Orientierungssatz
Ist ein in Italien wohnender Italiener, der zu keiner Zeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder Berlin-West gewohnt oder gearbeitet hat, nach EWG-V 3 Art 8 und EWG-V 1408/71 Art 3 Abs 1 bei der Anwendung des RKG § 108c einem deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt, soweit es sich um Versicherungszeiten handelt, die vor 1945 außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland oder Berlin-West nach Reichsrecht bei der Reichsknappschaft zurückgelegt worden sind?
Normenkette
EWGV 3 Art. 8 Fassung: 1958-09-25; EWGV 1408/71 Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1971-06-14; RKG § 108c Abs. 1; RVO § 1321 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Das Verfahren wird bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ausgesetzt.
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird nach Art. 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angerufen, vorab über folgende Frage zu entscheiden:
Ist ein in Italien wohnender Italiener, der zu keiner Zeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder Berlin-West gewohnt oder gearbeitet hat, nach Art. 8 der Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei der Anwendung des § 108 c des Reichsknappschaftsgesetzes einem deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt, soweit es sich um Versicherungszeiten handelt, die vor 1945 außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland oder Berlin-West nach Reichsrecht bei der Reichsknappschaft zurückgelegt worden sind?
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger aufgrund der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einen Anspruch auf Auszahlung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit hat.
Der Kläger, ein in Italien lebender italienischer Staatsbürger, war in der Zeit vom 1. Juni 1942 bis zum 1. Juli 1943 im sudetendeutschen Bergbau versicherungspflichtig beschäftigt. Aus den in seinem Heimatland zurückgelegten Versicherungszeiten bezieht er seit 1958 vom italienischen Versicherungsträger eine Invaliditätsrente. Auf den Rentenantrag des Klägers vom 31. Januar 1970 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 31. August 1972 die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Februar 1970 an fest; sie zahlte diese Rente aber nicht aus, weil sie nach den §§ 105 ff des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ruhe.
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat angenommen, die Rente ruhe nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 RKG, solange der Kläger sich außerhalb des Geltungsbereiches RKG aufhalte. Der Anwendung der deutschen Ruhensvorschriften stehe auch kein supranationales Recht entgegen. Zwar verböten Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 das Ruhen von Rentenleistungen, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Dieser Grundsatz gelte jedoch nicht uneingeschränkt. Er stehe vielmehr unter dem Vorbehalt, daß in der jeweiligen Verordnung nichts anderes bestimmt sei. Eine solche anderweitige Bestimmung träfen aber die zu Bestandteilen der Verordnungen erhobenen Anhangsvorschriften G I A 2, EWG-Verordnung Nr. 3 und V C 1 b, EWG-Verordnung Nr. 1408/71, denen zufolge die jeweiligen Art. 10 nicht die deutschen Rechtsvorschriften berühren, nach denen aus Zeiten, die außerhalb des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt sind, Leistungen an Berechtigte nicht gezahlt worden sind. Diese Sonderregelung widerspreche auch nicht den Artikeln 48 ff des EWG-Vertrages. Das darin postulierte Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft bezwecke lediglich die Abschaffung jeder auf Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen, umfasse aber nicht die sozialversicherungsrechtliche Behandlung von Versicherten, die - wie der Kläger - bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden seien. Die Sondervorschriften der Anhänge, die die Anwendung der deutschen Ruhensbestimmungen gestatten, stellten nicht einen unzulässigen Ausschluß eigener Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland dar, sie beinhalteten vielmehr die begrenzte Übernahme fremder Verpflichtungen. Die Nichtzahlung des deutschen Rentenanteils an den Kläger beruhe nicht auf einer staatsangehörigkeitsbedingten Diskriminierung, denn ein im Ausland wohnender deutscher Versicherter würde unter denselben Bedingungen ebenfalls keine Leistungen erhalten. Eine Pflicht zur Bevorzugung eines ausländischen Rentenbewerbers mit Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland gegenüber einem deutschen Berechtigten lasse sich aber aus Art. 51 des EWG-Vertrages nicht herleiten. Das Klagebegehren rechtfertige sich schließlich auch nicht aus § 108 c Abs. 1 RKG in Verbindung mit Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71. Zwar stehe es im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten, an gewöhnlich im Ausland lebende Deutsche unter bestimmten Voraussetzungen auch dann eine Rente zu zahlen, wenn die Erfordernisse des § 108 RKG nicht vorliegen. Darauf könne sich der Kläger aber nicht mit Erfolg berufen, denn abgesehen davon, daß es in seinem Falle an einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung der Beklagten fehle, komme eine Kannleistung in diesem Sinne nicht in Betracht, weil sie gemäß § 108 c Abs. 4 RKG nicht als eine Leistung der sozialen Sicherheit gelte. Die in den EWG-Bestimmungen angeordnete Gleichstellung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates ansässigen Personen beziehe sich aber ebenso wie Art. 51 des EWG-Vertrages lediglich auf die die soziale Sicherheit betreffenden Vorschriften.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, daß die in den Anhangsbestimmungen der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 enthaltene Einschränkung des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung aufgestellten Grundsatzes der Freizügigkeit hinsichtlich des Wohnsitzes mit Art. 48 ff des EWG-Vertrages unvereinbar sei. Die Auszahlung der Rente werde dem Kläger letztlich mit der Begründung versagt, daß er seinen derzeitigen Wohnsitz nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in einem anderen Vertragsstaat habe. Das widerspreche der durch Art. 51 des EWG-Vertrages garantierten Freizügigkeit. Im übrigen führe die angefochtene Entscheidung zu einer Diskriminierung ausländischer Staatsangehöriger. Im Gegensatz zu den deutschen Staatsangehörigen sei es für sie unzumutbar, zur Vermeidung der Ruhensbestimmungen ihren Lebensabend in der Bundesrepublik Deutschland zu verbringen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Urteile sowie unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auszuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
II
Der erkennende Senat sieht sich durch Art. 177 des EWG-Vertrages gehindert, eine abschließende Entscheidung zu treffen. Eine solche Entscheidung setzt die Auslegung von Vorschriften des EWG-Vertrages (Art. 51) und der EWG-Verordnungen Nr. 3 (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 8) und Nr. 1408/71 (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) voraus, die dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorbehalten ist.
Der erkennende Senat ist davon ausgegangen, daß die von der Beklagten festgestellte Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit des Klägers zwar nicht nach § 105 RKG (= § 1315 RVO) ruht, weil der Kläger nach Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 hinsichtlich der Anwendung der Ruhensvorschriften wie ein deutscher Staatsangehöriger zu behandeln ist. Da aber auch die Rente eines deutschen Staatsangehörigen nach den §§ 107 RKG für die Dauer des gewöhnlichen Auslandsaufenthalts ruht, soweit sie auf Versicherungszeiten entfällt, die außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zurückgelegt sind, ruht auch die Knappschaftsrente des Klägers. Wie sich aus Anhang G I A 2 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Anhang V C 1 b der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 ergibt, stehen die jeweiligen Art. 10 dieser Verordnungen dem Ruhen solcher Rententeile nicht entgegen, die auf Versicherungszeiten entfallen, die außerhalb des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zurückgelegt worden sind (vgl. BSGE 15, 29, 34). Das wird auch durch Art. 51 des EWG-Vertrages nicht ausgeschlossen. Da der Kläger nach § 108 e RKG (= § 1323 RVO) keine Versicherungszeiten in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zurückgelegt, sondern lediglich außerhalb dieses Gebietes Beiträge zur früheren Reichsknappschaft entrichtet hat, die nach § 50 Abs. 2 RKG (= § 1250 Abs. 1 RVO) auf die Wartezeit anrechenbar sind, ruht seine Rente in vollem Umfange.
Nach § 108 c RKG (= § 1321 RVO) kann jedoch die ruhende Rente für Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und frühere deutsche Staatsangehörige im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG auch für die Zeit des gewöhnlichen Auslandsaufenthalts gezahlt werden, soweit sie nicht auf nach dem Fremdrentengesetz gleichgestellte Zeiten und aufgrund solcher Zeiten anrechenbare Ersatz- und Ausfallzeiten entfällt. Nach dieser Vorschrift stände es im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten, die Knappschaftsrente während des Auslandsaufenthalts zu zahlen, wenn der Kläger Deutscher oder früherer Deutscher in dem genannten Sinne wäre. Für Ausländer - und damit auch für den Kläger - steht der Beklagten der Ermessensspielraum nicht zu. Fraglich ist, ob Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 die Gleichstellung des Klägers mit einem Deutschen auch insoweit bewirken. Das wäre dann der Fall, wenn es sich bei der in das Ermessen der Beklagten gestellten Leistung nach § 108 c RKG um eine Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne des Art. 51 des EWG-Vertrages und des Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der EWG-Verordnung Nr. 3 sowie des Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 handelte. Das ist insbesondere deshalb zweifelhaft, weil § 108 c Abs. 4 RKG bestimmt, daß die nach § 108 c Abs. 1 RKG in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellte Leistung nicht als Leistung der sozialen Sicherheit gilt. Diese Vorschrift des innerstaatlichen Rechts, die eine Klärung der zweifelhaften Rechtsfrage zu enthalten scheint, entbindet den Senat jedoch nicht von der Entscheidung der Frage, ob das innerstaatliche Recht insoweit mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaften in Einklang zu bringen ist. Ob das Recht der Europäischen Gemeinschaften auf bestimmte Leistungen anzuwenden ist, richtet sich nicht nach innerstaatlichem Recht, sondern nach dem sachlichen Geltungsbereich des EWG-Vertrages und der Verordnungen Nrn. 3 und 1408/71. Für die Entscheidung der Frage, ob es sich bei der in das pflichtgemäße Ermessen des Versicherungsträgers gestellten Zahlung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit um eine auf Invalidität beruhende Leistung der sozialen Sicherheit handelt, können folgende Überlegungen von Bedeutung sein:
Bei den Versicherungszeiten, auf denen die nach § 108 c RKG in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellte Leistung beruht, handelt es sich um solche Zeiten, für die der Versicherungsträger in der Bundesrepublik keine Beiträge erhalten hat, so daß es auch nicht selbstverständlich ist, daß sie von dem bundesdeutschen Versicherungsträger entschädigt werden. Nun ist zwar die Bundesknappschaft aufgrund des Errichtungsgesetzes vom 28. Juli 1969 (BGBl I, 974) Rechtsnachfolger der früheren selbständigen Knappschaften geworden, die ihrerseits Funktionsnachfolger der früheren Reichsknappschaften waren, soweit ihr räumlicher Zuständigkeitsbereich reichte (vgl. BSGE 6, 245, 250). Da der Kläger aber zu keiner Zeit in dem räumlichen Zuständigkeitsbereich einer der bundesdeutschen Knappschaften gewohnt oder gearbeitet hat, kann es zweifelhaft sein, ob hinsichtlich der Entschädigung der zur Reichsknappschaft entrichteten Beiträge die Bundesknappschaft eine originäre oder aber nur aufgrund des § 50 Abs. 2 RKG eine fremde Verpflichtung zu erfüllen hat. Wenn die Anrechenbarkeit von Beiträgen, die außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West nach Reichsrecht zurückgelegt worden sind, sich auch nicht nach dem Fremdrentengesetz richtet, so könnte für die Frage, ob es sich um die Übernahme fremder Verpflichtungen handelt, doch von Bedeutung sein, daß § 50 Abs. 2 RKG seine Fassung durch Art. 4 Nr. 1 des Fremdrentengesetzes i. d. F. des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I, 93) erhalten hat. Auf diesem Gesetz beruht auch § 108 c RKG in seiner jetzigen Fassung. Bis dahin konnten Leistungen aus Beiträgen der vorliegenden Art nur unter den Voraussetzungen des § 8 des Fremdrentengesetzes vom 7. August 1953 (BGBl I, 848) gewährt werden. Das könnte dafür sprechen, daß es sich bei der nach § 108 c RKG in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellten Leistung um eine aus fürsorgerischen Gründen übernommene Kriegsfolgenlast handelt. Andererseits ist es fraglich, ob die Motive für die Ausgestaltung der Leistung als Ermessensleistung die Annahme rechtfertigen, es handele sich nicht um eine wegen Invalidität zu gewährende Leistung der sozialen Sicherheit. Auch die nach § 108 c RKG in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellte Leistung beruht auf Versicherungsbeiträgen und setzt den Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit voraus.
Der erkennende Senat, der diese rechtliche Zweifelsfrage nicht selbst entscheiden kann, hat sie dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorgelegt und das Verfahren bis zur Vorabentscheidung ausgesetzt.
Fundstellen