Orientierungssatz
1. Ist Art 9 Abs 2 der Verordnung Nr 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, dahin auszulegen, daß er auch Fälle umfaßt, in denen eine Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge davon abhängig gemacht wird, daß im Antragszeitpunkt eine nach nationalem Recht rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt wird?
2. Bei Verneinung dieser Frage: Verstößt eine nationale Regelung, wie in der ersten Frage beschrieben, gegen Art 48 ff EWGVtr oder sonstige Vorschriften des Gemeinschaftsrechts?
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 9 Abs. 2; EWGVtr Art. 48; ArVNG Art. 2 § 28 Abs. 1 S. 2
Tatbestand
Die Klägerin will freiwillige Beiträge nach Art 2 § 28 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -ArVNG- nachentrichten (Nachentrichtung nach früherer Beitragserstattung wegen Heirat). Umstritten ist, ob für die Anwendung der genannten Vorschrift einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland eine Beschäftigung in Italien gleichsteht und ob auch das Erfordernis von 24 Pflichtbeitragsmonaten (Art 2 § 28 Abs 1 Satz 2 ArVNG) durch eine entsprechende italienische Beitragszeit erfüllt werden kann.
Die Klägerin ist deutsche und italienische Staatsangehörige. Sie war im Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung (RVO) beschäftigt und beantragte nach ihrer Heirat mit einem italienischen Staatsangehörigen im Jahre 1963 die Erstattung der von ihr entrichteten Beiträge gemäß § 1304 RVO damaliger Fassung. Die Beklagte entsprach dem Antrag (Bescheid vom 3. April 1964). Nach der Erstattung legte die Klägerin noch eine Pflichtbeitragszeit von 11 Monaten im Geltungsbereich der RVO zurück. Seit Oktober 1964 war und ist sie in Italien versicherungspflichtig beschäftigt.
Am 23. September 1981 beantragte die Klägerin, sie zur Beitragsnachentrichtung gemäß Art 2 § 28 ArVNG zuzulassen. Die Beklagte lehnte dies ab, weil im Antragszeitpunkt weder Versicherungspflicht nach deutschem Recht bestanden habe noch nach der Beitragserstattung für 24 Monate Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet worden seien (Bescheid vom 11. Januar 1982).
Der von der Klägerin eingelegte Widerspruch wurde an das Sozialgericht Düsseldorf (SG) als Klage weitergeleitet. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. Mai 1983).
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Januar 1982 verurteilt, die Klägerin zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gemäß Art 2 § 28 ArVNG zuzulassen (Urteil vom 2. September 1985). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß gemäß Art 9 Abs 2 der EWG-Verordnung (EWG-VO) Nr 1408/71 für die freiwillige Versicherung, zu der auch die freiwillige Nachentrichtung von Beiträgen nach einer früheren Beitragserstattung wegen Heirat (Heiratserstattung) zähle, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Beschäftigungszeiten innerstaatlichen gleichzustellen seien. Zwar sei in Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 von Versicherungszeiten die Rede. Dies sei aber ohne Bedeutung, weil eine versicherungspflichtige Beschäftigungszeit immer auch eine Versicherungszeit sei. Diese Auslegung entspreche auch dem Sinn der EWG-VO, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EWG sichern solle. Auch der Umstand, daß die EWG-VO im Anhang VI C Nrn 7 und 8 zwar Bestimmungen zu § 1233 RVO und Art 2 § 51a ArVNG enthalte, nicht aber zu Art 2 § 28 ArVNG, stehe dem Nachentrichtungsbegehren der Klägerin nicht entgegen. Den genannten Bestimmungen der EWG-VO sei nämlich der auch auf Art 2 § 28 ArVNG übertragbare Gedanke zu entnehmen, daß die deutsche freiwillige Versicherung allen offenstehen solle, die zu irgendeiner Zeit der deutschen Rentenversicherung angehört und zu ihr Beiträge entrichtet hätten, was für die Klägerin zutreffe.
Mit der Revision macht die beklagte Landesversicherungsanstalt geltend, die besonderen Bestimmungen in Anhang VI C Nrn 7 und 8 EWG-VO Nr 1408/71 regelten allein die Berechtigung zur freiwilligen Versicherung nach § 1233 RVO und zu einer daraus abzuleitenden Nachentrichtung nach Art 2 § 51a ArVNG. Ihre Übertragung auf Art 2 § 28 ArVNG sei nicht möglich, da diese Vorschrift von völlig anderen Voraussetzungen ausgehe als Art 2 § 51a ArVNG. Im übrigen beziehe sich die Gleichstellung von Versicherungszeiten nach Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 nur auf in der Vergangenheit zurückgelegte Zeiten, nicht aber auf die weitere in Art 2 § 28 Abs 1 Satz 1 ArVNG geforderte Voraussetzung, daß die Versicherte im Zeitpunkt der Antragstellung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben müsse.
Die Beklagte hat ferner darauf hingewiesen, daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- der Gesetzgeber einzelnen Personengruppen aus bestimmten, im nationalen Bereich wurzelnden Gründen besondere Vergünstigungen gewähren könne, die vom EWG-Recht nicht erfaßt würden. So habe das BSG für eine Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 50 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes die Entrichtung von Pflichtbeiträgen allein zur französischen Rentenversicherung nicht als ausreichend angesehen (SozR 5750 Art 2 § 52 Nr 7). Ebenso lägen die Verhältnisse bei Art 2 § 28 ArVNG. Der Gesetzgeber habe Frauen, die sich wegen ihrer Heirat Beiträge zur Rentenversicherung hätten erstatten lassen, das Wiederaufleben der Versicherung durch eine Beitragsnachentrichtung nur ermöglichen wollen, wenn außer einer neuen Mindestversicherungszeit von 24 Monaten eine "aktuelle" Versicherungspflicht zur Rentenversicherung bestehe, aus der der Schluß gezogen werden könne, daß die Versicherte wieder zum Kreis der versicherungspflichtig Beschäftigten gehöre. Dies könne aber nur durch eine Zugehörigkeit zur deutschen Rentenversicherung belegt werden.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
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das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin |
gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. |
Die Klägerin beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil. Wenn in den Nrn 7 und 8 des Anhangs VI C zur EWG-VO Nr 1408/71 nur auf bestimmte Vorschriften des deutschen Rechts verwiesen werde, so bedeute das nicht, daß das EWG-Recht nicht auch auf andere Nachentrichtungsvorschriften anzuwenden sei oder diese Vorschriften nicht daraufhin überprüft werden dürften, ob sie mit dem EWG-Recht vereinbar seien.
Entscheidungsgründe
Der vorliegende Rechtsstreit betrifft zwei Voraussetzungen des Art 2 § 28 ArVNG:
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a) die Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung |
oder Tätigkeit im Antragszeitpunkt (Abs 1 |
Satz 1) und |
b) die Entrichtung von Beiträgen für eine |
rentenversicherungspflichtige |
Beschäftigung oder Tätigkeit von mindestens |
24 Kalendermonaten nach einer früheren Beitragserstattung |
wegen Heirat (Abs 1 Satz 2). |
Beide Voraussetzungen beziehen sich, soweit sie eine "rentenversicherungspflichtige" Beschäftigung oder Tätigkeit fordern, allein auf eine nach innerstaatlichem Recht versicherungspflichtige, dh auf eine im Inland ausgeübte Beschäftigung oder Tätigkeit (vgl BSGE 17, 110; BSG SozR 5750 Art 2 § 52 Nr 7 Seite 14). Ohne Anwendung des EWG-Rechts besteht hiernach ein Nachentrichtungsrecht nach Art 2 § 28 Abs 1 ArVNG nur dann, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung eine Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt wird, die Versicherungspflicht zur deutschen Rentenversicherung begründet, und wenn außerdem nach der Heiratserstattung erneut für 24 Monate Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet worden sind.
Diese nach innerstaatlichem Recht erforderlichen Voraussetzungen für die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 28 Abs 1 ArVNG erfüllt die Klägerin nicht. Weder war sie im Antragszeitpunkt in Deutschland rentenversicherungspflichtig beschäftigt noch hatte sie für 24 Monate einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es mithin darauf an, ob und wie sich das EWG-Recht, insbesondere Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71, auf das Begehren der Klägerin auswirkt. Dabei hält der Senat vor allem für klärungsbedürftig, ob sich die Gleichstellung von "Versicherungszeiten" durch Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 auch auf rentenversicherungspflichtige Beschäftigungen bezieht, wenn das nationale Recht die gegenwärtige Ausübung einer solchen Beschäftigung als Voraussetzung für eine Beitragsnachentrichtung verlangt, oder ob (im Falle der Verneinung dieser Frage) eine daraus folgende Beschränkung des Nachentrichtungsrechts mit den Art 48ff des EWGVtr oder sonstigem EWG-Recht vereinbar ist.
Der Wortlaut des Art 9 Abs 2 EWG-VO 1408/71 läßt allerdings zunächst daran denken, daß danach nur Versicherungszeiten gleichgestellt sind, die in der Vergangenheit zurückgelegt wurden. Dies ist nach Angaben der Beklagten auch die Auffassung der deutschen Rentenversicherungsträger, die sich dabei darauf berufen können, daß nach der Terminologie des deutschen Rentenrechts eine "Zurücklegung von Versicherungszeiten" einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Tatbestand meint. In Art 2 § 28 Abs 1 Satz 1 ArVNG geht es aber nicht um einen solchen Tatbestand, sondern um die gegenwärtige Ausübung einer pflichtversicherten Beschäftigung.
Andererseits könnte der Zweck des Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 auch eine weite, über den Bereich von bereits zurückgelegten "Versicherungszeiten" hinausgehende Auslegung rechtfertigen, zumal die Begriffe des EWG-Rechts eigenständig (vgl zB EuGHE 1964, 379, 396) und unter Berücksichtigung der Ziele des EWG-Rechts auszulegen sind (vgl zB EuGHE 1964, 611, 629; 1966, 637, 645; 1978, 1915, 1923). Insofern könnte besonders der Gesichtspunkt von Bedeutung sein, daß das EWG-Recht die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herstellen will; mit ihr wäre kaum vereinbar, wenn ein Arbeitnehmer gezwungen wäre, zur Erhaltung oder Begründung seiner Ansprüche zumindest vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung aufzunehmen (vgl dazu EuGHE 1975, 679, 689 f; s auch EuGHE 1982, 2213, 2224; 1973, 1213, 1221 f).
Sollte jedoch der Europäische Gerichtshof der Auffassung sein, daß die durch Art 2 § 28 ArVNG bewirkte Benachteiligung einer nach der Heirat in einen anderen EWG-Staat übergesiedelten Arbeitnehmerin nicht im Wege der Auslegung von Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 zu beseitigen ist, erscheint dem Senat eine Prüfung angezeigt, ob sich aus sonstigen Vorschriften des EWGVtr, insbesondere aus dessen Art 48 ff, ableiten läßt, daß eine früher in Deutschland beschäftigt gewesene und nach ihrer Heirat in einen anderen EWG-Staat (Italien) verzogene Frau nicht deshalb vom Nachentrichtungsrecht ausgeschlossen werden darf, weil sie nunmehr in einem nach italienischem und nicht nach deutschem Recht versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis steht (s EuGHE 1974, 1337, 1347; 1969, 363, 368 f).
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof schon in verschiedener Hinsicht dem nationalen Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, zusätzliche Erfordernisse aufzustellen, um besonderen Bedürfnissen des nationalen Rechts zu genügen (vgl zB EuGHE 1967, 443, 451 ff; 1975, 891, 899; 1977, 2311, 2319; 1978, 1489, 1498; s auch BSGE 54, 199, 201). Der erkennende Senat hat jedoch Zweifel, ob dafür in Fällen der vorliegenden Art Gründe von hinreichendem Gewicht vorliegen. In diesem Zusammenhang verweist der Senat, soweit Bedürfnisse des nationalen Rechts für die Auslegung von Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 und der Art 48 ff EWGVtr bedeutsam werden sollten, auch auf den zu Art 2 § 28 ArVNG ergangenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Dezember 1973 - 1 BvL 19/72 - (BVerfGE 36, 237, mit abweichender Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck). Dabei erscheint dem erkennenden Senat allerdings zweifelhaft, ob das - vom BVerfG betonte - Bedürfnis nach Begrenzung einer negativen Risikoauslese es rechtfertigt, Frauen, die in anderen Mitgliedstaaten der EG beschäftigt sind, von einer Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 28 ArVNG auszuschließen. Der Gesetzgeber hat mit der Forderung, daß die Antragstellerin im Antragszeitpunkt rentenversicherungspflichtig beschäftigt sein muß, wohl nur erreichen wollen, daß die Nachentrichtung der Beiträge nicht bis nach der Beendigung des Erwerbslebens hinausgeschoben wird. Dem ist die Klägerin gerecht geworden, da sie sich noch während einer versicherungspflichtigen Beschäftigung für die Beitragsnachentrichtung entschieden hat. Von Gewicht könnte indessen das - vom BVerfG ebenfalls gewürdigte - Bestreben des Gesetzgebers sein, nur diejenigen Frauen zur Nachentrichtung zuzulassen, die mit laufenden Beiträgen zu den Lasten der Versichertengemeinschaft beitragen. Einen solchen Beitrag leisten die im Ausland versicherten Arbeitnehmer nicht. Insofern hält es der Senat jedoch für fraglich, ob die mit den Art 48 ff EWGVtr bezweckte Förderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer eine Privilegierung solcher Personen zuläßt, die derzeit versicherungspflichtig beschäftigt sind und Beiträge zu einer nationalen Rentenversicherung entrichten. Wenn eine Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung (wie in Art 2 § 28 ArVNG) von der Zurücklegung von Vorversicherungszeiten abhängig gemacht wird, bei diesen Vorversicherungszeiten aber ausländische Zeiten berücksichtigt werden müssen, dann erscheint es naheliegend, das gleiche auch für das Erfordernis einer "aktuellen" Versicherungspflicht anzunehmen.
Bedenkenswert erscheint dem Senat ferner, daß es sich bei Art 2 § 28 ArVNG um eine Regelung handelt, die nur Frauen betrifft. Bei derartigen geschlechtsspezifischen Regelungen sollte besonders Bedacht darauf genommen werden, daß Frauen nicht stärker als Männer in ihrer Freizügigkeit beschränkt werden.
Hinsichtlich der weiteren unter den Beteiligten streitigen Frage, ob die in Art 2 § 28 Abs 1 Satz 2 ArVNG geforderten 24 Pflichtbeitragsmonate auch aufgrund einer Beschäftigung in Italien erfüllt werden können, sieht der Senat keinen Klärungsbedarf, der eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erforderlich machen oder rechtfertigen könnte. Insofern erscheint ihm die Anwendung des Art 9 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 auch nicht deswegen zweifelhaft, weil für einige Bereiche der freiwilligen Versicherung in Anhang VI Nrn 7 und 8 der genannten EWG-VO besondere Regelungen getroffen worden sind.
Fundstellen