Orientierungssatz

1. Hat die Wohnsitzfiktion der Art 73 Abs 1 und 74 Abs 1 EWGV 1408/71 auch zur Folge, daß Kindergeldberechtigte, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft wohnen, im Rahmen des § 11a BKGG und der dort in Bezug genommenen steuerrechtlichen Vorschriften so zu behandeln sind, als ob ihre Kinder im Geltungsbereich des BKGG wohnten?

2. Das vorlegende Gericht hat den Vorlagebeschluß durch Beschluß vom 28.2.1990 - 10 RKg 4/90 aufgehoben.

 

Normenkette

BKGG § 11a Abs. 1; EWGV 1408/71 Art. 73 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 6

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin für das Jahr 1986 zu dem für ihre Tochter Teresa (T.) gewährten Kindergeld den Zuschlag nach § 11a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) zu gewähren hat.

Die Klägerin, eine Italienerin, die sich seit Ende 1975 im Bundesgebiet aufhält, stand bis zum 30. November 1985 in einem Beschäftigungsverhältnis und bezog anschließend vom 1. Dezember 1985 bis 4. Februar 1986 sowie vom 15. bis 27. April 1986 Krankengeld, vom 5. bis 12. Februar 1986 und vom 28. April 1986 bis zum 17. April 1987 Arbeitslosengeld und vom 13. Februar bis 14. April 1986 Übergangsgeld. Seit August 1983 erhält sie nur noch für ihre im April 1973 nichtehelich geborene Tochter T., deren Vater amtlich nicht festgestellt ist, Kindergeld. T. lebte seit ihrer Geburt bei der Mutter der Klägerin in Italien. Von Oktober 1979 bis zum Sommer 1980 hielt sie sich bei der Klägerin in Hamburg auf und besuchte hier die erste Klasse einer Volksschule. Danach kehrte T. nach Italien zurück und lebte wiederum bei ihrer Großmutter. Seit Sommer 1987 hält sie sich wieder bei der Klägerin in Hamburg auf.

Dem Antrag der Klägerin vom 7. Januar 1986, ihr ab Januar 1986 laufend den Kindergeldzuschlag in Höhe von monatlich 46,- DM zu zahlen, weil sie seit dem 30. November 1985 arbeitslos sei, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27. Januar 1986 und Widerspruchsbescheid vom 21. April 1986).

Die dagegen gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Klägerin sei zwar 1986 für ihre Tochter T. Kindergeld gewährt worden. Ihr zu versteuerndes Einkommen sei auch geringer gewesen als der Grundfreibetrag, der nach § 32a Abs 1 Nr 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1986 4.536,- DM betragen habe. Das Einkommen der Klägerin im Jahre 1986 sei nämlich nicht zu versteuern gewesen; denn für das von ihr bezogene Kranken-, Übergangs- und Arbeitslosengeld bestehe gemäß § 3 Nr 1a, c und Nr 2 EStG Steuerfreiheit. Gleichwohl könne die Klägerin den Kindergeldzuschlag nicht beanspruchen, weil ihr 1986 für T. kein Kinderfreibetrag nach § 32 Abs 6 EStG zugestanden habe. Ein Kind könne nämlich nur dann berücksichtigt werden (§ 32 Abs 2 EStG), wenn es zu Beginn des Kalenderjahres unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen oder im Laufe des Kalenderjahres unbeschränkt einkommensteuerpflichtig geworden sei. Diese Voraussetzung liege nicht vor. T. habe 1986 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland gehabt und sei deshalb gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 EStG nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen. Das Kind der Klägerin habe sich in dem genannten Jahr gewöhnlich in Italien bei ihrer Großmutter aufgehalten. Dem stehe nicht entgegen, daß sie vom Herbst 1979 bis zum Sommer 1980 ein dreiviertel Jahr ihren Wohnsitz bei der Klägerin in Hamburg gehabt habe und nach ihrer italienischen Schulausbildung im Sommer 1988 wieder nach Deutschland habe kommen wollen. Hieraus könne nicht auf die Beibehaltung des Hamburger Wohnsitzes von Herbst 1980 bis einschließlich 1986 geschlossen werden. Auch die Gebietsgleichstellungsfiktion der Art 73 Abs 1 und 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 führe nicht dazu, daß § 11a BKGG zugunsten der Klägerin angewendet werden müsse. Der nationale Gesetzgeber, der sein Steuerrecht unabhängig von der Geltung der EWG-VO Nr 1408/71 regeln könne, sei nicht gehindert, im BKGG geregelte Leistungen durch die Bezugnahme auf steuerrechtliche Tatbestände von der Anwendbarkeit der Art 73 Abs 1 und 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 auszunehmen. Dies sei hier geschehen. Eine entsprechende Anwendung der EWG-Vorschriften komme nicht in Betracht. Der Kindergeldzuschlag solle denjenigen Eltern, die den mit dem Kinderfreibetrag verbundenen steuerrechtlichen Vorteil lediglich wegen der geringen Höhe ihres zu versteuernden Einkommens nicht oder nicht in vollem Umfang ausschöpfen könnten, einen Ausgleich gewähren. Er diene aber nicht dazu, Eltern, denen der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs 6 EStG - wie der Klägerin - nicht zustehe und die schon deshalb - unabhängig von der Höhe ihres zu versteuernden Einkommens - nicht in den Genuß des durch den Kinderfreibetrag bewirkten Steuervorteils kommen könnten, zu begünstigen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung der Vorschriften des § 11a Abs 1 BKGG und der Art 73 Abs 1 und 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 sowie des Art 7 Abs 2 EWG-VO Nr 1612/68 iVm Art 48 Abs 2, 49 EWG-Vertrag. Entgegen der Auffassung des LSG sei der Kindergeldzuschlag nach § 11a BKGG eine Leistung, auf die die Art 73 und 74 EWG-VO Nr 1408/71 Anwendung fänden. Diese Leistung sei im BKGG geregelt. Daß der nationale Gesetzgeber sie erst durch eine Änderung des BKGG geschaffen habe, schließe die Anwendung der EWG-Vorschriften nicht aus. Die Modifikation des Inhalts, daß die "Rechtsvorschriften und Verwaltungsvorschriften über die Gewährung von Familienbeihilfen (Kindergeld für Arbeitnehmer) - BKGG vom 14. April 1964 mit Änderungen und Ergänzungen in der jeweils geltenden Fassung -" den Rechtsvorschriften des Art 4 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 unterfielen, sei laufend fortgeschrieben worden. Auf eine Qualifizierung des Kindergeldzuschlages als steuerrechtliche Leistung oder als Familienleistung komme es daher nicht an. Führten aber Art 73 Abs 1 und Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 im vorliegenden Fall zu einer fiktiven Gleichstellung hinsichtlich des Inlandsaufenthalts des Kindes, so sei auch der Kindergeldzuschlag zu gewähren.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Juli 1988 und des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Oktober 1986 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1986 idF des Widerspruchsbescheides vom 21. April 1986 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 31. Dezember 1986 552,- DM Kindergeldzuschlag zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und macht ergänzend geltend, der Klägerin stehe der begehrte Kindergeldzuschlag nach § 11a BKGG schon deshalb nicht zu, weil ihr für das Jahr 1986 Kindergeld nicht zu gewähren gewesen sei. Zwar habe sie diese Leistung tatsächlich bezogen. Darauf komme es aber nicht entscheidend an. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG müsse davon ausgegangen werden, daß die Tochter der Klägerin nicht nur vorübergehend bei der Großmutter in Italien untergebracht gewesen, sondern auch in deren Haushalt aufgenommen worden sei. Damit habe aber die Großmutter in der fraglichen Zeit die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes nach § 1 BKGG erfüllt, und ihr habe nach der Vorrangregelung des § 3 Abs 2 BKGG die Leistung zugestanden. Die fehlerhafte Gewährung des Kindergeldes an die Klägerin könne den geltend gemachten Anspruch auf den Kindergeldzuschlag nicht stützen. Daran ändere selbst der Umstand nichts, daß die fehlerhafte Bewilligung nicht mehr aufgehoben werden dürfe. Bei der Entscheidung über den Anspruch auf den Kindergeldzuschlag müsse nämlich berücksichtigt werden, daß die Klägerin keinen Anspruch auf das ihr gewährte Kindergeld gehabt habe. Aber selbst wenn das Gericht wegen der Kindergeldbewilligung davon ausgehe, daß ein Kindergeldanspruch bestanden habe, lägen die weiteren Voraussetzungen des § 11a BKGG für den Kindergeldzuschlag nicht vor. Die von der Klägerin angestrebte Auslegung des § 11a Abs 1 Satz 1 und 2 BKGG gegen den Wortlaut im Hinblick auf Art 73 und 74 EWG-VO Nr 1408/71 sei auch wegen der rechtssystematischen Bedeutung der Vorschrift nicht zulässig. Der Kindergeldzuschlag stelle im dualen System des deutschen Familienlastenausgleichs das Bindeglied zwischen dem Kindergeldrecht und dem steuerrechtlichen Lastenausgleich dar. Demzufolge seien die Anspruchsvoraussetzungen teils kindergeldrechtlich geprägt und deshalb vom Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet abhängig, teils aber auch steuerrechtlich geprägt und insoweit von der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht abhängig. Zu den Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs gehöre, daß der Antragsteller und das Kind einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hätten (§ 2 Abs 5 BKGG). Der Kinderfreibetrag erfordere dagegen die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht des Antragstellers (§ 32 Abs 6 iVm § 50 Abs 1 Satz 5 EStG) und des Kindes (§ 32 Abs 2 EStG). Während das kindergeldrechtliche Erfordernis "Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland" nach Art 73, 74 EWG-VO Nr 1408/71 auf Seiten des Antragstellers durch die Eigenschaft "Arbeitnehmer" bzw "Arbeitsloser" und auf Seiten des Kindes durch die Fiktion des Inlandaufenthalts ersetzt werden könne, sei dies hinsichtlich des Erfordernisses "unbeschränkte Einkommensteuerpflicht" nicht vorgesehen und bei Beachtung des Sachzusammenhangs auch nicht möglich. Die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht einer Person sei nicht allein von dem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland abhängig. Deutsche könnten auch ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sein (§ 1 Abs 2 und 3 EStG); Ausländer seien aber trotz Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts nicht oder nur beschränkt einkommensteuerpflichtig. Die Bezugnahme auf die "unbeschränkte Einkommensteuerpflicht" anstelle des "Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland" sei kein gesetzestechnischer Zufall, sondern sie erweise sich als logische Konsequenz der steuerrechtlichen Zusammenhänge. Der Kinderfreibetrag sei Ausfluß des Prinzips der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit. Steuerpflichtige mit Kindern seien gegenüber Steuerpflichtigen ohne Kinder entsprechend der durch die Kinder verursachten und nicht bereits durch Kindergeld oder andere Sozialleistungen oder Vergünstigungen ausgeglichenen wirtschaftlichen Belastungen geringer zu besteuern. Für den steuerrechtlichen Ausgleich solcher Belastungen, die alle Steuerpflichtigen im gleichen Maße träfen, gebe es im deutschen Steuerrecht zwei Verfahrensweisen. Vor der Besteuerung würden vom Einkommen entweder Freibeträge oder tatsächliche Aufwendungen abgezogen. Beim steuerrechtlichen Familienlastenausgleich sei die Art und Weise der Durchführung von der Steuerpflicht der Eltern und des Kindes abhängig. Seien sowohl die Eltern als auch die zu berücksichtigenden Kinder unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, erfolge der Familienlastenausgleich über Kinderfreibeträge. Seien Eltern oder Kinder nicht oder nur beschränkt einkommensteuerpflichtig, so erfolge er in der Form des Abzuges tatsächlicher Aufwendungen im Rahmen der in § 33a EStG genannten Höchstbeträge. Diese unterschiedliche Behandlung sei steuersystematisch verständlich. Seien nämlich Eltern und Kinder unbeschränkt, dh mit allen inländischen und ausländischen Einkünften, einkommensteuerpflichtig, führe die typisierende steuerrechtliche Behandlung letztlich nicht zu einer wesentlich überhöhten Begünstigung. Es sei dann nämlich nicht nur so, daß der Freibetrag seiner Höhe nach die Verhältnisse im Inland grundsätzlich richtig treffe, sondern darüber hinaus würden grobe Abweichungen der Familienlast durch die Besteuerung aller Familienmitglieder mindestens teilweise wieder aufgehoben. Die durch Kinder hervorgerufene Familienlast könne nämlich aus steuerrechtlicher Sicht in einem derartigen Falle nur dadurch gravierend von der Norm abweichen, daß das Kind selbst erhebliche Einkünfte habe. Diese würden dann aber versteuert. Nur unter der Voraussetzung der Besteuerung aller Einkünfte der Eltern und Kinder führe der Familienlastenausgleich über Kinderfreibeträge zu einem im Sinne steuerrechtlicher Gleichbehandlung richtigen Ergebnis. Würden dagegen die Einkünfte der Familienmitglieder nicht oder nur teilweise der Besteuerung im Inland unterworfen, so sei eine abweichende Form des Familienlastenausgleichs, bei dem die tatsächlichen Belastungen festgestellt und berücksichtigt würden, grundsätzlich steuersystematisch verständlich. Eine derartige Entscheidung des Gesetzgebers verstoße nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot und sei auch nicht gemeinschaftswidrig.

 

Entscheidungsgründe

Nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

Der Senat ruft den Europäischen Gerichtshof gemäß Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) zur Vorabentscheidung an über die Auslegung von Art 73 Abs 1 und Art 74 Abs 1 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft -ABl-EG- Nr L 149/2 vom 5. Juli 1971, berichtigt ABl-EG 1973 Nr L 128/22 vom 15. Mai 1973; idF des Anhangs I der EWG-VO Nr 2001/83 vom 2. Juni 1983, ABl-EG Nr L 230/6 vom 22. August 1983).

Die Anwendung und Auslegung der Art 73 Abs 1 und Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 ist für die Entscheidung über den anhängigen Rechtsstreit erheblich. Die zulässige Revision der Klägerin wäre begründet, wenn die genannten gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften im vorliegenden Falle dahin anzuwenden wären, daß die Beklagte im Rahmen des § 11a BKGG und der dort in Bezug genommenen steuerrechtlichen Vorschriften die Klägerin so behandeln müßte, wie wenn ihre Tochter T. im Jahre 1986 ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz im Geltungsbereich des BKGG gehabt hätte. Gilt dagegen die Wohnsitzfiktion des Art 73 Abs 1 und des Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 nicht für § 11a BKGG und die dort genannten steuerrechtlichen Vorschriften, dann stünde der Klägerin für das Jahr 1986 nicht der begehrte Zuschlag zum Kindergeld zu und die Revision wäre zurückzuweisen.

Der Senat ist nicht durch § 27 Abs 2 BKGG daran gehindert, über den geltend gemachten Anspruch in der Sache zu entscheiden. Nach der genannten Vorschrift ist die Berufung ua nicht zulässig, soweit sie nur das Kindergeld für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Zwar handelt es sich bei dem Zuschlag des § 11a BKGG um eine Erhöhung des Kindergeldes und damit auch um eine Leistung, auf die die Berufungsausschlußnorm des § 27 Abs 2 BKGG grundsätzlich anwendbar ist. Im vorliegenden Falle greift die Norm jedoch nicht ein. Denn für die Frage, ob die Berufung statthaft ist, kommt es auf die Verhältnisse zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels an (BSG SozR 1500 § 146 Nrn 6 und 7). Die Klägerin hat die Berufung am 29. Dezember 1986 eingelegt. Zu diesem Zeitpunkt betraf das Rechtsmittel auch noch den Zuschlag zum Kindergeld für einen zukünftigen Zeitraum, nämlich die restlichen Tage des Jahres 1986.

Die Klage ist auch zulässig. Die Klägerin hat nämlich - wie die Auslegung ihres Begehrens ergibt - nicht einen Antrag nach § 11a Abs 7, sondern nach Abs 8 BKGG gestellt. Nach der letztgenannten Vorschrift kann der Zuschlag - wie hier geschehen - schon vor Ablauf des Jahres begehrt werden, für das er gezahlt werden soll. Eine entsprechende Klage ist deshalb schon im Laufe des Jahres statthaft, für das die Erhöhung des Kindergeldes ohne den Zuschlag verlangt wird.

Die EWG-VO Nr 1408/71 ist auf die Klägerin anzuwenden. Dies folgt aus Art 2 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71. Danach gilt diese Verordnung ua für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind. Die Klägerin ist als Italienerin Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der EG. Für sie gelten zumindest die Rechtsvorschriften Italiens.

Die Regelungen über Familienleistungen für Arbeitnehmer und Arbeitslose, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen, sind in Titel III Kapitel 7 Abschnitt 2 EWG-VO Nr 1408/71 enthalten. Da die Klägerin in der hier streitigen Zeit Empfängerin von Kranken-, Arbeitslosen- und Übergangsgeld war, kommt - je nach Art der zeitweilig bezogenen Leistung - die Anwendung des Art 73 Abs 1 bzw Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 in Betracht. Nach Art 73 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 hat ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als Frankreich unterliegt, für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob die Familienangehörigen in diesem Staat wohnten. Nach den Feststellungen des LSG gehört die Klägerin zu dem von dieser Bestimmung erfaßten Personenkreis. Der Begriff des Arbeitnehmers ist in Art 1a) EWG-VO Nr 1408/71 definiert. Danach ist Arbeitnehmer jede Person, die gegen ein Risiko oder mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfaßt werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Die Klägerin war - wie das LSG ferner festgestellt hat - früher versicherungspflichtig beschäftigt und damit ua für den Fall der Krankheit pflichtversichert (§ 165 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO- aF). Ihre Tochter T., für die sie den Zuschlag zum Kindergeld beansprucht, ist Familienangehörige iS des Art 1 Buchst f EWG-VO Nr 1408/71.

Auch die weitere Voraussetzung, daß zwei unterschiedliche Mitgliedstaaten betroffen sein müssen, liegt vor. Das Kind T. lebte und wohnte 1986 in Italien. Die Klägerin hält sich seit 1975 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Des weiteren handelt es sich bei dem Zuschlag zum Kindergeld um eine Familienleistung iS des Art 73 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71. Dies sind nach Art 1 Buchst u) i) alle Sach- und Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art 4 Abs 1 Buchst h genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind. Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung zu Art 5 EWG-VO Nr 1408/71 als Leistung, die unter Art 4 Abs 1 fällt, ausdrücklich das Kindergeld benannt (vgl ABl-EG Nr C 139/6 vom 9. Juni 1980). Auch der hier begehrte Zuschlag ist Kindergeld. Das ergibt sich aus § 11a Abs 1 BKGG. Danach "erhöht sich" das Kindergeld um den nach § 11a Abs 6 BKGG bemessenen Zuschlag. Daß diese zusätzliche Leistung nur auf einen (gesonderten) Antrag (vgl § 11a Abs 7 Satz 1 BKGG) gewährt wird, steht dem nicht entgegen.

Soweit die Klägerin während des Jahres 1986 arbeitslos war und Arbeitslosengeld bezog, ist von Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 auszugehen. Nach dieser Vorschrift hat ein arbeitsloser Arbeitnehmer, der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats außer Frankreich bezieht, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten. In der hier streitigen Zeit erfüllte die Klägerin die Voraussetzungen des Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 vom 5. bis 12. Februar 1986 sowie vom 28. April bis 31. Dezember 1986. Sie bezog Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Tochter T. wohnte in Italien.

Der vorlegende Senat kann jedoch nicht ohne vorhergehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs darüber befinden, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf den Zuschlag zum Kindergeld gegeben sind. Denn nur wenn die Wohnsitzfiktion der Art 73 Abs 1 und 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 auch im Rahmen des § 11a BKGG und der dort genannten steuerrechtlichen Vorschriften anzuwenden ist, steht der Klägerin für das Jahr 1986 der Kinderzuschlag zu.

Nach § 11a Abs 1 Satz 1 BKGG erhöht sich das Kindergeld für Kinder, für die dem Berechtigten der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs 6 EStG in der am 27. Juni 1985 in Kraft getretenen Fassung des Art 1 Nr 8 des Gesetzes zur leistungsfördernden Steuersenkung und Entlastung der Familie (- Steuersenkungsgesetz 1986/1988 -, BGBl I, 1153; vgl auch Art 7 dieses Gesetzes) zusteht, um den nach Abs 6 bemessenen Zuschlag, wenn das zu versteuernde Einkommen (§ 2 Abs 5 EStG) des Berechtigten geringer ist als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 Nr 1 EStG. Der Anwendung dieser Vorschrift zugunsten der Klägerin steht nicht schon entgegen, daß sie möglicherweise zu Unrecht für das Jahr 1986 Kindergeld bezogen hat. Die Beklagte hat ihr für ihre Tochter T. ab August 1983 Kindergeld bewilligt. Selbst wenn die Voraussetzungen für den Anspruch nicht vorgelegen haben sollten, weil das Kind während des Jahres 1986 möglicherweise im Haushalt der Großmutter aufgenommen war, spielt das rechtlich keine Rolle. Die bewilligende Entscheidung der Beklagten ist in der Sache bindend (§ 77 SGG). Das heißt: Zwischen den Beteiligten steht fest, daß die Klägerin in der hier streitigen Zeit einen Anspruch auf Kindergeld hatte (vgl BSGE 39, 14, 18). Die Beklagte darf durch einen neuen Verwaltungsakt die Rechtsposition, die die Klägerin infolge der Bindungswirkung erlangt, nicht verschlechtern (BSGE 46, 236, 237). Eine Ablehnung des Zuschlags zum Kindergeld nach § 11a BKGG unter Hinweis auf das Fehlen des Kindergeldanspruchs kommt deshalb nicht in Betracht. Der Senat darf daher auch nicht prüfen, ob seinerzeit tatsächlich die Voraussetzungen für die Bewilligung des Kindergeldes vorgelegen haben.

Der geltend gemachte Anspruch könnte aber scheitern, wenn der Klägerin für ihre Tochter T. ein Kinderfreibetrag im Jahre 1986 nicht zugestanden haben sollte. Kinderfreibeträge werden den Steuerpflichtigen nämlich nur für zu berücksichtigende Kinder eingeräumt (§ 32 Abs 6 Satz 1 EStG). Das sind nur solche Kinder, die unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind. Diese Voraussetzung ist nur erfüllt, wenn die Kinder im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 1 Abs 1 Satz 1 EStG). Unter Berücksichtigung der Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, hatte die Tochter der Klägerin im streitigen Zeitraum weder ihren gewöhnlichen Aufenthalt noch ihren Wohnsitz im Inland.

Die Frage, wo jemand im Sinne des Steuerrechts des Bundes seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, richtet sich nach § 8 und § 9 der Abgabenordnung vom 16. März 1976 (-AO 1977- BGBl I, 613; vgl § 1 AO 1977). Die Annahme, daß T. ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des EStG in der hier fraglichen Zeit gehabt habe, scheitert bereits daran, daß sie keine Wohnung im Bundesgebiet innehatte. T. hielt sich aber auch nicht gewöhnlich hier auf. Nach § 9 Satz 1 AO 1977 hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes ist stets und vom Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als 6 Monaten Dauer anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt (§ 9 Satz 2 AO 1977). Satz 2 gilt nicht, wenn der Aufenthalt ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs-, Kur- oder ähnlichen privaten Zwecken genommen wird und nicht länger als ein Jahr dauert (§ 9 Satz 3 AO 1977). Das LSG ist aufgrund der bindend festgestellten Tatsachen zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß T. 1986 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland gehabt hat.

Der Klägerin könnte deshalb der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs 6 EStG nur zustehen, wenn sie über Art 73 Abs 1 und Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 sowohl sozialrechtlich als auch steuerrechtlich so zu stellen wäre, als ob ihre Tochter T. im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wohnte. Dann hätte auch ihr Kind als uneingeschränkt einkommensteuerpflichtig zu gelten (§ 1 Abs 1 Satz 1 EStG) und der Klägerin, die im übrigen die weiteren Voraussetzungen des § 11a BKGG für den begehrten Zuschlag für das Jahr 1986 erfüllt, stände für ihre Tochter gemäß § 32 Abs 6 Satz 1 EStG ein Kinderfreibetrag zu.

Für die Anwendung der Wohnsitzfiktion des Art 73 Abs 1 und des Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 auch auf die steuerrechtlichen Voraussetzungen des § 11a BKGG spricht, daß es sich auch beim Zuschlag zum Kindergeld um eine Familienleistung handelt. Der Zuschlag ist lediglich ein Erhöhungsbetrag zum Kindergeld. Allerdings wird dieser Zuschlag als eine Leistung gewährt, die von einem gesonderten Antrag und zusätzlichen Voraussetzungen zu denjenigen des Kindergeldanspruchs nach §§ 1 f BKGG abhängig ist. Die Nichtanwendung hätte zur Folge, daß die Klägerin keinen Zuschlag zum Kindergeld erhielte, obwohl sie die steuerrechtlichen Vorteile nicht hat, die zum Ausschluß der Leistung führen. Trotz der sozialrechtlichen Wohnsitzfiktion könnten die Voraussetzungen des § 11a BKGG bei dauerndem Aufenthalt eines Kindes in einem anderen EG-Staat nie erfüllt werden.

Gegen die Anwendung der Wohnsitzfiktion des Art 73 Abs 1 und des Art 74 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 läßt sich allerdings einwenden, daß § 11a BKGG den Zuschlag an bestimmte steuerrechtliche Voraussetzungen knüpft, die tatsächlich vorliegen müssen und nicht fingiert werden können, um - jedenfalls im Steuerrecht - zu einer gerechten Lösung zu kommen. Insoweit sind die von der Beklagten im Revisionsverfahren vorgetragenen Bedenken aus steuerrechtlicher Sicht nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Denn wenn das Kind - wie die Beklagte hervorhebt - eigene Einkünfte hat, führt der Familienlastenausgleich über Kinderfreibeträge nur zu einem im Sinne steuerrechtlicher Gleichbehandlung richtigen Ergebnis, wenn auch die Einkünfte des Kindes versteuert werden. Man kann sich demgegenüber aber auch auf den Standpunkt stellen, daß im Interesse einer Gleichbehandlung von ausländischen und inländischen Arbeitnehmern Ungereimtheiten hingenommen werden müssen, wenn der nationale Gesetzgeber Familienleistungen zum Teil von steuerrechtlichen Voraussetzungen abhängig macht, die im Ausland lebende Kinder nicht erfüllen können.

Der vorliegende Fall wirft damit bei der Anwendung des § 11a BKGG die oben herausgestellte Frage auf, die sich nicht zweifelsfrei beantworten läßt und den Senat deshalb zwingt, sie dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl BSGE 43, 255, 268).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665740

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge