Orientierungssatz
Ruhen der Rente - Auslandsaufenthalt - Freizügigkeit.
Normenkette
RKG § 105 Fassung: 1957-05-21, § 107 Fassung: 1957-05-21, § 108c Fassung: 1970-12-22; EWGV 3 Art. 8 Fassung: 1958-09-25, Art. 10 Fassung: 1958-09-25; EWGV 1408/71 Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1971-06-14, Art. 10 Fassung: 1971-06-14; EWGVtr Art. 48 Fassung: 1957-03-25, Art. 51 Fassung: 1957-03-25; RVO § 1315 Fassung: 1960-02-25, § 1317 Fassung: 1960-02-25, § 1321 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. August 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger aufgrund der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einen Anspruch auf Auszahlung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit hat.
Der Kläger, ein in Italien lebender italienischer Staatsbürger, war in der Zeit vom 1. Juni 1942 bis zum 1. Juli 1943 im sudetendeutschen Bergbau versicherungspflichtig beschäftigt. Aus den in seinem Heimatland zurückgelegten Versicherungszeiten bezieht er seit 1958 vom italienischen Versicherungsträger eine Invaliditätsrente. Auf den Rentenantrag des Klägers vom 31. Januar 1970 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 31. August 1972 die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Februar 1970 an fest; sie zahlte diese Rente aber nicht aus, weil diese nach den §§ 105 ff des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ruhe.
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat angenommen, die Rente ruhe nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 RKG, solange der Kläger sich außerhalb des Geltungsbereiches RKG aufhalte. Der Anwendung der deutschen Ruhensvorschriften stehe auch kein supranationales Recht entgegen. Zwar verböten Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 das Ruhen von Rentenleistungen, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Dieser Grundsatz gelte jedoch nicht uneingeschränkt. Er stehe vielmehr unter dem Vorbehalt, daß in der jeweiligen Verordnung nichts anderes bestimmt sei. Eine solche anderweitige Bestimmung träfen aber die zu Bestandteilen der Verordnungen erhobenen Anhangsvorschriften G I A 2, EWG-Verordnung Nr. 3 und V C 1 b, EWG-Verordnung Nr. 1408/71, denen zufolge die jeweiligen Art. 10 nicht die deutschen Rechtsvorschriften berühren, nach denen aus Zeiten, die außerhalb des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt sind, Leistungen an Berechtigte nicht gezahlt werden. Diese Sonderregelung widerspreche auch nicht den Artikeln 48 ff des EWG-Vertrages. Das darin postulierte Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft bezwecke lediglich die Abschaffung jeder auf Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen, umfasse aber nicht die sozialversicherungsrechtliche Behandlung von Versicherten, die - wie der Kläger - bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden seien. Die Sondervorschriften der Anhänge, die die Anwendung der deutschen Ruhensbestimmungen gestatten, stellten nicht einen unzulässigen Ausschluß eigener Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland dar; sie beinhalteten vielmehr die begrenzte Übernahme fremder Verpflichtungen. Die Nichtzahlung des deutschen Rentenanteils an den Kläger beruhe nicht auf einer staatsangehörigkeitsbedingten Diskriminierung, denn ein im Ausland wohnender deutscher Versicherter würde unter denselben Bedingungen ebenfalls keine Leistungen erhalten. Eine Pflicht zur Bevorzugung eines ausländischen Rentenbewerbers mit Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland gegenüber einem deutschen Berechtigten lasse sich aber aus Art. 51 des EWG-Vertrages nicht herleiten. Das Klagebegehren rechtfertige sich schließlich auch nicht aus § 108 c Abs. 1 RKG in Verbindung mit Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71. Zwar stehe es im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten, an gewöhnlich im Ausland lebende Deutsche unter bestimmten Voraussetzungen auch dann eine Rente zu zahlen, wenn die Erfordernisse des § 108 RKG nicht vorliegen. Darauf könne sich der Kläger aber nicht mit Erfolg berufen. Abgesehen davon, daß es in seinem Falle an einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung der Beklagten fehle, komme eine Kannleistung in diesem Sinne nicht in Betracht, weil sie gemäß § 108 c Abs. 4 RKG nicht als eine Leistung der sozialen Sicherheit gelte. Die in den EWG-Bestimmungen angeordnete Gleichstellung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates ansässigen Personen beziehe sich aber ebenso wie Art. 51 des EWG-Vertrages lediglich auf die die soziale Sicherheit betreffenden Vorschriften.