Orientierungssatz
1. Schließt die durch Art 71 Abs 1 Buchst a) ii) der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 begründete Zuständigkeit des Wohnsitzstaats für Leistungen bei Vollarbeitslosigkeit an einen Grenzgänger die Zuständigkeit des Mitgliedstaates, in dem der Grenzgänger bis zum Eintritt der Arbeitslosigkeit beschäftigt war, hierfür aus?
2. Bei Bejahung der Frage 1): Gilt die ausschließliche Zuständigkeit des Wohnsitzstaates nach Art 71 Abs 1 Buchst a) ii) der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 auch dann, wenn der Grenzgänger unter Aufrechterhaltung seines bisherigen Wohnsitzes nach Eintritt der Arbeitslosigkeit im früheren Beschäftigungsstaat Aufenthalt nimmt, sich dort polizeilich anmeldet, bei einem auf diese Weise nach den nationalen Bestimmungen des früheren Beschäftigungsstaates zuständigen Arbeitsamt Leistungen wegen Vollarbeitslosigkeit beantragt und er die Voraussetzungen für diesen Anspruch nach den oa nationalen Bestimmungen erfüllt, er sich insbesondere der Arbeitsvermittlung im früheren Beschäftigungsstaat zur Verfügung stellt?
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 71 Abs. 1 Buchst. a DBuchst ii Fassung: 1971-06-14; SGB 1 § 30 Abs. 1; AFG § 100
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Verweigerung von Arbeitslosengeld durch den dafür in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich zuständigen Träger, die Bundesanstalt für Arbeit (Beklagte).
Der 1943 geborene Kläger, ein deutscher Staatsangehöriger, ist seit dem 1. April 1973 mit einer Belgierin verheiratet. Er bewohnt mit seiner Ehefrau und den beiden gemeinschaftlichen Kindern ein eigenes Haus in W/Belgien, etwa 15 kam von der deutsch-belgischen Grenze entfernt. Seine Ehefrau ist in E/Belgien berufstätig.
Von 1968 bis Juni 1971 war der Kläger als kaufmännischer Angestellter bei der B AG in L, vom 1. August 1971 bis 31. Dezember 1973 in Belgien und vom 23. März 1974 bis 30. April 1974 bei der Firma K AG in W beschäftigt. Vom 1. Mai 1974 bis 23. März 1976 bezog er von der Beklagten aus Anlaß einer Berufsförderung Unterhaltsgeld; anschließend erhielt er vom 24. März 1976 bis 31. Mai 1976 Arbeitslosengeld. Vom 1. Juni 1976 bis 29. März 1978 war er als Exportkaufmann bei der Firma Q & Co KG in A beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde durch arbeitsgerichtlichen Vergleich einvernehmlich unter Zahlung einer Abfindung von 3.000,-- DM zum 31. März 1978 beendet. Für die Zeit dieser Beschäftigung wurden Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit entrichtet. Am 3. April 1978 meldete der Kläger sich beim örtlich zuständigen belgischen Arbeitsamt arbeitsuchend; er stellte dort jedoch keinen Antrag auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit.
Am 2. Mai 1978 meldete sich der Kläger auch beim Arbeitsamt A arbeitslos und beantragte dort Arbeitslosengeld. Er hatte sich ab 1. Mai 1978 in A, M Allee, ein Zimmer gemietet, das im wesentlichen mit einem kleinen Tisch, sieben Stühlen, einer Luftmatratze und einem Kühlschrank ausgestattet war. Der Kläger war von Mai 1978 bis 17. Juli 1978 mit Hauptwohnsitz in A polizeilich gemeldet. Mit Wirkung ab 16. Juni 1978 hatte er sich in Belgien abgemeldet. Am 3. Juli 1978 beantragte der Kläger in Belgien erneut eine Aufenthaltserlaubnis, woraufhin ihm die Gemeinde W eine Attestation dimmatriculation für die Zeit vom 3. Juli 1978 bis 2. Oktober 1978 erteilte. Beim belgischen Versicherungsträger beantragte der Kläger ebenfalls am 3. Juli 1978 Leistungen, die ihm für die Zeit vom 3. Juli 1978 bis 31. Juli 1978 gewährt wurden. Am 1. August 1978 nahm der Kläger eine Tätigkeit in F auf. Er meldete sich dort polizeilich mit Hauptwohnsitz an. Am 9. April 1979 wurde dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis für Belgien bis zum 8. April 1984 erteilt.
Mit Bescheid vom 17. Juli 1978 und Widerspruchsbescheid vom 23. November 1978 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 2. Mai 1978 auf Gewährung von Arbeitslosengeld unter Hinweis auf § 30 Abs 1 Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil (SGB I) mit der Begründung ab, der Kläger habe zZ der Antragstellung weiterhin seinen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner Familie in Belgien gehabt.
Mit der am 22. Dezember 1978 erhobenen Klage machte der Kläger einen Anspruch auf Arbeitslosengeld gegen die Beklagte für die Zeit vom 2. Mai 1978 bis 2. Juli 1978 geltend. Zur Begründung führte er insbesondere aus: Er habe in der Bundesrepublik Deutschland einen primären Anspruch gegen den deutschen Versicherungsträger erworben, den er lediglich ersatzweise in Belgien geltend machen könne. In der Zeit von 1963 bis 1978 habe er überwiegend Beiträge zur deutschen Renten- und Arbeitslosenversicherung entrichtet. Am 2. Mai 1978 habe er sich der deutschen Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt und bei Antragstellung seinen Hauptwohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Seine polizeiliche Abmeldung in Belgien und Anmeldung in A sei zur Erleichterung der Arbeitsuche und Wahrung eigener wirtschaftlicher und beruflicher Interessen erfolgt, da er als in Deutschland ausgebildeter Betriebswirt auf dem deutschen Arbeitsmarkt bessere Vermittlungschancen hätte als auf dem belgischen. Er habe von Anfang an die Absicht gehabt, sich auf Dauer in Deutschland aufzuhalten und zu einem geeigneten Zeitpunkt seine Familie nachkommen zu lassen. Da er nun in F/M einen festen Arbeitsplatz habe, sei es nicht ausgeschlossen, daß seine Familie umziehe. Seit der Gründung seines Hauptwohnsitzes in A sei er kein Grenzgänger mehr und werde auch steuerrechtlich nicht mehr so behandelt. Die Anwendung des Wohnortprinzips bei Grenzgängern verstoße auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Zielsetzung der Verordnung Nr 1408/71 des EWG-Raten vom 14. Juni 1971, Benachteiligungen sozialer Art aus einer grenzüberschreitenden Situation zu vermeiden. Auch bei Arbeitslosigkeit müsse das Recht bestehen, wahlweise Leistungen im Beschäftigungsland oder im Land des Wohnortes geltend zu machen. Die Leistungen der belgischen Arbeitslosenversicherung seien infolge der niedrigeren Beiträge wesentlich geringer als die Leistungen der deutschen Arbeitslosenversicherung.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Main hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. August 1979). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Es könne dahingestellt bleiben, ob ein Anspruch auf Arbeitslosengeld im Hinblick auf § 30 SGB I nicht gegeben sei, denn die Leistungsverweigerung stelle sich jedenfalls aufgrund von Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 als richtig dar. Diese Vorschrift stelle - wie Artikel 71 insgesamt - eine Ausnahmeregelung für die Frage dar, welchem Land (und seinen Versicherungsträgern) ein Leistungsfall bei Eintritt des Risikos "Arbeitslosigkeit" zuzurechnen sei, wenn die dafür klassischen Kriterien "Arbeitsort" und "Wohnort" während des letzten Arbeitsverhältnisses auseinanderfielen. Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 nehme für Grenzgänger insoweit eine abschließende Kompetenzverteilung zu Lasten des Trägers des Wohnortes und nicht zu Lasten des Trägers des Beschäftigungsstaates vor, zu dem die versicherungsrechtlichen Beziehungen bestanden haben. Die vom Kläger während der letzten Beschäftigung geleistete Arbeit müsse deshalb als im Gebiet des Wohnortstaates Belgien erbracht angesehen werden, so daß sich seine Ansprüche wegen Arbeitslosigkeit ausschließlich nach den Rechtsvorschriften dieses Staates richteten. Das SG verweist dazu auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15. Dezember 1976 - Az 39/76 - (abgedruckt in SozR 6050 Artikel 71 Nr 1). Die dem sogenannten unechten Grenzgänger in Artikel 71 Abs 1 Buchst b der EWG-Verordnung Nr 1408/71 eingeräumte Möglichkeit, wahlweise die Leistungen des Trägers des Wohnsitzstaates oder des Beschäftigungsstaates dadurch herbeizuführen, daß er sich der Arbeitsvermittlung des jeweiligen Mitgliedstaates zur Verfügung stellt, besteht nach Auffassung des SG für den echten Grenzgänger iSd Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 nicht. Der Kläger sei ein solcher echter Grenzgänger gewesen und es auch während der Dauer des erhobenen Anspruchs geblieben, da er seinen Wohnort in Belgien beibehalten habe. Ihm stehe daher wegen Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 gegen den deutschen Versicherungsträger kein Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit zu. Diese Auslegung verstoße nicht gegen das Ziel der Verordnung, Freizügigkeit zu gewährleisten, wie das SG mit näherer Begründung ausführt.
