Leitsatz (amtlich)
1. Das Urteil darf auf diejenigen allgemeinkundigen Tatsachen, die allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen sie wissen, daß sie für die Entscheidung erheblich sein können, gestützt werden, ohne daß das Gericht ausdrücklich auf die mögliche Verwertung dieser Tatsachen hinweist (Anschluß an BGH 1959-10-08 VII ZR 87/58 = BGHZ 31, 43, 45).
2. Ob das für alle allgemeinkundigen Tatsachen gilt (so auch BSG 1972-11-16 11 RA 42/72 = SozR Nr 91 zu § 128 SGG), bleibt dahingestellt.
Orientierungssatz
Zur Frage der gerichtskundigen und allgemeinkundigen Tatsachen.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Hs. 1 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; ZPO § 291
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.02.1978; Aktenzeichen L 14 J 173/77) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 21.06.1977; Aktenzeichen S 7 J 240/75) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 1978 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Das Berufungsgericht hat sein Urteil auf die - seiner Meinung nach - allgemeinkundige Tatsache gestützt,
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daß Tätigkeiten, in denen der Kläger seine Kenntnisse und Fähigkeiten als Bäckergeselle verwerten könne, in den Backwarenabteilungen von Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden sowie in Filialbetrieben vorhanden seien. |
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Dazu hat es den Kläger nicht angehört. In diesem Vorgehen sieht der Kläger einen Verfahrensmangel, der die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG - rechtfertige, jedoch zu Unrecht.
Zwar schreibt die Rechtsordnung vor, daß vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat (Art 103 Abs 1 Grundgesetz - GG -), daß das Gericht vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren hat (§ 62 Halbsatz 1 SGG) und daß das Urteil nur auf Tatsachen gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Aber hier hat das Berufungsgericht dadurch, daß es den Kläger zu der allgemeinkundigen Tatsache nicht gehört hat, keinen Verfahrensfehler begangen.
Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises. Dieser in § 291 Zivilprozeßordnung -ZPO- (ähnlich in § 244 Abs 3 Satz 2 Strafprozeßordnung -StPO-) enthaltene Grundsatz gibt einen allgemeinen Rechtsgedanken wieder (Meyer-Ladewig, SGG, Anm 8 zu § 103) und gilt nach § 202 SGG auch für das sozialgerichtliche Verfahren (BSGE 9, 209, 215; Meyer-Ladewig, Anm 7 zu § 118, vgl für das verwaltungsgerichtliche Verfahren Eyermann/Fröhler, VwGO, 7. Aufl, Rd-Nrn 2 bis 4 zu § 96).
Die Frage, inwieweit § 128 Abs 2 SGG - der ebenfalls einem allgemeinen Rechtsgedanken entspricht (BVerfGE 10, 177, 182; vgl auch § 108 Abs 2 VwGO, § 96 Abs 2 FGO und § 128 Abs 2 des Entwurfs einer Verwaltungsprozeßordnung) - für offenkundige Tatsachen gilt, wird für die verschiedenen Arten dieser Tatsachen unterschiedlich beantwortet.
Eine Gruppe der offenkundigen Tatsachen sind die gerichtskundigen, also diejenigen Tatsachen, die der Richter kraft seines Amtes kennt (BSG SozR Nr 91 zu § 128 SGG - NJW 73, 392). Will das Gericht solche Tatsachen verwerten, muß es sie in den Prozeß einführen (BVerfGE 10, 177, 183) und zum Gegenstand der Verhandlung machen (BSGE 22, 19, 20; SozR Nr 91 zu § 128 SGG, 1500 § 128 Nr 4 und § 62 Nr 3, Urteil vom 25. Mai 1976 - 5/12 RJ 162/75 -, SGb 76, 330).
Die eine weitere Gruppe bildenden allgemeinkundigen Tatsachen sind solche, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch Benützung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können (BVerfGE 10, 177, 183) oder (nach Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl, § 117 I 3 a) solche, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann.
Ob das Gericht allgemeinkundige Tatsachen in den Prozeß eingeführt haben muß, um sie verwerten zu können, ist von der Rechtsprechung bisher noch nicht eindeutig beantwortet worden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluß vom 3. November 1959 unter der Feststellung, daß die Auffassungen in Rechtsprechung und Schrifttum auseinander gehen, insoweit von einer Entscheidung absehen können (BVerfGE 10, 177, 183), auf diesen Beschluß aber wenig später ohne eigene Begründung dahingehend Bezug genommen, daß ein Gericht eine als offenkundig behandelte, in Wahrheit aber nicht offenkundige Tatsache der Entscheidung nur zugrunde legen darf, wenn es den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (BVerfGE 12, 110, 113), und schließlich dasselbe für die als allgemeinkundig angesehene, aber unzutreffende "Tatsache" angenommen (Beschluß vom 19. April 1978 - 1 BvR 596/77 -). Der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat ausgesprochen, daß Tatsachen, deren Allgemeinkundigkeit unzweifelhaft gegeben ist, nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden sein müssen (SozR Nr 91 zu § 128 SGG). Während Meyer-Ladewig (SGG, Anm 7 zu § 118) meint, das Gericht müsse den Beteiligten die Möglichkeit geben, zu offenkundigen Tatsachen Stellung zu nehmen, bejahen Peters/Sautter/Wolff (Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm 4 zu § 128 SGG, S. II/159), Eyermann/Fröhler (7. Aufl, Anm 3 und 4 zu § 96 VwGO) und Baumbach/Lauterbach (ZPO, 36. Aufl, Anm 1 zu § 291) eine Anhörungspflicht nur für gerichts-, nicht aber für allgemeinkundige Tatsachen. Der beschließende Senat kann jedoch dahingestellt lassen, ob das Gericht bei allgemeinkundigen Tatsachen immer von der Pflicht des § 128 Abs 2 SGG befreit ist.
Denn eine solche Freistellung gilt jedenfalls für eine Untergruppe der allgemeinkundigen Tatsachen, nämlich für diejenigen, die allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen sie auch wissen, daß sie für die Entscheidung erheblich sein können; hier ist von dem Gericht nicht zu verlangen, daß es auf die beabsichtigte Verwertung auch solcher Umstände ausdrücklich hinweist, denn es kann davon ausgehen, daß die Parteien in einem derartigen Falle auch ohne einen Hinweis hinreichende Gelegenheit hatten, sich hierzu zu äußern. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden (BGHZ 31, 43, 45), Wieczorek (Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl, A III c 5 zu § 291 ZPO) und Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, S. 244 i, Stand: Juni 1965) haben sich dieser Auffassung angeschlossen. Auch der beschließende Senat teilt diese Überzeugung. Sinn der Vorschriften über das rechtliche Gehör ist es, den Beteiligten eine sinnvolle und zweckmäßige Prozeßführung zu ermöglichen und ihnen Gelegenheit zu geben, der jeweiligen gerichtlichen Situation entsprechend möglichst sachgemäß tatsächliche und rechtliche Äußerungen abzugeben, schließlich insbesondere, sie vor Überraschungsentscheidungen zu schützen. Wenn das Gericht von ihm als Tatsachen angenommene Umstände feststellt, die den Beteiligten entweder vollständig oder doch in ihrer Bedeutung für den Prozeß unbekannt sind, muß es die Beteiligten darauf hinweisen, damit diese einerseits die Feststellung durch Beweisanträge oä erschüttern und andererseits ihre Rechts ausführungen dem durch die Feststellung etwa geänderten Sachverhalt anpassen können. Ist aber die allgemeinkundige Tatsache, die das Gericht verwerten will, den Beteiligten als eine entscheidungserhebliche bekannt und durch Beweisanträge - Gegenbeweise - sowieso nicht zu erschüttern, dann sind die Beteiligten nicht schutzbedürftig und wäre eine gerichtliche Belehrungs- und Anhörungspflicht eine überflüssige Förmlichkeit.
Für den Strafprozeß vertritt Gollwitzer (in Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 23. Aufl, RdNr 34 zu § 261 StPO) eine ähnliche Auffassung: Der Grundsatz, daß offenkundige Tatsachen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden müßten, sei für diejenigen offenkundigen Tatsachen einzuschränken, die so unerschütterlich feststünden und deren Bedeutung für die Untersuchung allen Beteiligten so offensichtlich sei, daß es keiner eingehenden ausdrücklichen Erörterung bedürfe.
Der Senat, der eine Verletzung des Begriffs der Allgemeinkundigkeit durch das Berufungsgericht nachzuprüfen berechtigt ist, (Rosenberg/Schwab, aaO) hat keinen Zweifel daran, daß die vom Berufungsgericht festgestellte Tatsache sowohl eine "wahre" als auch eine allgemeinkundige Tatsache ist. Auch der Kläger bestreitet das nicht eigentlich. Was er vorbringt, betrifft Umstände, die das Berufungsgericht gerade nicht festgestellt hat. So hat das Berufungsgericht insbesondere nicht gesagt, es gebe die genannten Tätigkeiten "für Bäckergesellen". Es hat lediglich festgestellt, daß in diesen Tätigkeiten der Kläger seine Kenntnisse und Fähigkeiten als Bäckergeselle verwerten könnte (wenn er sie ausübte). Das heißt: Die genannten Tätigkeiten sind solcher Art, daß für ihre Ausübung Bäckerkenntnisse verwertbar sind, nicht aber, daß sie ausschließlich oder vorzugsweise oder auch nur überhaupt von Bäckern ausgeübt werden könnten oder ausgeübt würden. Jeder im Leben stehende Mensch weiß aber, daß ein beachtlicher Teil der Kaufhäuser und Selbstbedienungsläden auch Backwarenabteilungen führt; er kann aus seiner Lebenserfahrung ableiten, daß für die dort tätigen Verkäufer und sonstigen Arbeitnehmer die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Bäckergesellen wertvoll sind. Die vom Kläger ins Auge gefaßten Beweisanträge gehen ins Leere: Was das Berufungsgericht festgestellt hat, ist eine "wahre" Tatsache, die durch keine Beweiserhebung erschüttert werden könnte. Was hingegen bewiesen werden könnte, daß nämlich ein Bäckergeselle erfahrungsgemäß in der Produktion, nicht aber im Verkauf beschäftigt werde, und daß es die bezeichneten Tätigkeiten nicht "für Bäckergesellen" gebe, ist unerheblich, weil die vom Berufungsgericht festgestellte allgemeinkundige Tatsache diese Behauptungen des Klägers nicht betrifft.
Die vom Berufungsgericht festgestellte Tatsache ist so eindeutig allgemeinkundig, daß sie auch dem Kläger mit Sicherheit gegenwärtig war. Dieser wußte auch, daß sie für die Entscheidung erheblich sein konnte; denn der ganze Prozeß war um die Frage geführt worden, welche Tätigkeiten für den in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkten Kläger noch in Frage kommen.
Da der geltend gemachte Zulassungsgrund nicht vorliegt, der Kläger auch keine weiteren Gründe geltend macht, war die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen