Leitsatz (amtlich)
Beiträge, die ein deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in einem anderen EG-Mitgliedstaat (hier: Belgien) zur dortigen Rentenversicherung entrichtet hat, stehen bei Anwendung des AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 (= ArVNG Art 2 § 51a Abs 2) Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung nicht gleich. Auch für diese - schon mit fremden Beiträgen belegten - Zeiten können deshalb deutsche Beiträge nachentrichtet werden; andererseits müssen diese Zeiten nochmals mit deutschen Beiträgen belegt werden, wenn für Zeiten davor Beiträge nachentrichtet werden sollen. Daß dies nur für deutsche Staatsangehörige gilt, widerspricht weder deutschem Verfassungsrecht noch - nach EuGH 1980-10-08 810/79 - dem EWG-Recht.
Leitsatz (redaktionell)
Nachentrichtung von Sicherungsbeiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG durch einen in Belgien wohnenden deutschen Staatsangehörigen, wenn Beiträge auch zur belgischen Rentenversicherung entrichtet wurden:
Nach Art 2 § 49a Abs 2 S 1 AnVNG können freiwillige Beiträge für Zeiten vom 1.1.1956 bis 31.12.1973, die noch nicht mit Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung belegt sind, in der Weise nachentrichtet werden, daß ein Beitrag für einen Monat erst dann entrichtet werden darf, wenn alle späteren Monate bereits mit Beiträgen belegt sind. Mit Beiträgen belegt im Sinne dieser Vorschrift sind die späteren Monate aber nur dann, wenn für sie Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet wurden.
Orientierungssatz
EWGV 1408/71 Art 45 Abs 1 bezieht sich nur auf Leistungsansprüche, nicht dagegen auf Art und Umfang der Nachentrichtung von Beiträgen.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1972-10-16; EWGV 1408/71 Anh 5 Abschn. C Nr. 9 Fassung: 1974-06-04; GG Art. 3 Abs. 1; EWGV 1408/71 Art. 45 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob aufgrund des Belegungsgebots im Rahmen der Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) auch Monate, die bereits mit Beiträgen eines anderen EG-Mitgliedstaates (Belgien) belegt sind, nochmals mit deutschen Beiträgen belegt werden müssen, wenn für Zeiten davor Beiträge nachentrichtet werden sollen.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Belgien. Er hat Beiträge zur deutschen und auch zur belgischen Angestelltenversicherung entrichtet. Er begehrt die Nachentrichtung für die Lücken in seinem Versicherungsverlauf, und zwar für vier Monate des Jahres 1956 und für die Zeit vom August 1964 bis Dezember 1967. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, daß es nur bei gleichzeitiger Belegung der in Belgien von Juli 1969 bis August 1973 zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten zulässig sei, weil mitgliedstaatliche Beiträge im Rahmen des Art 2 § 49a Abs 2 Satz 1 AnVNG deutschen Beiträgen nicht gleichstünden (Bescheid vom 22. Oktober 1975). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 1976). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die beantragte Nachentrichtung zu gestatten (Urteil vom 10. November 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17.Oktober 1978). Es ist der Auffassung, der Kläger könne in Übereinstimmung sowohl mit innerstaatlichen als auch gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsätzen die belgischen Pflichtbeitragszeiten als mit Beiträgen belegte Zeiten in Anspruch nehmen. Dies ergebe sich zwar nicht unmittelbar aus Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG, denn die in dieser Vorschrift genannten Zeiten, die "bereits mit Beiträgen belegt sind", seien grundsätzlich als innerstaatliche Beiträge zu verstehen. Würde dies aber uneingeschränkt auch für die als Wanderarbeiter in einem anderen EG-Staat erwerbstätig gewesenen deutschen Staatsangehörigen gelten, dann würden solche Versicherte zu einer Umgehung des gesetzlichen Doppelbelegungsverbots gezwungen werden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt die Beklagte vor, das deutsche Recht lasse die freiwillige Versicherung bzw außerordentliche Nachentrichtung für Zeiten einer ausländischen gesetzlichen Rentenversicherung stillschweigend zu. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der EWG-Verordnung Nr 1408/71. Infolgedessen dürften ua bei Deutschen, die - wie der Kläger - Arbeitnehmer im Sinne dieser Verordnung seien und sich gewöhnlich in einem ausländischen EG-Mitgliedstaat aufhielten, im Rahmen des Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG Zeiten, die bereits mit Pflichtbeiträgen eines ausländischen Mitgliedstaates belegt seien, weder unter dem Gesichtspunkt des Doppelbelegungsverbots von der außerordentlichen Nachentrichtung ausgeschlossen werden noch umgekehrt ausgespart bleiben, wenn es um das Belegungsgebot gehe. Mit dem Belegungsgebot solle verhindert werden, daß der Berechtigte einseitig nur für die am weitesten in der Vergangenheit liegenden Zeiten Beiträge entrichte, die bei der Berechnung der Rente besonders hoch bewertet würden. Wollte man die bereits mit fremden Beiträgen belegten Zeiten des Klägers von dem Belegungsgebot ausnehmen, so würden im Hinblick darauf, daß fremde Beiträge sich nicht auf die persönliche Bemessungsgrundlage auswirkten und bei der gemäß Art 46 Abs 1 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 vorzunehmenden innerstaatlichen Berechnung nicht die deutschen freiwilligen Beiträge verdrängten, unerwünschte Rechtsfolgen hinsichtlich Belegungszeitraum und Beitragshöhe ermöglicht.
Der Senat hat mit Beschluß vom 12. Oktober 1979 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art 177 Abs 3 des EWG-Vertrages die - für den Anspruch des Klägers vorgreifliche - Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, wie die Nr 9 Satz 1 des Anhangs V C der EWG-VO Nr 1408/71 idF der EWG-VO Nr 1392/74 auszulegen ist. Auf die Begründung des Beschlusses wird verwiesen.
Der EuGH hat mit Urteil vom 8. Oktober 1980 - Rs 810/79 - auf die ihm vom Senat vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Die Nrn 8 und 9 des Anhangs V C der Verordnung
Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung
der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer
und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft
zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung
Nr 1392/74 des Rates vom 4. Juni 1974 sind dahin
auszulegen, daß ein deutscher Staatsangehöriger, der
Beiträge zur Rentenversicherung eines anderen
Mitgliedstaats entrichtet hat und nunmehr für Zeiten
davor deutsche Beiträge nachentrichten will
(Artikel 2 § 49a Absatz 2
Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz in der
Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972),
zunächst für die mit Beiträgen eines anderen Mitgliedstaats
belegten Zeiten noch deutsche Beiträge entrichten muß.
Die Prüfung der in dieser Weise ausgelegten Nrn 8 und 9
hat nichts ergeben, was ihre Gültigkeit in Frage
stellen könnte.
Die Beklagte hat beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält auch nach der Vorabentscheidung des EuGH das Urteil des LSG für zutreffend. Nach der grundsätzlichen Norm des Art 45 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 seien die in den anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten wie inländische Zeiten zu berücksichtigen. Hiermit sei es unvereinbar, daß er die bereits mit belgischen Pflichtbeiträgen belegten Zeiten nochmals mit freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung belegen solle, um Beiträge nachentrichten zu können.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Urteil der Vorinstanzen sind aufzuheben. Die Klage gegen die Entscheidung der Beklagten ist als unbegründet abzuweisen.
Die Beklagte hat mit Recht die vom Kläger begehrte Nachentrichtung von Beiträgen für die unbelegten Zeiten der Jahre 1956 und 1964 bis 1967 davon abhängig gemacht, daß der Kläger erst für die zwar mit belgischen, nicht aber mit deutschen Beiträgen belegten späteren Zeiten Beiträge nachentrichtet. Dies ergibt sich aus Art 2 § 49 Abs 2 Satz 1 AnVNG. Hiernach können freiwillige Beiträge für Zeiten vom 1. Januar 1956 bis 31. Dezember 1973, die noch nicht mit Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung belegt sind, in der Weise nachentrichtet werden, daß ein Beitrag für einen Monat erst dann entrichtet werden darf, wenn alle späteren Monate bereits mit Beiträgen belegt sind. Mit Beiträgen belegt im Sinne dieser Vorschrift sind die späteren Monate aber nur dann, wenn für sie Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet sind.
Daran ändert nichts, daß nach Art 45 Abs 1 der EWG-VO Nr 1408/71 die Versicherungsträger der Mitgliedstaaten im Rahmen der Rechtsvorschriften über den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs verpflichtet sind, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zurückgelegten Versicherungszeiten so zu berücksichtigen, als seien sie nach inländischen Rechtsvorschriften zurückgelegt. Dieser Vorschrift ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht zu entnehmen, daß mit den vom Kläger zur belgischen Rentenversicherung entrichteten Beiträgen dem Belegungsgebot genügt sei. Die Vorschrift bezieht sich nur auf Leistungsansprüche, nicht dagegen auf Art und Umfang der Nachentrichtung von Beiträgen.
Für den Kläger als deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen EG-Mitgliedstaat richtet sich das Recht auf freiwillige Versicherung in der deutschen Rentenversicherung nach Nr 9 des Anhangs V C der EWG-VO Nr 1408/71 idF der EWG-VO Nr 1392/74. Gemäß Nr 9 wird Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG von der EWG-Vo nicht berührt. Nach der vom Senat herbeigeführten Auslegung durch den EuGH entspricht es dem Sinngehalt dieser gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift, daß der Kläger als deutscher Staatsangehöriger zunächst die mit Beiträgen eines anderen Mitgliedstaates belegten Zeiten mit deutschen Beiträgen belegen muß, wenn er für Zeiten davor deutsche Beiträge nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG nachentrichten will. Nach dem Urteil des EuGH steht die Gültigkeit der in dieser Weise ausgelegten EWG-Vorschrift außer Frage. Ein Verstoß gegen Grundsätze des deutschen Verfassungsrechts, insbesondere den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-), ist nicht ersichtlich. Mit der Pflicht, die bereits mit belgischen Beiträgen belegten Zeiten nochmals zu belegen, um für frühere unbelegte Zeiten deutsche Beiträge nachentrichten zu dürfen, ist bei deutschen Staatsbürgern gleichzeitig das Recht auf eine (für andere Personen verbotene) Doppelbelegung der belgischen Zeiten verbunden; deutsche und nichtdeutsche Staatsbürger werden mithin sowohl beim Belegungsgebot wie beim Doppelbelegungsverbot verschieden behandelt. Diese - an die Staatsangehörigkeit anknüpfende - Ungleichbehandlung erscheint nicht sachwidrig und verstößt deshalb nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.
Das Bundessozialgericht (BSG) ist als das gemäß § 177 Abs 3 des EWG-Vertrages zur Vorlage verpflichtete nationale Gericht an die Vorabentscheidung des EuGH gebunden. Diese Bindung ergibt sich, obwohl sie in den Verträgen und Verfahrensvorschriften der Europäischen Gemeinschaften nicht ausdrücklich genannt wird, nach der einhelligen Meinung im Schrifttum aus der Vorlagepflicht selbst und aus dem Sinn und Zweck der Vorabentscheidung (vgl Schumann, ZZP 1965, 77, 113; Haug SGb 1967, 49, 55; Jecht, JuS 1964, 20, 22; Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die Europäischen Gemeinschaften, 1964, S 171 bis 173).
Die vom EuGH vorgenommene Auslegung der Gemeinschaftsnormen war sonach der Entscheidung des Senats zugrunde zu legen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie umfaßt auch die den Beteiligten im Verfahren vor dem EuGH entstandenen Kosten.
Fundstellen