Auf die vom SG zugelassene Berufung des Klägers hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld für die Zeit vom 2. Mai 1978 bis 2. Juli 1978 zu gewähren (Urteil vom 15. September 1980). Es hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger erfülle sämtliche Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf Arbeitslosengeld nach den Vorschriften des deutschen Arbeitsförderungsgesetzes -AFG- (§ 100 AFG). Er sei arbeitslos gewesen (§ 101 AFG), habe die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 104 AFG), habe der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden (§ 103 AFG), da er jederzeit unter der im Antrag angegebenen Anschrift in A erreichbar gewesen sei. Außerdem habe er sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt. Örtlich zuständig sei das Arbeitsamt A gewesen, da der Kläger sich hier erstmalig polizeilich angemeldet habe (§ 129 Abs 3 AFG in der bis zum 31. Juli 1979 geltenden Fassung). Der Geltendmachung des Anspruchs stehe der § 30 Abs 1 SGB I nicht entgegen. Zwar habe der Kläger weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt iS von § 30 Abs 3 SGB I in A gehabt, sondern nur einen vorübergehenden Aufenthalt, da er beabsichtigt habe, in A nur solange zu bleiben, bis er entweder in Belgien oder in Deutschland einen Arbeitsplatz gefunden habe; hierdurch werde jedoch sein Leistungsanspruch nicht ausgeschlossen. Der § 30 SGB I habe gemäß seinem Absatz 2 nur subsidiären Charakter hinter den Regeln des besonderen Teiles des SGB und denen des über- und zwischenstaatlichen Rechts.
Nur dort, wo dieses spezielle Recht keine eigene Kollisionsregelung enthalte, greife § 30 Abs 1 SGB I ein. Die überstaatlichen Vorschriften in der EWG-Verordnung Nr 1408/71 und der EWG-Verordnung Nr 574/72 vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr 1408/71 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr L 74 S 1) seien abweichendes Recht iS von § 30 Abs 2 SGB I. Die Kollisionsnorm des Artikel 13 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 regele, daß ein Arbeitnehmer, für den diese Verordnung gelte, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates unterliege. Absatz 2 Buchst a) dieses Artikels bestimme, daß die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates anzuwenden seien, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt sei. Demnach sei sowohl hinsichtlich des Beitragsrechts als auch hinsichtlich des Leistungsrechts deutsches Recht für den Kläger anzuwenden, und zwar unabhängig von seinem Wohnort. Für die Leistung sei auch bei Auslandsberührung grundsätzlich dasselbe Recht anzuwenden, das für die Beitragsentrichtung maßgebend gewesen sei. Beitrag und Leistung ständen in einer engen gegenseitigen wirtschaftlichen und rechtlichen Abhängigkeit, so daß es gerechtfertigt sei, die Frage nach dem anzuwendenden Recht bei Beiträgen und Leistungen gleich zu beantworten.
Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Sonderregelung des Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71. Zwar gebe dieser Artikel Grenzgängern einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in ihrem Wohnland. Dennoch führe die Vorschrift nicht zum Verlust des Arbeitslosengeld-Anspruchs des Klägers gegen die Beklagte; denn die Anwendung der EWG-Verordnung dürfe nicht dazu führen, daß Rechte, die ein Arbeitnehmer nach den Vorschriften des Mitgliedstaates, in dem er beschäftigt gewesen sei, erworben habe, verloren gingen (vgl EuGH, Urteil vom 13. Juli 1976 - Az 19/76 -). Sinn der Regelung sei es, sicherzustellen, daß einem Arbeitnehmer Leistungen bei Arbeitslosigkeit unter den für die Arbeitsuche günstigsten Voraussetzungen gewährt würden. Der Sinn der Regelung des Artikel 71 Abs 1 Buchst a) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 würde bei dem Kläger also nicht erfüllt, wenn eine ausschließliche Zuständigkeit des Versicherungsträgers des Wohnlandes Belgien angenommen würde. Der Kläger könnte seinen nach innerstaatlichem Recht erworbenen Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr geltend machen. Dies stehe nicht im Einklang zu Sinn und Zweck des Artikel 51 des EWG-Vertrages, der gerade aus- und einwandernden Arbeitnehmern zusichere, alle nach innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigte Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen anzurechnen. Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der Verordnung schreibe nicht die ausschließliche Zuständigkeit des Trägers des Wohnortes vor, sondern sei so auszulegen, daß es einen Anspruch gegen einen weiteren Träger gebe, wobei jedoch das Kumulierungsverbot des Artikel 12 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 zu beachten sei. Ebenso wie für den unechten Grenzgänger eine Wahlmöglichkeit bestehe, müßte dies auch für den echten Grenzgänger angenommen werden. Ein Grund für eine unterschiedliche Behandlung sei nicht gegeben. Bei beiden Versicherten falle der Beschäftigungsort und der Wohnort auseinander. Da der Kläger sich der belgischen Arbeitsvermittlung in der Zeit vom 3. Mai 1978 bis 2. Juli 1978 nicht zur Verfügung gestellt und auch keine Leistungen beantragt habe, ständen ihm Leistungen aus der deutschen Arbeitslosenversicherung zu. Innerstaatliche Vorschriften ständen der Auszahlung nicht entgegen. Anknüpfungspunkt für die Frage der Beitragspflicht und der Leistung nach dem AFG sei das Beschäftigungsverhältnis. Der Wohnsitz und der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers in Belgien hinderten die Auszahlung des Arbeitslosengeldes nicht, weil der Kläger sich vorübergehend bis zur Arbeitsaufnahme dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt habe und die Verfügbarkeit nicht vom Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt abhänge, sondern allein nach der tatsächlichen Erreichbarkeit des Arbeitslosen zu beurteilen sei.
Die Beklagte hat form- und fristgerecht Revision eingelegt. Sie rügt ua eine Verletzung von Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 und führt dazu ua aus: Zwar sei es richtig, daß § 30 Abs 1 SGB I auch für Personen gelte, die weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich hätten, wenn Regelungen des über- oder zwischenstaatlichen Rechts andere Anknüpfungspunkte vorsehen würden (§ 30 Abs 2 SGB I). Solche Regelungen würden hier hinsichtlich eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld nicht bestehen. Auch Artikel 13 Abs 2 Buchst a der EWG-Verordnung Nr 1408/71 führe nicht zu einer Anwendung solchen Leistungsrechts. Vielmehr sei diese Vorschrift ausschließlich in beitragsrechtlicher Hinsicht von Bedeutung. Dies ergebe sich bereits aus ihrer Stellung in Titel II der Verordnung, der auf das Beitragsrecht abstelle, während die Regelung für den Leistungsfall in Titel III enthalten sei. Auch der Wortlaut des Artikel 13 Abs 2 Buchst a) lasse eine Anwendung auf den behaupteten Anspruch des Klägers nicht zu. Während es hier um die anzuwendenden Vorschriften für den Anspruch eines Arbeitslosen gehe, beziehe sich die genannte Regelung auf einen Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt sei. Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung bestimme, daß Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates erhalten, in dessen Gebiet sie wohnten, als ob während der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates für sie gegolten hätten. Die Leistungen gingen zu Lasten des Trägers des Wohnorts, also hier zu Lasten des belgischen Versicherungsträgers. Diese klare Zuständigkeitszuweisung lasse mangels einer entsprechenden Vorschrift ein Wahlrecht nicht zu. Dort, wo der Verordnungsgeber ein solches Recht für geboten gehalten habe, habe er es ausdrücklich normiert, wie in Artikel 71 Abs 1 Buchst b) der Verordnung. Gerade der Umstand, daß der Verordnungsgeber Zuständigkeiten für die Leistungszahlung an "echte" und "unechte" Grenzgänger in einer Vorschrift behandelt und dabei nur dem letztgenannten Personenkreis ein Wahlrecht zugestanden habe, lasse erkennen, daß dem "echten" Grenzgänger dieses Recht bewußt nicht zugesprochen worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
vom 15. September 1980 aufzuheben und die Berufung
des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Frankfurt/Main vom 21. August 1979 zurückzuweisen.
Der Kläger ist durch einen Prozeßbevollmächtigten im Revisionsverfahren nicht vertreten. Dies ist für die Wahrung seines Klageanspruchs prozessual unschädlich.
Entscheidungsgründe
Der Senat ruft den Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr L 149) an.
Die Revision der Beklagten ist zulässig. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG erfüllte der Kläger auch mit seiner Arbeitslosmeldung und Antragstellung vom 2. Mai 1978 für den Beginn und die Dauer des geltend gemachten Klageanspruchs die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach deutschem Recht (§§ 100 ff AFG). Er stand insbesondere der Arbeitsvermittlung durch den deutschen Versicherungsträger zur Verfügung (§ 103 AFG). Nach Auffassung des Senats steht auch § 30 Abs 1 SGB I nach innerstaatlichem Recht dem Anspruch auf Arbeitslosengeld in dem streitigen Zeitraum nicht entgegen.
Der Kläger, der dem persönlichen Geltungsbereich der EWG-Verordnung Nr 1408/71 (Artikel 2) unterfällt, ist nach dem festgestellten Sachverhalt während seiner letzten Beschäftigung vor Eintritt der hier maßgeblichen Arbeitslosigkeit Grenzgänger iS von Artikel 1 Buchst b) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 gewesen, dh ein Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates (Bundesrepublik Deutschland) beschäftigt war und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates (Belgien) wohnte, in das er in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich zurückkehrte. Er hat diese Eigenschaft während der Dauer seiner Arbeitslosigkeit vom 2. Mai 1978 bis 2. Juli 1978 nicht verloren - falls es darauf ankommt -; denn nach den Feststellungen des LSG hatte er seinen Wohnsitz in Belgien beibehalten (vgl dazu EuGH vom 17.Februar 1977 - Az 76/76 - abgedruckt in SozR 6050 Artikel 71 Nr 2). Auf die Frage, ob der Kläger durch die polizeiliche Anmeldung und die Anmietung eines möblierten Zimmers in A in dieser Zeit dort daneben einen zweiten Wohnsitz begründet hat oder dort insoweit nur zeitweiligen Aufenthalt nahm, kommt es für die fortbestehende Grenzgängereigenschaft des Klägers nach Auffassung des Senats nicht an.
Für die Frage, ob dem Kläger der nach deutschem Recht begründete Anspruch auf Arbeitslosengeld zusteht, kommt es jedoch darauf an, ob vorrangige Vorschriften des Gemeinschaftsrechts dem entgegenstehen. Deren Anwendung und Auslegung ist dann für die Entscheidung über die anhängige Revision erheblich.
Der Senat möchte zwar nicht der Auffassung des LSG folgen, daß sich für den vorliegenden Fall die grundsätzliche Anwendbarkeit deutschen Leistungsrechts aus Artikel 13 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 ergibt. Er ist vielmehr der Auffassung, daß diese Vorschrift (nur) den Grundsatz umschreibt, daß die Arbeitnehmer, für die die Verordnung gilt, nach den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates pflichtversichert sein können. Artikel 13 enthält aber noch keine abschließende Aussage über die Regelung für Leistungsansprüche einzelner Arbeitnehmer.
Diese Frage ist, soweit es sich um Leistungen im Falle von Arbeitslosigkeit handelt, vielmehr den Bestimmungen in Titel III Kapitel 6 der Verordnung zu entnehmen, hier insbesondere dem Artikel 71. Für den nach deutschem Recht bestehenden Anspruch des Klägers gegen den beklagten deutschen Versicherungsträger könnte sich aus Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 ergeben, daß die darin bestimmte Zuständigkeit des Trägers des Wohnortes, hier also des belgischen Versicherungsträgers, den Anspruch gegen den deutschen Versicherungsträger ausschließt. Die Bundesrepublik Deutschland ist zwar zuständiger Staat iS von Artikel 71 Abs 1 Satz 1 der EWG-Verordnung Nr 1408/71; denn der Kläger war während seiner letzten Beschäftigung bei der Bundesanstalt für Arbeit mit Sitz in Nürnberg als dem zuständigen Träger gegen Arbeitslosigkeit versichert (Artikel 1 Buchst o) und q) der EWG-Verordnung Nr 1408/71). Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 bestimmt jedoch, daß Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften und zu Lasten des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet sie wohnen, erhalten, als ob während der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates für sie gegolten hätten.
Es ist hiernach nicht zweifelhaft, daß dem Kläger ein Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit nach dem Ende seiner letzten Beschäftigung in Deutschland gegen den belgischen Versicherungsträger zugestanden hätte (wie er auch später zeitweise erfüllt wurde). Fraglich ist jedoch, ob - wie die Beklagte meint - diese Regelung eine ausschließliche Kompetenzverteilung in dem Sinne anordnet, daß damit Ansprüche gegen den zuständigen Träger des Beschäftigungsstaates ausgeschlossen sind. Dies wird aus dem Wortlaut der Bestimmung allein nicht deutlich und bedarf deshalb der Auslegung. Soweit ersichtlich, hat der EuGH diese Frage noch nicht entschieden. Das Urteil vom 15. Dezember 1976 - Az 39/76 (abgedruckt in SozR 6050 Artikel 71 Nr 1) befaßt sich lediglich mit dem Wahlrecht sogenannter unechter Grenzgänger gemäß Artikel 71 Abs 1 Buchst b) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71.
Für die Auffassung des LSG über die Auslegung des Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 sprechen allerdings gewichtige Gründe, wie sie ua auch das LSG ausgeführt hat. Die EWG-Verordnung Nr 1408/71 regelt die Anwendung des Systems der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Ziel dieser Verordnung ist es, sicherzustellen, daß die verschiedenen Arbeitnehmergruppen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ohne Rücksicht auf ihren Wohnort Leistungen der sozialen Sicherheit erhalten (vgl Begründung der Kommission zu ihrem Verordnungsvorschlag, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Bd 4, A 1). Sie ist eine flankierende Maßnahme zur Gewährleistung der Freizügigkeit für die Arbeitnehmer in diesem Bereich. Die Regelungen der EWG-Verordnung Nr 1408/71 sollen vermeiden, daß ein arbeitsmarktpolitisch erwünschter grenzüberschreitender Arbeitskräfteausgleich im Gemeinschaftsbereich durch sozialrechtliche Benachteiligung von Auslandsbeschäftigungen behindert wird. Angestrebt wird eine Gleichbehandlung der im Ausland eingetretenen Tatsachen mit Inlandstatsachen, nicht eine Subventionierung des grenzüberschreitenden Arbeitskräfteausgleichs zu Lasten der Versicherungsträger (so auch Hennig/Kühl/Heuer, Kommentar zum AFG; Anhang V/1, März 1981, Vorbemerkung zur EWG-Verordnung Nr 1408/71). Die Grundlage, den Rahmen und die Grenzen der EWG-Verordnung Nr 1408/71 bilden die Artikel 48 bis 51 des Europavertrages, deren Ziel die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist. Der EuGH sagt dazu: "Die Vorschriften" (der Artikel 48 bis 51) "zielen auf die Herstellung einer möglichst weitgehenden Freizügigkeit der Arbeitnehmer...; die getroffenen Maßnahmen sind daher im Zweifel in dem Sinne auszulegen, daß sie die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer, insbesondere auf dem Gebiet der Sozialversicherung, vor Benachteiligungen schützen wollen.Dagegen stehen die genannten Vorschriften solchen innerstaatlichen Bestimmungen nicht entgegen, deren Anwendung dazu führt, daß die Wanderarbeitnehmer einen zusätzlichen Sozialschutz erhalten" (EuGH vom 9. Juni 1964, EuGHE Bd X S 628 ff).