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, daß die in den Anhangsbestimmungen der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 enthaltene Einschränkung des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung aufgestellten Grundsatzes der Freizügigkeit hinsichtlich des Wohnsitzes mit Art. 48 ff des EWG-Vertrages unvereinbar sei. Die Auszahlung der Rente werde dem Kläger letztlich mit der Begründung versagt, daß er seinen derzeitigen Wohnsitz nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in einem anderen Vertragsstaat habe. Das widerspreche der durch Art. 51 des EWG-Vertrages garantierten Freizügigkeit. Im übrigen führe die angefochtene Entscheidung zu einer Diskriminierung ausländischer Staatsangehöriger. Im Gegensatz zu den deutschen Staatsangehörigen sei es für sie unzumutbar, zur Vermeidung der Ruhensbestimmungen ihren Lebensabend in der Bundesrepublik Deutschland zu verbringen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Urteile sowie unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auszuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) hat die vom erkennenden Senat zur Vorabentscheidung mit Beschluß vom 29. Juni 1976 vorgelegte Frage mit Urteil vom 31. März 1977 wie folgt beantwortet:
Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 gelten nicht für Leistungen der in § 108 c RKG vorgesehenen Art, soweit es sich um Versicherungszeiten handelt, die vor 1945 außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zurückgelegt worden sind.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit der Zurückweisung der Berufung des Klägers mit Recht das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Der erkennende Senat hat bereits in seinem Beschluß vom 29. Juni 1976 ausgeführt, daß sich das Ruhen der von der Beklagten festgestellten Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit des Klägers, obwohl er Ausländer ist, nicht nach § 105 RKG richtet, weil er nach Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 wie ein deutscher Staatsangehöriger zu behandeln ist, so daß sich das Ruhen seiner Rente grundsätzlich nach §§ 107 ff RKG richtet. Die Art. 10 der EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 berühren nach Anhang G I A 2 zur Verordnung Nr. 3 und Anhang V C 1 b der Verordnung Nr. 1408/71 nicht die deutschen Rechtsvorschriften über die Zahlung von Leistungen bei Aufenthalt außerhalb des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West, nach denen für Zeiten, die außerhalb dieses Gebiets zurückgelegt worden sind, keine Leistungen gezahlt werden, solange der Berechtigte außerhalb dieses Gebiets wohnt (vgl. BSGE 15, 29, 34). Da aber auch die Rente eines deutschen Staatsangehörigen nach § 107 RKG für die Dauer des gewöhnlichen Auslandsaufenthalts ruht, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften nichts anderes ergibt, könnte diese Rente ausgezahlt werden, wenn einer der in diesen Vorschriften geregelten Ausnahmetatbestände gegeben ist. Der Kläger hat keine Versicherungszeiten im Geltungsbereich des RKG im Sinne von § 108 e RKG zurückgelegt; deshalb scheidet der Ausnahmetatbestand des § 108 RKG aus. Die Ausnahme des § 108 a Abs. 1 RKG entfällt, weil der Kläger sich gewöhnlich und nicht nur vorübergehend im Sinne des § 108 b RKG außerhalb des Geltungsbereichs des RKG aufhält. Die Rente des Klägers könnte allenfalls nach § 108 c RKG ausgezahlt werden. Die Auszahlung der Rente nach § 108 c RKG steht im Ermessen des Versicherungsträgers; es fragt sich, ob und gegebenenfalls inwieweit diese Vorschrift auf Staatsangehörige eines EWG-Landes anzuwenden ist.
Der erkennende Senat ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Rente des Klägers nicht nach § 108 c RKG für die Zeit des gewöhnlichen Auslandsaufenthalts gezahlt werden kann. Diese im Ermessen des Versicherungsträgers stehende Zahlung von Renten ist auf Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und frühere deutsche Staatsangehörige im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 des GG beschränkt. Dieser Beschränkung stehen Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 nicht entgegen. Wie der EuGH auf den Vorlagebeschluß des erkennenden Senats vom 29. Juni 1976 mit Urteil vom 31. März 1977 entschieden hat, gelten die genannten Vorschriften der EWG-Verordnungen nicht für Leistungen der in § 108 c RKG vorgesehenen Art, soweit es sich um Versicherungszeiten handelt, die vor 1945 außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zurückgelegt worden sind. Die von der Beklagten festgestellte Rente des Klägers beruht ausschließlich auf Versicherungszeiten, die im Sudetenland und damit außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zurückgelegt worden sind. Die in den EWG-Verordnungen vorgeschriebene Gleichstellung der Staatsbürger der einzelnen Vertragsstaaten gilt nach der zitierten Entscheidung des EuGH also nicht für die Auszahlung der auf solchen Versicherungszeiten beruhenden Leistungen nach § 108 c RKG. Es steht daher nicht im Ermessen der Beklagten, die festgestellte Rente während des Auslandsaufenthalts des Klägers auszuzahlen.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen