Entscheidungsstichwort (Thema)
Multilaterale Betrachtung unter Einbeziehung von Abkommenszeiten bei der Anrechnung von Ausfallzeiten
Orientierungssatz
Läßt die EWGV 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, vom 14.6.1971 es zu, daß der deutsche Versicherungsträger bei der Entscheidung über die Anrechnung von Ausfallzeiten den nach den deutschen Rechtsvorschriften entrichteten Pflichtbeiträgen und dem Eintritt in die deutsche Versicherung nicht nur die in anderen Mitgliedstaaten entrichteten Pflichtbeiträge und den Eintritt in die Versicherung anderer Mitgliedstaaten, sondern außerdem die Pflichtbeiträge und den Versicherungseintritt in einem Drittstaat (hier: Polen) gleichstellt, mit dem die Bundesrepublik Deutschland ein Abkommen über die gegenseitige Gleichstellung von Versicherungszeiten geschlossen hat?
Normenkette
EWGV 1408/71 Anh 5 Abschn. C Nr. 2a; AVG § 36 Abs. 3; RVO § 1259 Abs. 3; EWGV 1408/71 Art. 1 Buchst. j, k, Art. 45 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Reutlingen (Entscheidung vom 10.02.1982; Aktenzeichen S 2 An 923/80) |
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.12.1984; Aktenzeichen L 6 An 2313/84) |
Tatbestand
Streit besteht darüber, ob der Kläger mit deutschen, niederländischen und polnischen Versicherungszeiten (Pflichtbeiträgen) die Voraussetzung der Halbbelegung für die Anrechnung von Ausfallzeiten (§ 36 Abs 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG-) erfüllen kann.
Der 1910 in Polen geborene Kläger stand von 1926 bis 1935 in weiterer Schul- sowie Hochschulausbildung iS des § 36 Abs 1 Nr 4 AVG. Danach hat er Beitragszeiten in der polnischen Rentenversicherung zurückgelegt und befand sich von 1939 bis Kriegsende in deutscher Kriegsgefangenschaft. Von 1948 bis 1952 war er in den Niederlanden versicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem lebt er in der Bundesrepublik Deutschland, wo er Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten entrichtete. Seit 1961 ist er deutscher Staatsangehöriger.
Das Altersruhegeld des Klägers hat die Beklagte in mehreren Bescheiden berechnet. In den ersten Bescheiden berücksichtigte sie neben den innerstaatlichen deutschen Vorschriften auch das EWG-Recht; dabei rechnete sie die Schul- und Hochschulzeiten zunächst nicht an, hielt jedoch später bei Einbeziehung der niederländischen Zeiten (Pflichtbeiträge) die Halbbelegung für die Anrechnung als Ausfallzeiten für erfüllt. Nach der Ratifizierung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (DPSVA) vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976, 396) stellte sie im Bescheid vom 9. Januar 1978 eine andere Rentenberechnung an, in der sie neben den innerstaatlichen deutschen Vorschriften diesmal das DPSVA berücksichtigte. Dabei rechnete sie zunächst weiterhin die Ausfallzeiten an, bezeichnete dies während des folgenden Widerspruchsverfahrens jedoch in der "Mitteilung über Neuberechnung der Rente" vom 4. Juli 1978 als Fehler. Bei Einbeziehung der polnischen Abkommenszeiten sei die Halbbelegung nicht erfüllt; eine multilaterale Zusammenrechnung der deutschen, niederländischen und polnischen Zeiten (Beiträge) sei in leistungsrechtlicher Hinsicht grundsätzlich nicht zulässig. Obgleich statt 1.315,40 DM nur 1.125,60 DM monatlich an Rente zustünden, werde der höhere Betrag aus Besitzstandsgründen weitergezahlt, allerdings erst dann erhöht, wenn künftige richtige Berechnungen einen höheren Betrag ergäben. Diese Erklärung wiederholte sie im Neufeststellungsbescheid vom 29. August 1979 (berichtigt durch Bescheid vom 2. Oktober 1979), der 1.203,50 DM als an sich zustehende Rente bezeichnete und eine Änderung nach den Vorschriften des 21. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) für Bezugszeiten ab 1. Januar 1979 ablehnte. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1980).
Auf die Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 10. Februar 1982 die Bescheide vom 4. Juli 1978 und 29. August 1979 abgeändert und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers die Beklagte - statt zur Neubescheidung - zur Gewährung höheren Altersruhegeldes unter zusätzlicher Berücksichtigung der Schul- und Hochschulzeiten als Ausfallzeiten verurteilt (Urteil vom 18. Dezember 1984). Es sieht in der "Mitteilung" vom 4. Juli 1978 einen Verwaltungsakt, mit dem die Beklagte die Anrechnung der Ausfallzeiten im Bescheid vom 9. Januar 1978 zurückgenommen habe. Diese Rücknahme sei rechtswidrig, weil bei der Prüfung der Halbbelegung außer den deutschen auch die polnischen und die niederländischen Zeiten (Beiträge) heranzuziehen seien. Ihrer Zusammenrechnung stehe nicht entgegen, daß die Zeiten auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhten. Bestimme der deutsche Gesetzgeber, daß auch Versicherungszeiten außerhalb Deutschlands zu berücksichtigen seien, so stelle er diese den deutschen Zeiten gleich. Dasselbe könne durch höherrangiges EWG-Recht geschehen. Das DPSVA mache in keiner Bestimmung eine Zusammenrechnung davon abhängig, daß allein die bilaterale Zusammenrechnung die Halbbelegung erfülle. Das Ergebnis entspreche dem Zweck der zwischenstaatlichen und übernationalen Regelungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung, die Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer abzusichern (Hinweis auf den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 29. Mai 1984, BSGE 57, 23). Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 10. März 1977 (SozR 6040 Art 28 Nr 7) stehe nicht entgegen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, der Große Senat des BSG habe über eine multilaterale Zusammenrechnung bei Ermittlung der Rentenhöhe ausdrücklich nicht entschieden. Das Urteil des LSG habe sich nicht mit den unterschiedlichen Prinzipien des DPSVA und des EWG-Rechts sowie mit Art 3b des Abkommens auseinandergesetzt. Das DPSVA enthalte keine Regelung, daß für die Halbbelegung Versicherungszeiten aus einem EWG-Mitgliedstaat zu berücksichtigen seien; eine solche Regelung könne also auch nicht durch Ratifikation in das innerstaatliche Recht eingegangen sein. Ebensowenig lasse das EWG-Recht bei einem Rentenanspruch unter Berücksichtigung des DPSVA eine multilaterale Zusammenrechnung zu.
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
1. Der Senat hat beschlossen, gemäß § 177 Abs 1 Buchst b und Abs 3 des EWG-Vertrages vom 25. März 1957 den EuGH zur Vorabentscheidung über die im Tenor des Beschlusses bezeichnete Frage anzurufen. Dabei ist er davon ausgegangen, daß eine Anrufungspflicht gegeben ist, wenn vernünftige Zweifel im Hinblick auf die Antwort bestehen (s Urteil des EuGH vom 6. Oktober 1982, Slg 1982, 3415). Das ist hier der Fall.
2. Die Entscheidung über die Revision der Beklagten hängt von der Antwort auf die Rechtsfrage ab. Da der EuGH eine vom vorlegenden Gericht bejahte Rechtserheblichkeit der Vorlagefrage grundsätzlich nicht nachprüft, beschränkt der Senat die Begründung des Beschlusses insoweit auf die folgenden Ausführungen:
Über das Begehren des Klägers auf Gewährung höheren Altersruhegeldes unter Anrechnung der Ausbildungsausfallzeiten ist sachlich zu entscheiden. Die erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Satz 1 und Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes) ist jedenfalls insoweit zulässig, als sie sich gegen den Neufeststellungsbescheid vom 29. August 1979 richtet, mit dem die Beklagte eine Rentenerhöhung aufgrund des 21. RAG für Bezugszeiten ab 1. Januar 1979 abgelehnt hat; bei weiterer Anrechnung der Ausbildungsausfallzeiten hätte die Rente ab diesem Zeitpunkt erhöht werden müssen.
Die sachliche Beurteilung ist unabhängig von den Vorschriften über die Rücknahme von Verwaltungsakten, da die frühere Anrechnung der Ausbildungsausfallzeiten nur zur Begründung der früheren Verwaltungsakte gehört hat. Maßgebend ist deshalb allein, ob die Voraussetzungen des § 36 AVG erfüllt sind.
Die Schul- und Hochschulzeiten, um deren Anrechnung es geht, erfüllen den Tatbestand der Ausbildungsausfallzeiten iS des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG; das innerstaatliche Recht macht hier keinen Unterschied, ob die Schul- und Hochschulzeiten im Inland oder im Ausland zurückgelegt sind (BSGE 56, 36).
Für die Anrechnung von Ausfallzeiten muß nach § 36 Abs 3 AVG jedoch außerdem die sog Halbbelegung vorhanden sein. Nach dessen Satz 1 werden Ausfallzeiten nach Abs 1 nur angerechnet, wenn die Zeit vom Kalendermonat des Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, mindestens zur Hälfte, jedoch nicht unter sechzig Monaten, mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist; dabei verkürzt sich der halb zu belegende Zeitraum gemäß Satz 2 um die nach dem Versicherungseintritt liegenden Ersatzzeiten, Ausfallzeiten nach Abs 1 Nrn 1 bis 4, die gesamte pauschale Ausfallzeit nach Art 2 § 14 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz und Rentenbezugszeiten.
Insoweit wirkt sich Art 4 Abs 2 DPSVA mehrfach aus. Nach dieser Bestimmung berücksichtigt der Versicherungsträger des Staates, in dem der Kläger wohnt (hier: die Beklagte), bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften Versicherungszeiten, Beschäftigungs- und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat (hier: Polen) so, als ob sie im Gebiet des Wohnstaates zurückgelegt worden wären. Hieraus folgt, daß mit Rücksicht auf die polnischen Versicherungszeiten des Klägers der März 1937 als Kalendermonat des Versicherungseintritts zu gelten hat, daß die Zeiten der Kriegsgefangenschaft des Klägers als polnische gleichgestellte Zeiten im Rahmen des § 36 Abs 3 AVG wie Ersatzzeiten vom halb zu belegenden Zeitraum abzuziehen sind und schließlich, daß die Pflichtversicherungszeiten in Polen auch im Rahmen des § 36 Abs 3 AVG als mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung belegte Zeiten zu gelten haben.
Ausgehend hiervon hat das LSG bei weiterem Abzug der pauschalen Ausfallzeit (s hierzu BSGE 33, 188) zutreffend festgestellt, daß zum Erreichen der Halbbelegung von 368 Monaten zwischen Versicherungsbeginn und Versicherungsfall mindestens 184 mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sein müßten, daß der Kläger aber mit den innerdeutschen Pflichtbeiträgen für 113 Monate und den polnischen Pflichtbeiträgen für 28 Monate unter dieser Zahl bleibt.
Der Kläger würde darum die Halbbelegung nur erreichen können, wenn seine Pflichtversicherungszeit in den Niederlanden, die 51 Monate umfaßt, bei Prüfung der Halbbelegung ebenfalls als mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung belegte Monate berücksichtigt würde. Ansatzpunkt hierfür kann nur die Sonderbestimmung im Anhang V bzw VI (idF der Verordnung Nr 1660/85) der EWGV 1408/71, Abschn C (Deutschland), Nr 2a sein. Nach deren Abs 1 Satz 1 stehen für die Entscheidung über die Anrechnung deutscher Ausfallzeiten die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates entrichteten Pflichtbeiträge und der Eintritt in die Versicherung eines anderen Mitgliedstaates den Pflichtbeiträgen nach den deutschen Rechtsvorschriften und dem Eintritt in die deutsche Rentenversicherung gleich. Nach Abs 2 verkürzt sich der halb zu belegende Zeitraum um die in diese Zeit fallenden gleichgestellten und Rentenbezugszeiten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates. Da der Versicherungseintritt in den Niederlanden erst 1948 erfolgte und der Kläger dort vor dem Versicherungsfall weder gleichgestellte noch Rentenbezugszeiten zurückgelegt hat, kommt es darauf an, ob aufgrund dieser Sondervorschrift die in den Niederlanden mit Pflichtbeiträgen belegten Monate hier mit berücksichtigt werden dürfen.
3. Dazu bedarf es - und zwar immer noch für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage - weiterer Überlegungen, die sich mit den Stichworten "bilateral" und "multilateral" verbinden lassen. Die Beklagte meint, daß aufgrund des DPSVA und des EWG-Rechts zwei verschiedene Rentenfeststellungen stattfinden müßten, deren Rechtsgrundlage im einen Fall allein die innerstaatlichen Vorschriften und das EWG-Recht seien; sie hält jede Vermengung für unzulässig. Demgegenüber muß den Urteilen der Vorinstanzen die Auffassung zugrunde liegen, daß eine einheitliche Feststellung geboten sei; die "Zusammenrechnung von Versicherungszeiten" im Rahmen des § 36 Abs 3 AVG wird offenbar nur als eine Auswirkung der gebotenen einheitlichen Feststellung verstanden.
Antworten auf die Frage, ob die Rentenfeststellung hier getrennt oder - zumindestens letztlich - einheitlich zu erfolgen hat, wären im innerstaatlichen Recht, im DPSVA oder im EWG-Recht zu suchen. Soweit es sich um das innerstaatliche Recht handelt, findet sich jedoch dort keine Vorschrift, die hierüber etwas bestimmt. Die Beklagte entnimmt offenbar dem innerstaatlichen Recht, daß von den getrennt ermittelten Renten nur die höhere zu zahlen sei; auf eine innerstaatliche Vorschrift kann sie sich dabei nicht stützen.
In seiner Entscheidung BSGE 57, 23 hat der Große Senat des BSG jedoch zu Versicherungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Österreich, Jugoslawien und der Türkei entschieden, daß (bei Versicherungsfällen vor dem 1. Juli 1982) der deutsche Versicherungsträger für die Erfüllung der Wartezeit außer den deutschen alle Versicherungszeiten in diesen Staaten zu berücksichtigen hat. Die dortigen Versicherungszeiten seien durch die - Dritte begünstigenden - Bestimmungen der Abkommen und die Vertragsgesetze den deutschen Versicherungszeiten in der Anrechnungsfähigkeit auf die Wartezeit gleichgestellt worden; es bestehe deshalb ein innerstaatlicher Rechtsanspruch auf die Zusammenrechnung bei einer einheitlichen und abschließenden Gesamtentscheidung.
Bei seiner Entscheidung hat der Große Senat allerdings ungeprüft gelassen, "ob etwa nach der multilateralen Zusammenrechnung weitere Rechtsfragen, etwa für die Bestimmung der Rentenhöhe, zu beantworten wären" (aaO S 33). Im vorliegenden Fall geht es demgegenüber um die Rentenhöhe; ein weiterer Unterschied besteht darin, daß bei der komplexen Gestaltung des § 36 Abs3 AVG das Problem nicht auf die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten zu begrenzen ist; außerdem kommen hier nicht nur Begünstigungen von Versicherten in Betracht, weil zB durch Vorverlegen des Versicherungseintritts aufgrund fremder Versicherungszeiten eine Halbbelegung auch verlorengehen kann.
Gleichwohl meint der Senat im Anschluß an den Großen Senat, daß dem innerstaatlichen Recht als ungeschriebene Regelung ein grundsätzliches Gebot zur Gesamtbetrachtung aller rentenrechtlich relevanten Umstände und einheitlichen Rentenfeststellung entnommen werden muß. Deshalb kommt es weiter darauf an, ob abweichend hiervon das DPSVA oder das EWG-Recht zu getrennten Rentenfeststellungen zwingen, wie sie die Beklagte praktiziert hat.
4. Für das DPSVA verneint dies der Senat. Aus dem Wortlaut, der bei internationalen Abkommen in erster Linie maßgebend ist, läßt sich eine Verpflichtung des deutschen Rentenversicherungsträgers, Renten nur auf der Grundlage der innerstaatlichen Vorschriften und des DPSVA gesondert zu berechnen, nicht herzuleiten. Die wesentliche Wirkung des Abkommens liegt gemäß seinem Art 4 Abs 2 darin, daß der Versicherungsträger des Wohnstaates die Versicherungs-, Beschäftigungs- und gleichgestellten Zeiten im anderen Staat so berücksichtigt, als ob sie im Gebiet des Wohnstaates zurückgelegt worden wären. Wenn dort schon andere Zeiten zu berücksichtigen sind, bedeutet dies, daß die Abkommenszeiten ohne Einschränkung zu diesen hinzutreten. Das entspricht den von deutscher Seite mit dem Abkommen verfolgten Zwecken. Es sollte zwar nicht die Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern sichern, die Berechtigten jedoch mit den "polnischen Zeiten" in die deutsche Rentenversicherung eingliedern. Die Eingliederung wäre unvollständig, wenn die "polnischen Zeiten" nicht mit grundsätzlich allen vom deutschen Versicherungsträger zu berücksichtigenden Zeiten verbunden würden. Zu Unrecht beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf Art 3 Buchst b des Abkommens. In Art 3 heißt es: "Dieses Abkommen berührt nicht a) Abkommen eines Staates, die mit dritten Staaten geschlossen worden sind, b) Bestimmungen, die von einer zwischenstaatlichen Einrichtung erlassen sind, deren Mitglied der Staat ist, c) ...", wobei unter b) das EWG-Recht fällt. Auch der deutsche Gesetzgeber bestimmt wiederholt, daß eine Vorschrift eine andere "nicht berührt" (vgl § 13 Abs 3 Satz 2 AVG; § 48 Abs 2, Halbsatz 2 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -). Damit soll gesagt werden, daß die eine Regelung an den Voraussetzungen und Wirkungen der anderen Regelung nichts ändert, diese vielmehr unangetastet läßt. Wenn also das EWG-Recht eine "multilaterale" Betrachtung unter Einbeziehung von Abkommenszeiten nach dem DPSVA zuließe, könnte dessen Art 3 b) das nicht verhindern. Die Beklagte macht geltend, durch Art 3 b) habe das Konkurrenzverhältnis zum EWG-Recht gelöst und diesem Vorrang eingeräumt werden sollen. Dazu heißt es in der Denkschrift zum Abkommen (BT-Drucks 7/4310): "Um das Konkurrenzverhältnis zu Sozialversicherungsabkommen mit anderen Staaten zu lösen, die durch das Leistungsexportprinzip Verpflichtungen zur Zahlung von Renten in Drittstaaten enthalten ..." werde bei Anwendung des Art 3 der Vorrang (ua) den in a) genannten Abkommen und den in b) genannten Bestimmungen des EWG-Rechts eingeräumt. Auch aus diesen Ausführungen läßt sich kein überzeugender Beleg für die Meinung gewinnen, der deutsche Versicherungsträger müsse aufgrund des DPSVA bei Berechtigten, die in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, isolierte Rentenfeststellungen allein unter Berücksichtigung der innerstaatlichen Vorschriften und des DPSVA vornehmen. Bei diesen Berechtigten geht es nicht um einen Leistungsexport in andere Staaten; davon abgesehen hat die Beklagte aber bei ihren hier streitigen Rentenbescheiden nicht dem EWG-Recht, sondern dem DPSVA den Vorrang eingeräumt, da sie dem Kläger die unter Mitberücksichtigung des DPSVA berechnete Rente zahlt.
5. Nach alledem ist die verbleibende Frage zu beantworten, ob das EWG-Recht, dh die EWGV Nr 1408/71, es zuläßt oder ausschließt, daß der deutsche Versicherungsträger auf einer gemeinsamen Grundlage des innerstaatlichen Rechts, des DPSVA und der EWGV Nr 1408/71 eine einheitliche Rentenfeststellung trifft, im besonderen, ob er bei der Entscheidung über die Anrechnung von Ausfallzeiten dabei deutsche, polnische und niederländische Pflichtbeitragszeiten zusammenrechnen darf. Die Frage ist aus dem Wortlaut der Sondervorschrift im Anhang V bzw VI, Abschn C (Deutschland), Nr 2a EWGV Nr 1408/71 allein nicht zu beantworten. Die Vorschrift stellt (ua) den Pflichtbeiträgen nach den deutschen Rechtsvorschriften die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates entrichteten Pflichtbeiträge gleich; sie sagt nichts darüber aus, ob der deutsche Versicherungsträger im Zusammenhang damit weitere Gleichstellungen vornehmen darf. Zu den "Pflichtbeiträgen nach den deutschen Rechtsvorschriften" iS der Anhangsvorschrift dürften nicht schon von vornherein auch die aufgrund des DPSVA zu berücksichtigenden Pflichtbeiträge gehören, weil die Begriffsbestimmungen in Art 1 Buchst j und k der EWGV Nr 1408/71 zwischen "Rechtsvorschriften" als den Gesetzen der Mitgliedstaaten und "Abkommen über soziale Sicherheit" unterscheiden, wobei nach der Definition der letzteren das DPSVA hiervon nicht erfaßt sein kann.
Da die Anrechnung von Ausfallzeiten nur ein Teil der Rentenfeststellung ist, muß der Blick über die Anhangsvorschrift hinaus auf die allgemeinen Vorschriften der Art 44ff EWGV Nr 1408/71 gerichtet werden. Sie sehen in Art 45 Abs 1 (ua) vor, daß der zuständige Träger eines Mitgliedstaates Versicherungszeiten in anderen Mitgliedstaaten berücksichtigt, soweit dies für den Erwerb des Leistungsanspruchs erforderlich ist. Für das deutsche Altersruhegeld des Klägers war das nicht erforderlich (möglicherweise aber für die niederländische Teilrente). Für einen solchen Fall ist in Art 46 Abs 1 Satz 1 angeordnet, daß der zuständige Träger den Leistungsbetrag nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften bestimmt. Er hat gemäß Satz 2 allerdings vergleichsweise auch eine Berechnung nach Abs 2 vorzunehmen, bei der unter Einbeziehung aller in den Mitgliedstaaten relevanten Zeiten zunächst ein theoretischer Betrag und dann nach dem Verhältnis der eigenen Zeiten zu den Gesamtzeiten ein tatsächlich geschuldeter Betrag ermittelt wird. Im vorliegenden Fall war dieser höher als der nach Abs 1 Satz 1 errechnete und daher von der Beklagten nach Abs 3 Satz 3 zugrunde zu legen. Indessen ist auch in diesen Vorschriften immer nur darauf abgestellt, ob die Zeiten nach den "Rechtsvorschriften" der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind, so daß hier ebenfalls die Begriffsbestimmungen in Art 1 maßgebend sind.
Jedenfalls fehlt somit in der EWGV Nr 1408/71 eine Bestimmung, die auf die vorgelegte Frage eine klare Antwort gibt. Die Frage ist, soweit der Senat ersehen kann, bisher vom EuGH nicht entschieden worden. In der Entscheidung vom 10. März 1977 (SozR 6040 Art 28 Nr 7) hat der EuGH es durch die Bestimmungen der EWG-Verordnungen Nrn 3 und 4 nicht für ausgeschlossen erachtet, daß der Träger eines Mitgliedstaates bei der Feststellung des theoretischen Betrages eine innerstaatliche Vorschrift anwendet, die eine Kürzung um eine außerhalb der Gemeinschaft bezogene Leistung erlaubt. In der Begründung heißt es ua, das EWG-Recht erfasse nur die nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten; es befasse sich nicht mit Versicherungszeiten in einem Nichtmitgliedstaat, ob dieser mit einem Mitgliedstaat ein Abkommen geschlossen habe oder nicht. Die Begründung läßt offen, ob das EWG-Recht es ausschließt, daß der Versicherungsträger eines Mitgliedstaates in einer einheitlichen Rentenfeststellung neben den EWG-Zeiten auch noch Zeiten berücksichtigt, die durch ein Abkommen dieses Mitgliedstaates mit einem Nichtmitgliedstaat den eigenen Zeiten gleichgestellt sind.Dies war auch nicht Gegenstand der Entscheidung vom 16. November 1972 (SozR Nr 5 zu Art 2 EWG-VO Nr 3) gewesen; dort wurde entschieden, daß der Versicherungsträger eines Mitgliedstaates Versicherungszeiten in einem Nichtmitgliedstaat nicht aufgrund eines Abkommens eines anderen Mitgliedstaates mit dem Nichtmitgliedstaat berücksichtigen muß.
Zur Begründung ihrer Auffassung, daß das EWG-Recht eine isolierte Rentenfeststellung gebiete, hat die Beklagte geltend gemacht, daß dieses sich als ein einheitlicher Regelungskomplex darstelle. Letzteres dürften die Regelungen der Rentenfeststellung der EWGV Nr 1408/71 bestätigen. Diese sind auf die - zu koordinierenden - Verhältnisse in den Mitgliedstaaten ausgerichtet und auf den EWG-Bereich beschränkt. Ebenso ist das Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer als Freizügigkeit im EWG-Raum gewollt. Das könnte dafür sprechen, Rentenfeststellungen innerhalb der EWG auf der Grundlage innerstaatlichen und EWG-Rechts von sonstigen Rentenfeststellungen zu trennen. Dem ließe sich jedoch entgegenhalten, daß wahrscheinlich nur der einzelne Mitgliedstaat belastet würde, wenn bei der Ermittlung seines "theoretischen Betrages" (Art 46 Abs 2) zusätzlich die Zeiten berücksichtigt werden, die dieser Mitgliedstaat durch ein Abkommen mit einem Nichtmitgliedstaat seinen eigenen Zeiten gleichgestellt hat; er würde damit wohl seine Quote bei der Ermittlung des tatsächlich geschuldeten Betrages erhöhen und andere Mitgliedstaaten nicht belasten, sondern eher entlasten. Allerdings vermag der Senat insoweit nicht alle in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft möglichen Fallgestaltungen zu überblicken.
Der Senat ist daher zu dem Schluß gekommen, daß an der Beantwortung der vorgelegten Rechtsfrage vernünftige Zweifel bestehen, so daß sie vom EuGH zu entscheiden ist.
Fundstellen