Orientierungssatz

Ist EWGV 1408/71 Anh V C Nr 9 S 1 idF der EWGV 1392/74 dahin auszulegen, daß ein deutscher Staatsbürger, der Beiträge zur Rentenversicherung eines anderen Mitgliedstaats entrichtet hat und nunmehr für Zeiten davor, die noch nicht mit Beiträgen belegt sind, deutsche Beiträge nachentrichten will (AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 idF des RRG vom 1972-10-16) zunächst für die mit Beiträgen eines anderen Mitgliedstaats belegten Zeiten noch deutsche Beiträge entrichten muß oder ist dies nach EWG-Recht nicht erforderlich?

 

Normenkette

EWGV 1408/71 Anh 5c Nr. 9 S. 1 Fassung: 1974-06-04; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob für die Nachentrichtung von Beiträgen für bestimmte Zeiten gemäß Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beitragszeiten der Rentenversicherung eines anderen EG-Mitgliedstaats (hier: Belgien) im Sinne dieser Vorschrift als Monate gelten, die bereits mit Beiträgen belegt sind.

Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Belgien. Er hat Beiträge zur deutschen und auch zur belgischen Rentenversicherung, der er von Juli 1969 bis August 1973 als Pflichtversicherter angehörte, entrichtet.

Mit Antrag vom 14. August 1974 bzw 18. September 1974 begehrte der Kläger die Lücken in seinem deutschen Versicherungsverlauf - 4 Monate im Jahre 1956, 41 Monate in den Jahren 1964 bis 1967 - durch Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG zu schließen. Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) teilte dem Kläger im Schreiben vom 19. Dezember 1974 mit, daß er als deutscher Staatsangehöriger grundsätzlich zur außerordentlichen Nachentrichtung berechtigt sei, lehnte es aber mit Bescheid vom 22. Oktober 1975 ab, ihm die Nachentrichtung allein für die genannten zeitlichen Lücken ohne gleichzeitige Belegung der in Belgien zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten zu gestatten. Sie berief sich darauf, daß mitgliedsstaatliche Beiträge im Rahmen des Art 2 § 49a Abs 2 Satz 1 AnVNG deutschen Beiträgen nicht gleichstünden. Im Anhang V C Nr 9 Satz 1 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 des Rates der EWG sei ausdrücklich bestimmt, daß das in der Bundesrepublik Deutschland eingeführte Recht der außerordentlichen Nachentrichtung nicht durch Gemeinschaftsrecht berührt werde. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 1976).

Durch Urteil vom 10. November 1977 hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die beantragte Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zu gestatten. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 17. Oktober 1978).

Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger könne in Übereinstimmung sowohl mit innerstaatlichen als auch mit gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsätzen die belgischen Pflichtbeitragszeiten als mit Beiträgen belegte Zeiten in Anspruch nehmen. Dies ergebe sich zwar nicht unmittelbar aus Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG; da Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nachentrichtet werden dürften, seien die in derselben Vorschrift genannten Zeiten, die "bereits mit Beiträgen belegt sind", grundsätzlich - korrespondierend - ebenso als innerstaatliche Beitragszeiten zu verstehen. Sollte das aber uneingeschränkt auch für deutsche Staatsangehörige gelten, die als Wanderarbeitnehmer in einem anderen Staat der Europäischen Gemeinschaft (EG) erwerbstätig (gewesen) seien und mitgliedsstaatliche Beiträge entrichtet hätten, so ergäbe sich eine vom Gesetz nicht gewollte Konsequenz. Solche Versicherten würden, um von dem zur Verfügung gestellten Belegungsgebot zu einer (zeitlich gesehen) lückenlosen Versicherung Gebrauch zu machen, zu einer Umgehung des einen Gesetzeszweckes, nämlich des grundsätzlichen Ausschlusses der (rückwirkenden) doppelten Beitragsbelegung, gezwungen werden. Eine echte Doppelbelegung läge vor, weil der Kläger als Wanderarbeitnehmer von einem europäischen "Verbundsystem" der sozialen Sicherheit erfaßt sei, welches insbesondere die Zusammenrechnung aller nach den jeweiligen Rechtsvorschriften der einzelnen Staaten erworbenen Beitragszeiten für den Anspruchserwerb sichere (Art 51 EWG-Vertrag, Art 45 EWG-Verordnung Nr 1408/71).

Aus der Nr 9 des Anhangs V C zur EWG-Verordnung Nr 1408/71 könne nicht gefolgert werden, der Umfang des Belegungsgebots sei in dem von der Beklagten vertretenen Sinne geregelt oder bestätigt worden. Vielmehr stelle diese Bestimmung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten bei Auslandsaufenthalt ihrerseits den deutschen Staatsangehörigen gleich, sofern sie bereits in der deutschen Rentenversicherung versichert gewesen wären. Im Zuge dieser Gleichstellung werde ausdrücklich bestimmt, daß Beiträge nur für Zeiten entrichtet werden dürften, "für die nicht bereits Beiträge nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates entrichtet worden sind". Darin liege zum einen eine für die begünstigte Personengruppe klarstellende Umschreibung des Ausschlusses der Doppelbelegung und zum anderen eine gerade auf die durch Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG zugelassene freiwillige Nachentrichtung gezielte Gleichstellung von mitgliedsstaatlichen mit innerstaatlichen Beiträgen. Was der eine Versicherte (etwa ein belgischer Berechtigter in Belgien) nicht dürfe, solle bei gleicher versicherungsrechtlicher Ausgangslage ein anderer Versicherter (etwa ein Deutscher mit Wohnsitz in Belgien) nicht müssen. Die Berufung auf den Grundsatz der Gleichbehandlung habe im EG-Bereich Vorrang gegenüber nationalstaatlichen Besonderheiten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision hält die Beklagte an ihrer Auffassung fest, das deutsche Recht lasse die freiwillige Versicherung bzw außerordentliche Nachentrichtung für Zeiten einer ausländischen gesetzlichen Rentenversicherung stillschweigend zu. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der EWG-Verordnung Nr 1408/71. Infolgedessen dürften ua von Deutschen, die - wie der Kläger - Arbeitnehmer im Sinne dieser Verordnung seien und sich gewöhnlich in einem ausländischen EG-Mitgliedstaat aufhielten, im Rahmen des Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG Zeiten, die bereits mit Pflichtbeiträgen eines ausländischen Mitgliedstaats belegt seien, weder unter dem Gesichtspunkt des Doppelbelegungsverbots von der außerordentlichen Nachentrichtung ausgeschlossen noch ausgespart werden, wenn es um das Belegungsgebot gehe. Mit dem Belegungsgebot solle verhindert werden, daß der Berechtigte einseitig nur für die am weitesten in der Vergangenheit liegenden Zeiten Beiträge entrichtet, die bei der Berechnung der Rente besonders hoch bewertet würden. Wollte man die bereits mit fremden Beiträgen belegten Zeiten des Klägers von dem Belegungsgebot ausnehmen, so würden im Hinblick darauf, daß fremde Beiträge sich nicht auf die persönliche Bemessungsgrundlage auswirkten und bei der gemäß Art 46 Abs 1 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 vorzunehmenden innerstaatlichen Berechnung nicht die deutschen freiwilligen Beiträge verdrängten, unerwünschte Rechtsfolgen hinsichtlich Belegungszeitraum und Beitragshöhe ermöglicht.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 17. Oktober 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. November 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger beruft sich auf die seiner Ansicht nach zutreffenden Ausführungen im Urteil des Berufungsgerichts.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden erklärt.

II.

Das Verfahren war auszusetzen, da der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nach Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. März 1957 (BGBl II 766) zur Vorabentscheidung über die Auslegung von Rechtsvorschriften der EWG anzurufen ist. Bei der Entscheidung über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift Nr 9 des Anhangs V C der EWG-VO Nr 1408/71 idF der EWG-VO 1392/74 vorgreiflich. Diese Vorschrift ist nach Auffassung des Senats in ihrem Wortsinn nicht eindeutig und deshalb auslegungsbedürftig.

Nach § 1233 RVO und § 10 AVG, beide idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (RRG), können sich nur Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Geltungsbereich der RVO (Inländer) und im Ausland wohnende deutsche Staatsbürger freiwillig in der deutschen Rentenversicherung versichern. Durch Anhang V C Nr 8 der EWG-VO Nr 1408/71 idF der EWG-VO Nr 1392/74 ist der Kreis der Versicherungsberechtigten auf die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten (einschließlich der in ihnen wohnenden Staatenlosen und Flüchtlinge) erweitert worden, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen und entweder in einem Mitgliedstaat der EWG oder einem Drittstaat leben (Nr 8 aaO Buchst b und c).

Nach Art 2 § 51a Abs 2 ArVNG und Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG, beide idF des RRG, können nur die nach § 1233 RVO bzw § 10 AVG versicherungsberechtigten Inländer und deutschen Staatsbürger freiwillige Beiträge nachentrichten, und zwar für Zeiten zwischen 1956 und 1973, "die noch nicht mit Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung belegt sind" (Doppelbelegungsverbot), wobei Beiträge für einen früheren Monat erst nachentrichtet werden dürfen, "wenn alle späteren Monate bereits mit Beiträgen belegt sind" (Belegungsgebot). Diese Regelung, nach der nur die Entrichtung von Beiträgen zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung (deutsche Beiträge) eine nochmalige Beitragsentrichtung für dieselbe Zeit ausschließt und nur mit deutschen Beiträgen das Belegungsgebot erfüllt werden kann, ist für die Angehörigen der übrigen EWG-Mitgliedstaaten, soweit sie unter die Nr 8 Buchst b und c des Anhangs V C der EWG-VO 1408/71 fallen, dahin geändert worden, daß auch die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung eines anderen EWG-Staates (EWG-Beiträge) eine nochmalige Belegung derselben Zeit mit deutschen Beiträgen ausschließt (aaO Anhang V C Nr 9 Satz 2). Insoweit, dh für die genannten Personengruppen, sind also EWG-Beiträge deutschen Beiträgen gleichgestellt worden. Im übrigen sind dagegen Art 2 § 51a Abs 2 ArVNG und Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG "durch die Verordnung nicht berührt" worden, insbesondere nicht durch eine Gleichstellung von EWG-Beiträgen mit deutschen Beiträgen geändert worden (aaO Nr 9 Satz 1). Für Deutsche und im Inland lebende Ausländer schließt deshalb nur die Belegung einer Zeit mit deutschen Beiträgen eine Beitragsnachentrichtung für dieselbe Zeit aus; die Belegung einer Zeit mit EWG-Beiträgen läßt dagegen eine weitere Beitragsentrichtung für dieselbe Zeit zu (Doppelbelegung). Diese Regelung ist getroffen worden, um den genannten Personen "aus der Tatsache ihrer Wanderung keine Nachteile entstehen zu lassen", um sie also durch die Entrichtung von EWG-Beiträgen (die im übrigen bei der Berechnung der deutschen Rente nicht in die persönliche Bemessungsgrundlage eingehen, vgl Art 47 Abs 1 Buchst a der EWG-VO 1408/71) nicht schlechter zu stellen (vgl Antwort der Kommission der EG auf die schriftliche Anfrage Nr 179/79 des Europäischen Parlaments, Amtsblatt der EG Nr C 214/18 vom 27. August 1979).

Ob und inwieweit die genannten Personen von ihrer Befugnis zur Doppelbelegung Gebrauch machen, ist ihre Sache. Entscheiden sie sich für die Doppelbelegung, so werden sie dies allerdings nur in der Weise tun dürfen, daß sie einen deutschen "Doppelbeitrag" für einen früheren Monat erst dann entrichten dürfen, wenn alle späteren Monate bereits mit deutschen "Doppelbeiträgen" belegt sind (vgl Art 2 § 51a Abs 2 Satz 1, 2. Halbsatz ArVNG und die entsprechende Vorschrift des AnVNG). Machen sie dagegen von der Befugnis zur Doppelbelegung mit deutschen Beiträgen keinen Gebrauch, wollen sie vielmehr nur Lücken in ihrem Beitragsverlauf schließen, die bisher überhaupt nicht (weder mit deutschen noch mit EWG-Beiträgen) belegt sind, - so der vorliegende Fall -, dann fragt es sich, ob sie auch dann zunächst alle - auch die schon mit EWG-Beiträgen belegten - späteren Zeiten mit deutschen Beiträgen (doppelt) belegen müssen.

Bei wörtlicher Auslegung des Satzes 1 der Nr 9 aaO scheint eine solche Doppelbelegung erforderlich zu sein, denn für den betroffenen Personenkreis (Deutsche und im Inland wohnende Ausländer) wird die Anwendung der fraglichen Nachentrichtungsvorschriften "durch die Verordnung nicht berührt"; damit bleibt auch die Bestimmung unangetastet, daß das Belegungsgebot für spätere Zeiten nur mit deutschen Beiträgen erfüllt werden kann. In diesem Sinne hat sich auch die Kommission der EG in der angeführten Stellungnahme geäußert; darin heißt es nämlich, daß Versicherungszeiten anderer Mitgliedstaaten der EG "beim Rückwärtsgang nicht berücksichtigt" werden. Ob diese Auffassung indessen dem wirklichen Willen des Verordnungsgebers entspricht, erscheint fraglich. Sie wäre auch kaum vereinbar mit dem erkennbaren Zweck der Regelung, nur denjenigen Deutschen und im Inland lebenden Ausländern, die dies wünschen, nach ihrem Ermessen die Möglichkeit der Doppelbelegung ihrer EWG-Beitragszeiten mit deutschen freiwilligen Beiträgen zu geben. Verzichten sie auf diese Möglichkeit und damit auf die durch eine Doppelbelegung erreichbare zusätzliche soziale Sicherung, begnügen sie sich vielmehr mit einer Auffüllung ihrer Beitragslücken, dann erscheint es nicht gerechtfertigt, sie für solche Zeiten, die bereits mit EWG-Beiträgen belegt sind und später als die noch zu belegenden Beitragslücken liegen, zu einer Doppelbelegung mit deutschen Beiträgen zu nötigen. Da diese Frage jedoch nach dem Wortlaut der fraglichen Bestimmung (Nr 9 Satz 1 aaO) nicht zweifelsfrei zu beantworten ist, von ihrer Beantwortung aber die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits abhängt, hat der Senat die Frage dem EuGH nach Art 177 EWG-Vertrag vorgelegt.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656109

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