Grundsätzlich hat ein Arbeitsloser nach Gemeinschaftsrecht Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nur nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem er arbeitslos geworden ist (EuGH vom 9. Juli 1975 - Az 20/75 - abgedruckt in SozR 6050 Artikel 45 Nr 1). Dieser Anspruch hängt davon ab, daß der Arbeitslose der Verwaltung, bei der er gemeldet ist, zur Verfügung steht. Um einem Arbeitslosen die Möglichkeit zu geben, in einem anderen Land nach einer Beschäftigung zu suchen, sieht das Gemeinschaftsrecht vor, daß der Arbeitslose sich unter bestimmten, stark formalisierten Voraussetzungen (Artikel 69) in ein anderes Land der Gemeinschaft begeben kann und dennoch den Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit behält.
Von dieser Regelung sieht Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) eine den Grenzgänger begünstigende, der besonderen Lebens- und Beschäftigungslage dieses Personenkreises sachgerecht entsprechende Ausnahme vor. Es fragt sich aber, ob damit der oa Grundsatz der prinzipiellen Zuständigkeit des Trägers des Beschäftigungsstaates völlig aufgegeben werden sollte oder ob nicht dem Grenzgänger ebenso wie in Artikel 71 Abs 1 Buchst b) der Verordnung wenigstens das Wahlrecht verbleiben sollte, auch bei dem zuständigen Träger des Beschäftigungsstaates Leistungen wirksam verlangen zu dürfen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen hierfür nach den Vorschriften dieses Staates begründet sind (Frage 1).
Selbst wenn jedoch dem Artikel 71 Abs 1 Buchst a) ii) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 die Regelung einer Rangfolge für die Zuständigkeit in dem Sinne beizulegen sein sollte, daß er die Pflicht zur Gewährung von Leistungen bei Vollarbeitslosigkeit (in erster Linie) dem Träger des Wohnsitzstaates zuweist, sozusagen für den Regelfall, muß dies nicht bedeuten, daß das auch dann gilt, wenn der Arbeitslose von seiner sachgerechten Interessenlage her sich während seiner Arbeitslosigkeit - unter Beibehaltung seines bisherigen Wohnsitzes - in das Gebiet des früheren Beschäftigungsstaates begibt, weil er dort (vorrangig) eine neue Arbeit aufnehmen möchte. Dies jedenfalls dann, wenn er, wie der Kläger, diese Absicht durch die äußere Gestaltung seiner Lebensverhältnisse objektiv belegt, in dem er nicht nur unter Wahrung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des (früheren) Beschäftigungsstaates dort tatsächlich Aufenthalt nimmt, sondern sich gleichzeitig der Arbeitsvermittlung des dort zuständigen Trägers in geeigneter Weise zur Verfügung stellt (Frage 2).
Beide Fragen sind jedoch nicht zweifelsfrei zu bejahen. Die Auffassung der Beklagten, aus der ausdrücklichen Zulassung des Wahlrechts für unechte Grenzgänger in Artikel 71 Abs 1 Buchst b) der EWG-Verordnung Nr 1408/71 sei bindend für die Auslegung auf einen entgegenstehenden Willen des Verordnungsgebers in Abs 1 Buchst a) ii) zu folgern, erscheint nicht so abwegig, daß sich ein nationaler Gerichtshof darüber hinwegsetzen dürfte.
Der Senat hält deshalb eine Entscheidung des EuGH über die aufgeworfenen Fragen für geboten, von deren Beantwortung die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt.
Fundstellen