteils vom 25. März 1993 an die Beteiligten zuzustellen. Die Ausfertigungen sind am 22. September 1993 hergestellt und am 24. September 1993 (Bl 57 der LSG-Akte) abgesandt worden. Das Urteil ist der Beklagten am 27. September 1993 zugestellt worden.
Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, das Urteil des LSG sei iS der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Beschluß vom 27. April 1993, SozR 3-1750 § 551 Nr 4) nicht mit Gründen versehen. Denn die Frist von fünf Monaten sei überschritten worden. Die Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe sei nicht mehr gewahrt.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. |
März 1993 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und |
Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. |
Die Klägerin, die durch keinen beim Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten ist, hat sich nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte Revision der Beklagten ist gemäß § 169 Satz 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen, weil sie entgegen § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht hinreichend begründet worden ist.
Zwar hat die Beklagte noch einen hinreichend bestimmten Revisionsantrag gestellt. Der Revisionsbegründungsschrift kann nämlich mit noch hinreichender Klarheit entnommen werden, daß sie ausschließlich die Aufhebung des Urteils des LSG und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht begehrt. Hingegen hat sie an ihrem mit der Revisionsschrift angekündigten Antrag nicht mehr festgehalten, das Urteil des LSG und dasjenige des Sozialgerichts (SG) aufzuheben und die Klage abzuweisen. Auch wenn sie diesen Antrag nicht ausdrücklich abgeändert, zurückgenommen oder ersetzt hat, ist der Revisionsbegründung schlüssig zu entnehmen, daß sie vom Revisionsgericht die Entscheidung nur noch darüber begehrt, ob das Urteil des Berufungsgerichts wegen eines absoluten Revisionsgrundes iS von § 202 SGG iVm § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO) aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Dies folgt zunächst daraus, daß die Beklagte sich mit dem Urteil des LSG nicht inhaltlich auseinandergesetzt, also keine Sachrüge erhoben, sondern sich auf die Behauptung beschränkt hat, das Urteil des LSG enthalte iS von § 551 Nr 7 ZPO keine Entscheidungsgründe. Darüber hinaus ist in der Revisionsbegründung gesagt, das Revisionsgericht müsse das Urteil des LSG wegen dieses absoluten Revisionsgrundes aufheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverweisen. Den Schriftsätzen der Beklagten kann auch nicht einmal ansatzweise entnommen werden, das Aufhebungs- und Zurückverweisungsbegehren sei nur hilfsweise gestellt. Sie hat also den angekündigten Revisionsantrag fallengelassen und trägt lediglich noch darauf an, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zurückzuverweisen.
Dieser Antrag ist nicht mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Zwar erscheint zweifelhaft, ob ein Revisionskläger für einen solchen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat, wenn keine Gründe einem Antrag entgegenstehen, der auf eine den Rechtsstreit abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts abzielt. Denn in diesen Fällen kann er den Rechtsstreit auf andere und leichtere sowie prozeßwirtschaftlichere Art und Weise zu einem Ende führen. Ob diese Bedenken Platz greifen, falls Mängel des berufungsgerichtlichen Verfahrens zulässig gerügt werden, kann dahingestellt bleiben, weil sie jedenfalls dann nicht durchgreifen, wenn sog absolute Revisionsgründe (§ 202 SGG iVm § 551 ZPO) gerügt werden. Denn in diesen Fällen macht der Revisionskläger geltend, das Urteil des Berufungsgerichts sei wegen elementarer rechtsstaatlicher Mängel kein geeigneter Gegenstand einer revisionsgerichtlichen Überprüfung. So liegt der Fall hier. Die Beklagte erhebt allein die Verfahrensrüge des absoluten Revisionsgrundes des Fehlens von Entscheidungsgründen iS von § 551 Nr 7 ZPO. Daher hat der Senat über die Revision der Beklagten nur im Rahmen dieses zulässigerweise begrenzten Sachantrags zu befinden.
Diese Revision ist jedoch deswegen unzulässig, weil die nach § 169 Satz 1 SGG dem BSG vorgeschriebene Prüfung ergeben hat, daß die Beklagte sie entgegen § 164 Abs 2 Satz 3 Regelung 3 SGG nicht hinreichend begründet hat. Nach letztgenannter Vorschrift muß die Revisionsbegründung, soweit - wie hier - Verfahrensmängel gerügt werden, "die Tatsachen bezeichnen", die den Mangel ergeben. Die tatsächlichen Vorgänge, aus denen der Revisionskläger den Verstoß gegen das Berufungsgericht bindende Vorschriften des Prozeßrechts herleitet, müssen so genau bezeichnet sein, daß das BSG sie, die Richtigkeit der Behauptungen unterstellt, ohne weitere Ermittlungen daraufhin beurteilen kann, ob der gerügte Verfahrensmangel vorliegt. In diesem Sinne ist also auch für die von der Beklagten erhobene Rüge ein schlüssiger Tatsachenvortrag erforderlich.
Seit der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Beschluß vom 27. April 1993, SozR 3-1750 § 551 Nr 4) hat auch das BSG darauf erkannt, daß der absolute Revisionsgrund des Fehlens von Entscheidungsgründen vorliegt, wenn ein Urteil eines LSG nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung von den beteiligten Berufsrichtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist; dieser Mangel führt auf eine entsprechende Rüge hin - grundsätzlich - zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung (BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 5; BSG, aaO, Nr 7 zu einem im schriftlichen Verfahren ergangenen Urteil eines LSG). In den vorgenannten Entscheidungen ist auch geklärt worden, daß diese Rechtsprechung die vor dem 27. April 1993 ergangenen Urteile gleichfalls erfaßt. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Wegen der großen Bedeutung des Zeitpunktes der Urteilsübergabe, des Grundsatzes der Rechtsmittelklarheit und der Unwägbarkeiten anderer Beweismittel wird hierbei vorausgesetzt, daß die Geschäftsstelle des Gerichts den Tag der Urteilsübergabe amtlich beurkundet, sei es auf der Urteilsurschrift, in den Prozeßakten oder in anderen hierzu geführten, dem Akteneinsichtsrecht der Beteiligten unterliegenden Gerichtsunterlagen.
Eine den Anforderungen von § 164 Abs 2 Satz 3 Regelung 3 SGG genügende "Tatsachenbezeichnung" liegt nur vor, wenn in der Begründung überprüfbare Tatsachen geschildert werden, aus denen sich schlüssig ergibt, daß das vollständig abgesetzte und von den beteiligten Berufsrichtern besonders unterschriebene Urteil erst mehr als fünf Monate, nachdem es verkündet oder beschlossen worden ist, der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Hierzu ist die Darlegung erforderlich, daß versucht worden ist, den Inhalt des amtlichen Vermerks über den Zeitpunkt der Urteilsübergabe zu erfahren und welches Ergebnis dies gehabt hat.
Solche Tatsachen hat die Beklagte in der Revisionsbegründung nicht geschildert. Allein der aktenkundige Umstand, daß ihr das Urteil des LSG erst am 27. September 1993 zugestellt worden ist, reicht hierfür nicht aus. Denn die Frist von fünf Monaten zur Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle dient ausschließlich der Sicherung der Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe. Liegt deshalb die zögerliche Zustellung des Urteils nicht an der verspäteten Übergabe der Urschrift an die Geschäftsstelle, sondern an Umständen innerhalb der Gerichtsverwaltung, wird dadurch die Beurkundungsfunktion der Urteilsurschrift nicht beeinträchtigt. Daher kann aus dem Umstand der Zustellung erst nach Ablauf von fünf Monate nach dem Beschluß des Urteils nicht gefolgert werden, dessen Urschrift sei erst nach Ablauf von fünf Monaten der Geschäftsstelle übergeben worden.
Nach alledem war die mangels hinreichender Begründung unzulässige Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen